Du bist Brenna Sundergeer.
„Tu doch, was du nicht lassen kannst!“, schnaubt Arthrax und wendet sein Pferd, sodass du dessen Hinterhand betrachten kannst. Als unbeabsichtigter Nebeneffekt sieht es nun so aus, als würde Arthrax' langer Zopf in den helleren Pferdeschwanz übergehen.
Du wirfst deinem Bruder einen Blick zu, dann schüttelst du den Kopf und treibst deine Stute an. Schweigend reitet ihr von der Herberge fort, folgt dem Verlauf der schlammigen Hauptstraße aus dem Dörfchen heraus. Wenn man überhaupt von einem Dorf reden kann – diese Ansammlung von Hütten und einer Taverne verdient kaum die Bezeichnung als Ort. Fest leben hier wohl nur die Besitzer der Taverne samt Familie. Alle anderen scheinen Durchreisende zu sein, ein oder zwei Familien haben hier vielleicht auch eine Sommerresidenz, denn im Sommer laden die angrenzenden Felder und Wälder zu malerischen Spaziergängen und Ausritten ein.
Doch heute regnet es in Strömen. Die kurzen Haare fallen dir feucht in die Stirn. Bald wenden sich Arthrax und Elred nach Süden.
Ihr verabschiedet euch ohne große Worte. Arthrax reitet schweigend weiter. Elred zügelt sein Vollblut und wechselt ein paar letzte Worte mit dir und Allyster.
„Wenn wir fertig sind, kehren wir hierher zurück?“, fragt der Elf.
Du nickst. „Wir treffen uns in dieser Taverne dort wieder.“
Elred vollführt eine leichte, spöttische Verbeugung. „Gehabt Euch wohl, holde Maid.“
„Auf Wiedersehen“, sagst du und Allyster hebt die Hand zum Gruß. Dann treibst du deine Stute wieder an, damit sie den matschigen Wagenspuren zur Grenze folgt.
Ein letztes Mal siehst du Arthrax hinterher. Obwohl er erwachsen ist, kommt er dir vor wie ein großes Kind, das nun beleidigt schmollt. Du wendest dich ab und siehst nach vorne, wo der Horizont im Regen verschwimmt.
Ihr reitet langsam vorwärts. Aji ist ungewöhnlich schweigsam und sieht sich immer wieder wehmütig um, bis Arthrax und Elred längst außer Sicht sind. Auch du verspürst eine drückende Unruhe. Selten hast du dich für länger als ein, zwei Tage von deinem Bruder getrennt. Obwohl ihr beide längst erwachsen seid, fühlst du dich für Arthrax verantwortlich. Der prasselnde Regen und die Ungewissheit, was dich in den Jenseitslanden erwartet, schlagen dir auf das Gemüt. Du schniefst und kaust auf der längsten Haarsträhne herum, die gerade bis zum Mundwinkel fällt.
Allysters Schimmel ist ein temperamentvolles Tier. Zu Beginn der Reise zügelt der Zauberer sein Reittier noch, doch im Laufe des Tages schließt er zu dir auf, dann überholt das weiße Pferd deine Stute. Immer wieder fällt das schlanke Tier in einen ungeduldigen Trab. Schließlich lenkt Allyster sein Reittier von der Straße und lässt die Stute in weiten Kreisen galoppieren. Aji jauchzt vor Freude.
Gegen Mittag legt ihr eine kurze Rast ein. Es ist zu nass, um ein Feuer zu entzünden, obwohl der Regen langsam nachlässt. So tränkt ihr lediglich die Pferde und teilt euch Brot, Wasser und Schinken. Die Vorräte Hauptmann Falurs schmecken besser als alles, was du im Laufe deines Lebens gegessen hast. Der Schinken schmeckt rauchig und ist intensiv gewürzt, das Brot ist weich und süß, sogar das Wasser schmeckt wie aus einem Wildbach. Mit der ersten Mahlzeit dieses Tages und verflogenem Kater hebt sich deine Laune.
„Wie lange ist es noch zur Grenze?“, fragst du Allyster. „Ein halber Tagesritt?“
Der Magier nickt bedächtig. „Sogar weniger. Wir sind gut vorangekommen. Heute Abend werden wir die Wachtürme sehen. Aber dahinter erwartet uns die graue Zone, ehe wir wirklich in den Jenseitslanden sind. Und dann braucht es sechs, sieben Tagesritte, bis wir die Grenze der Dunkelelfenwälder erreicht haben.“
„Vorräte haben wir genug“, meinst du. „Warum also die düstere Miene, Zauberer?“
Allyster seufzt und zwirbelt den Oberlippenbart. „Du hast gehört, was Falur sagte – dass es Unruhen gibt, Spähtrupps, Wachen. Wir müssen schnell und unauffällig reisen.“
Du versuchst, dir die Laune nicht verderben zu lassen. „Wir schaffen das, Allyster. Wir sind schon durch stärker bewachte Gebiete gelangt.“
Allyster schüttelt den Kopf. „Hier geht es nicht um die Zwiste zweier Adeliger, Brenna. Wir haben es nicht mit Bauerntrupps zu tun, die einen Kampf austragen müssen, der sie nicht interessiert. Wir müssen vorsichtig sein.“
Du nickst zum Zeichen, dass du ihn durchaus verstanden hast. Dann packt ihr die Sachen zusammen und klettert zurück in die Sättel. Dir tut das nicht vorhandene Sitzfleisch weh. Es ist lange her, dass du ein Pferd besessen hast und lange Strecken geritten bist. Bei deiner Arbeit ist es meist lukrativer, zu Fuß zu reisen.
Du fragst dich, wo Arthrax und Elred nun sein mögen. Weiß dein hitzköpfiger Bruder, wie gefährlich sein Auftrag ist? Oder hat er sich möglicherweise bereits mit dem Elf zerstritten und irrt alleine auf die Grenze zu?
Plötzlich bereust du es, dich nicht angemessen von ihm verabschiedet zu haben.
Die Grenze ist wenig mehr als ein schlammiger Graben, hin und wieder gesäumt von Wachtürmen aus modrigem Holz oder geborstenem Stein. Du weißt, dass die Grenzen anderswo besser befestigt sind – bei Südmark beispielsweise – doch hier rechnet man offenbar nicht mit Überfällen. Der Vilrexsumpf sollte die meisten Armeen abschrecken.
Euch ist den ganzen Tag keine Menschenseele begegnet, auch an der Grenze ist niemand zu sehen, als ihr sie auf einer moosbewachsenen Steinbrücke überquert. Trotzdem lenkt Allyster seinen Schimmel in den Graben eines schlammigen Baches, als sich dessen Bett vor euch auftut. Deine Tinkerstute folgt brav, das Maultier zögert und zerrt an dem Strick. Zuerst versucht das Packtier noch, auf dem Grabenrand zu laufen, doch das matschige Erdreich bietet den Hufen nicht genug Widerstand. Mit einem erschreckten Wiehern landet das Maultier schließlich im Wasser und folgt dir danach schicksalsergeben.
Der Regen lässt gegen Abend nach, nimmt in der Nacht wieder zu. Am nächsten Morgen hat Aji Schnupfen und niest für den Rest eurer einwöchigen Reise.
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Die Jenseitslande unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht von den Grenzgebieten Kalynors. Der Übergang zur Wildnis ist graduell. Zuerst trefft ihr noch gelegentlich auf Ruinen, alte Hütten, sogar Jagdkaten, die noch von Menschen genutzt werden. Doch wie auch im Südwesten Kalynors gibt es in den Jenseitslanden keinen Ackerbau.
Nach drei Tagen schließlich seht ihr überhaupt keine Zeichen der Zivilisation mehr. Es gibt keinen Weg, dem ihr folgen könntet. Der Bachlauf führt euch durch Sumpfgebiete und Feuchtwiesen, vorbei an Wäldchen voller Unterholz und Brennnesseln. Nachts quaken Frösche und surren Mücken überall um euch herum, die Sterne leuchten. Ihr folgt dem tiefen Flussbett, das mehr und mehr verschlammt. Abends müsst ihr die Hufe der Pferde umständlich vom Dreck säubern, Beine, Bauch, sowie eure Stiefel und Steigbügel sind schwarz vom Schlamm.
Ihr schlagt eure Lager im Unterholz auf, verzichtet auf Feuer und Jagd. Du willst diese Landstriche so schnell wie möglich durchqueren. Allyster muss es ähnlich gehen. Ihr sprecht wenig, wenn ihr erschöpft in euren Reisemänteln versinkt und grimmig die Mücken erschlagt, die sich von euch ernähren wollen. Doch er treibt euch jeden Tag bis spät in die Nacht vorwärts, damit ihr so viel Strecke wie möglich hinter euch bringt. Dein Hinterteil schreit stumm vor Schmerz.
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Die Reise ist ermüdend und monoton, deswegen braucht es eine Weile, bis die Wipfel der Tannen in dein Bewusstsein dringen, die schließlich am Horizont erschienen sind. Du hebst den Blick und erkennst einen dunklen Tannenwald, der sich vor euch aus dem sumpfigen Grasland erhebt.
„Allyster!“, rufst du aufgeregt. „Sieh doch!“
Der Magier, vor dem Aji im Sitzen eingeschlafen ist, hebt den Kopf und zügelt den Schimmel. Aus dunklen Augen betrachtet er den Wald.
„Ja. Das ist der Ewyân“, bescheinigt er dann. Unruhig sieht Allyster sich um.
Ihr habt den Bachlauf an diesem Morgen verlassen müssen, da er euch nicht weiter nach Westen führen konnte. Seitdem ist Allysters Stirn in besorgt gerunzelter Position erstarrt, denn ihr reist ohne jede Deckung durch die Wiesen, die hier und da von Büschen und Sträuchern durchbrochen werden, seltener von Erlenhölzern. Nun, zu den Abendstunden, liegt dichter Nebel über dem Land, die weißen Schwaden hüllen die Wiesen in geisterhaftes Licht. Du lässt dich von der Sorge des Zauberers anstecken und hältst in den Steigbügeln aufgerichtet nach Wachen Ausschau.
„Ich bin mir nicht sicher, was klüger wäre“, sagt Allyster bedächtig.
Aji richtet sich auf und streckt sich gähnend, offenbar davon geweckt, dass das sanfte Schaukeln des gehenden Pferdes aufgehört hat. „Sind wir da?“
Allyster nickt. „Aber nun kommt der schwierige Teil: Wir müssen Ewyân unbemerkt betreten. Wir könnten den Waldrand noch heute erreichen und dort einen geschützten Lagerplatz finden. Vielleicht sollten wir aber auch bis morgen früh warten. Denn falls sich dort Wachen verbergen, sehen wir sie erst, wenn wir ihnen bereits in die Arme gelaufen sind.“
Der Magier sieht dich fragend an. Dir ist es unangenehm, dass Allyster dich um Rat fragt – bisher lief es eigentlich immer andersherum.
Wieder siehst du zum Wald und versuchst, das Risiko einzuschätzen. Er könnte euch für die Nacht Deckung bieten und dich lockt die Vorstellung, endlich wieder ein Feuer anzünden zu können, ein Luxus, den ihr euch auf den Wiesen nicht leisten wolltet. Bei dem Gedanken an gebratenes Fleisch läuft dir das Wasser im Mund zusammen und deine Entscheidung ist schon halb gefällt.
Doch Allyster hat Recht, wenn er Wachen fürchtet. Du weißt nicht, welche Gefahren in den Elfenwäldern lauern, aber du glaubst, dass die Dunkelelfen ihre Grenze sicherlich bewachen werden. Es kann nicht schaden, die Grenze bei Tageslicht für einige Stunden zu beobachten, um sicherzugehen, dass die Luft rein ist.
Du wirfst einen Blick zu Aji herüber, der mit finsterem Gesichtsausdruck auf einem Daumennagel kaut und mit den Füßen neben dem Hals des Pferdes baumelt. Das Kind sieht nicht aus, als würde es sich auf eine weitere Nacht im feuchtkalten Gras freuen.
Du entscheidest dich …
- ... das Lager im Wald aufzuschlagen. Lies weiter bei Kapitel 3.
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- ... das Lager im Grasland aufzuschlagen. Lies weiter bei Kapitel 4.