Du bist Elred Aramys Nuvian.
Ihr befindet euch nun vor den Grenzposten des Orkreichs, es ist eine dunkle und ausgesprochen stürmische Nacht. Einzig die Feuer im Wachtturm flackern über euch in der Dunkelheit wie glimmende Sterne. Der Wind peitscht die wenigen, dürren Gewächse, doch der Sturm bringt nicht einen Tropfen Regen aus dem Himmel.
Du hebst den Blick von dem Brief, an dem du schreibst, und siehst zu Arthrax herüber. Der Krieger kauert vor dir im Matsch und starrt missmutig zu dem Turm aus Stein herüber, der die Grenze von Orkland markiert. Der Wind zerrt an eurer Kleidung und Arthrax' langem Zopf wie ein wütendes Kind.
Mit leise kratzender Feder beendest du den Brief und pfeifst, worauf sich Arthrax erschrocken zu dir umdreht. Die hellblauen Augen des Menschen blitzen in der Dunkelheit auf, doch er erkennt schnell, dass nicht etwa er gemeint war, sondern eine Amsel, die nicht weit hinter euch auf einem bebenden, knochendürren Ast gesessen hat. Auf deinen Ruf hin flattert der Vogel auf deinen Finger und hält gehorsam still, während du den Brief an seinem Bein befestigst.
„Such Brenna, mein Tapferer“, flüsterst du der Amsel zu und streichst über das samtige, schwarze Federkleid, bevor der Vogel in den Himmel aufsteigt und davonfliegt.
Inzwischen ist ein schlammbeschmierter Arthrax zu dir gekrochen und setzt sich neben dich in den Sichtschutz hinter einem der letzten Sträucher. Du rückst ein Stück zur Seite, als der Mensch den Schlamm von seiner Tierfellkleidung streicht, ohne sich darum zu kümmern, wer von den fliegenden Tropfen getroffen wird.
„Fertig?“, fragt er dich dann.
„Ja.“ Deine Antwort ist zu gedehnt, um noch als freundlich durchzugehen. Arthrax schenkt dir einen finsteren Blick und greift nach seiner Axt. „Dann lass uns gehen!“
Du gibst dir alle Mühe, um dem Drang zu widerstehen, mit den Augen zu rollen. „Und wohin willst du gehen?“
„Na, ins Orkreich.“ Arthrax schaut dich entgeistert an.
„Schon klar. Aber willst du wirklich jetzt gehen?“ Du deutest auf den Wehrgang, wo soeben eine Patrouille vorbeikommt. Drei oder vier Orks, soweit du es aus eurem Versteck erkennen kannst. Ihre Stiefel hämmern mit metallischem Klingeln auf das Gestein.
Arthrax schnaubt. „Wir warten, bis sie wieder weg sind, Klugscheißer!“
„Dann kommen neue.“ Du fragst dich, was der Mensch getrieben hat, während du den Brief verfasst hast. Selbst anderweitig beschäftigt hast du mitbekommen, dass es auf dem Wehrgang, der an den Turm anschließt, von Orks nur so wimmelt. Die Mauer, auf deren Krone der Wehrgang liegt, erstreckt sich zudem in beide Richtungen so weit, wie du sehen kannst. Gut möglich, dass dieser Ring das ganze Orkland umgibt. Ihr könnt nicht unbemerkt hinüber klettern und ebenso wenig könnt ihr die Mauer umgehen. Der einzige Durchgang ist ein Tor mit Fallgitter im Erdgeschoss des Turmes, das von weiteren Orks bewacht wird. Ihr braucht einen Plan und Arthrax ist wohl kaum der Denker von euch beiden.
Du bemühst dich um einen sachlichen Ton, während du Arthrax diese Probleme zu übermitteln versuchst. Der Krieger schnaubt die meiste Zeit und seine Blicke zur Festung machen deutlich, dass er am liebsten Kopf voran durch die Tür stürmen würde. Fast wärst du bereit, ihn gewähren zu lassen. Fast. Leider bist du auf den Menschen angewiesen, denn ohne ihn würdest du alleine dastehen. Selbst deine Fähigkeiten sollten nicht ausreichen, um den Schöpferstein ohne jegliche Hilfe aus dem Orkland zu stehlen.
Außerdem möchtest du Brenna nicht erklären müssen, warum die ihren Bruder in den sicheren Tod hast rennen lassen.
„Na gut. Was tun wir dann?“, fragt Arthrax schließlich unwillig.
Leider hast du darauf auch keine gute Antwort. Du siehst zu der Feste herüber, die aus grauem Stein errichtet ist. Was für ein bulliges Monster! Obwohl der Turm hoch ist, wurde er so breit gebaut, dass er kurz und dick wirkt. Sein oberstes Stockwerk ist etwas breiter als die darunter, und auf dem Dach befindet sich zudem eine vorspringende Brustwehr, auf der du die sich bewegenden Spitzen von Lanzen entdecken kannst. Im Turm selbst flackern Fackeln und ertönen von Zeit zu Zeit Schmerzens- oder Wutschreie – die alltägliche Kulisse einer Orkfestung also. All die abfälligen Witze über Orks, mit denen du aufgewachsen bist, scheinen dir angesichts ihrer Festung wenig hilfreich. Wie kannst du – mit einem schwerfälligen Menschen im Schlepptau – die Mauer überwinden?
„Ich weiß nicht“, gibst du widerstrebend zu. „Die Patrouillen folgen zu dicht aufeinander.“
„Aber es sind jedes Mal nur drei, vier Orks, richtig?“, fragt Arthrax. „Können wir die nicht einfach umnieten und fertig?“
„Damit das ganze Orkland alarmiert wird, wenn sie die Leichen finden?“, fragst du entsetzt.
Arthrax zuckt mit den Schultern. „Können wir die Leichen nicht ins Gebüsch werfen oder so?“
Mit einem Seufzen schüttelst du den Kopf. „Welches Gebüsch denn?“, fragst du müde. Die Handvoll sterbender Pflänzchen, hinter denen ihr auch verbergt, ist zu weit von der Mauer entfernt. Ihr müsstet die Orks in Rekordzeit umbringen und ihre schweren Körper mehrere Meter weit ziehen - alles, bevor die nächste Patrouille erscheint.
Als Arthrax nicht antwortet, setzt du dich in Bewegung, um ein Stück parallel zur Mauer durch das Strauchwerk zu kriechen. Vielleicht gibt es ja irgendwo einen nicht überwachten Mauerabschnitt oder sogar einen alten Abwasserkanal. Du bist nicht stolz darauf, solche Wege in Betracht zu ziehen. Andererseits hast du den größten Teil deines Stolzes in deiner Heimat zurückgelassen.
Arthrax folgt dir mit dem Geschick eines dreibeinigen Esels. Du verziehst ungesehen das Gesicht, als der Mensch laut durch das Gebüsch kracht, auf vermutlich jeden morschen Ast im Umkreis tritt und sich die Kleidung mit lautem Ratschen an diversen Dornen aufreißt. Ein Wunder, dass die Orks nicht schon längst auf euch schießen! Vermutlich ist es euer Glück, dass die Orks sich in diesem toten Land sicher fühlen und gar nicht mit Eindringlingen rechnen.
Als du es nicht mehr aushältst, bliebst du mit einem Ruck stehen, als wäre dir etwas eingefallen. „Arthrax – haben wir den Pferden genug Leine gelassen?“
„Was?“, fragt dich der Mensch entgeistert.
„Die Leine – ich frage mich, ob sie wirklich bis zum Bach reicht.“
Ich habt eure Reittier knapp hinter einer großen Schlucht zurückgelassen. Da ihr nicht wisst, wann ihr wieder kommt, habt ihr die Tiere an einen langen Strick gelegt, sodass sie genug Platz zum Grasen für einige Wochen und Zugang zu einem Wildbach haben. Du hast persönlich kontrolliert, dass es den Tieren an nichts fehlt, aber jetzt musst du Arthrax dringend loswerden, bevor du ihn noch erwürgst.
„Kannst du bitte nochmal nachgucken? Wir treffen uns genau hier wieder“, sagst du.
Der Krieger sieht dich mit zusammengezogenen Augenbrauen an und knurrt etwas, dann dreht er sich um und stampft von dannen. Du wartest, bis du nichts, absolut nichts mehr von dem Menschen hören kannst, dann schließt du die Augen und atmest tief durch. Welch herrliche Stille!
°°°
Deine Begutachtung der Mauern bringt jedoch keine ermutigenden Neuigkeiten. Soweit du sehen kannst erstreckt sich der riesige Festungswall, es gibt keine Schlupflöcher, unbewachte Streckenabschnitte und nicht einmal Schießscharten, geschweige denn einen Versorgungsschacht oder einen alten Kanal.
Als du am Treffpunkt ankommst, ist Arthrax schon da und reißt gelangweilt das dürre Gras aus dem Boden, um es dann in den Wind zu werfen wie winzige Speere. Er hört dich nicht kommen. Du räusperst dich laut, um auf dich aufmerksam zu machen.
Der Krieger fährt herum. „Verdammt, du bist das! Musst du dich immer so anschleichen, verdammte Scheiße?“
Du lässt das unkommentiert. „Ich hab nichts gefunden.“
Arthrax grunzt. „Dafür hab ich nachgedacht.“
Du verkneifst dir ein paar spitze Bemerkungen zu dieser für Arthrax neuen Erfahrung und wartest darauf, dass er weiterspricht.
„Wenn du schon nicht über die Mauer willst, Spitzohr, können wir uns doch durch ein Tor schleichen. Wir ziehen einfach eine Orkrüstung an und tun so, als wären wir selber Orks.“
Du starrst Arthrax entgeistert an. Nicht nur, dass er dich als Spitzohr bezeichnen muss – sich als Orks verkleidet ins Orkland zu begeben, käme einem Todesurteil gleich. Man würde euch sofort enttarnen. Und selbst wenn ihr wie durch ein Wunder als Orks durchgehen solltet, ist das Risiko hoch, dass die Rüstungen irgendwelche Clansymbole tragen und ihr in das Gebiet eines verfeindeten Clans geratet und dort abgeschlachtet werdet. Ihr könntet sogar einfach in eine Orkschlägerei geraten, die überhaupt nichts mit Clankriegen zu tun hat, und dabei draufgehen.
Man muss schon ein Mensch sein, um mit einem derartig bescheuerten Plan daher zu kommen!
Du machst den Mund auf, um Arthrax genau das zu sagen:
- „Man muss schon ein Mensch sein, um mit einem derartig bescheuerten Plan daher zu kommen!“ Lies weiter in Kapitel 2.
[https://belletristica.com/de/books/20828/chapter/21225]
- „Ich denke, das ist keine gute Idee.“ Lies weiter in Kapitel 3.