Du bist Brenna Sundergeer.
Die salzige Luft der Mondsee riecht nach Gewitter und Gefahr. Graufels erhebt sich vor dir auf spitzen, stürmischen Klippen. Über dem Hufschlag der Pferde vernimmst du seit einiger Zeit schon ein lautes Rauschen. Es klingt wie der Wind, doch die Geräusche sind zu laut für den vergleichsweise ruhigen Tag. Es muss das Meer sein, das hinter den Klippen liegt.
Du freust dich, dass ihr das Dorf Graufels endlich erreicht hat. Die Reise, für die Allyster zwei Wochen Zeit errechnet hatte, hat nun fast drei Wochen gedauert. Daran bist du schuld. Deine Wunden, die inzwischen endlich heilen, haben dich zuerst davon abgehalten, schnell und lange zu reiten. So musstet ihr deutlich mehr Pausen machen.
Jetzt erklimmen eure Pferde endlich die Steigung, die als sanfter Hügel im hohen Gras beginnt und euch schließlich über steile, ausgetretene Pfade hoch über die Felder der Bauern auf die Klippen führt.
Hier oben peitscht dir ein kalter, salziger Wind ins Gesicht und zerrt an deinen Haaren. Das Meer schäumt und tobt auf der anderen Seite der Klippen, weiße Schaumkronen tanzen über die dunklen Wasser. Es ist ein majestätischer Anblick.
Graufels ist auf den Klippen erbaut, nur seine kargen Felder liegen unter euch. Warum die Bewohner sich einen so unwirtlichen Ort suchten, um ihre Häuser zu bauen, ist dir ein Rätsel. Als du Allyster danach fragst, lacht der Zauberer bloß.
„Die Klippen mögen ja unwirtlich sein, aber sie sind gut geschützt. Von hier oben können sie Piraten früh erkennen und die meisten Wildtiere der Ebene wagen sich nicht auf die Felsen.“
Du lässt den Blick über die windschiefen, geduckten Häuser schweifen, die sich an den kalten Stein zu klammern scheinen. Der trostlose Name Graufels kommt nicht von ungefähr. Die Bewohner stehen vor ihren Hütten, verarbeiten Leder oder Metall, Holz oder Wolle, und mustern euch misstrauisch.
„Ich verstehe nicht, wieso hier überhaupt Menschen leben!“, meinst du in gedämpftem Ton zu Allyster.
„Wie für so vieles im Leben gibt es dafür nur einen Grund: Geld. Siehst du dort unten den Sandstreifen? Das ist der Hafen von Graufels, einer der wenigen Plätze, wo Schiffe am Ufer der Mondsee anlegen können. Wenn Händler unterwegs sind, kommen sie häufig hier vorbei, um ihre Vorräte aufzufüllen.“
Du folgst Allysters ausgestrecktem, krummen Zeigefinger mit dem Blick und erkennst einen schmalen, sichelförmigen Sandstreifen, über den die Wellen rollen. Drei Schiffe liegen dort bereits vor Anker. Das eine ist nicht mehr als eine morsche Schaluppe mit zerfetzten Segeln. Das andere ist ein prächtiges, verziertes Schiff mit mehreren Masten, das tief im Wasser liegt – ganz offensichtlich ein Handelsschiff. Das dritte Schiff ist kleiner und wendiger, am Mast flattert stolz eine blutrote Fahne mit einem Totenschädel darauf.
„Die Piraten sind bereits hier!“, sagst du und deutest darauf.
Allyster nickt. „Entgehen kann man ihnen auf der Mondsee nicht.“
„Aber ich dachte, das Dorf wäre hier erbaut, damit die Menschen rechtzeitig vor Piraten fliehen können!“, protestierst du.
Allyster deutet auf eine zerlumpte Gestalt, die an der Wand einer Hütte sitzt. Es ist eine Frau mit dreckigen, verfilzten Haaren. Sie hat die Beine gespreizt und Blut läuft über ihre Schenkel und auf den Stein. Dir wird schlecht.
„Sie sitzen nur hier oben, um ihre Frauen und Töchter rechtzeitig verstecken zu können. Um Rum und Braten herbeizuschaffen, wenn die Piraten kommen“, erklärt Allyster. Die Frau reagiert nicht, als ihr vorbeireitet. Ihre Augen sind so glasig, dass man sie für tot halten könnte, doch du erkennst, wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt.
„Das ist furchtbar!“, flüsterst du.
„Das ist das Leben der Bauern“, meint Allyster achselzuckend. „Die Piraten sind ihre Könige.“
°°°
Ihr erreicht einen Platz in der Mitte des Dörfchens. Obwohl Graufels nur aus fünfzig Hütten besteht, gibt es hier einen Stall mit etwas, das an ein Gasthaus erinnert, im Obergeschoss. Du zügelst Duma und lässt dich von ihrem Rücken gleiten. Während Allyster absteigt und dann Aji von Melréds Rücken zieht, siehst du dich um. Schon kommt ein Mann aus dem Stall, ein untersetzter, kahlköpfiger Bursche, der sich die Hände mit einem Tuch säubert – ganz offensichtlich der Besitzer. Er hat diese schmierige Art, die sich hinter beflissenem Diensteifer und falscher Freundlichkeit verbirgt.
„Fremde in Graufels! Welch eine Ehre!“, ruft er euch schon von Weitem zu.
„Ah, Wirte sind doch überall gleich“, stöhnt Allyster leise neben dir, bevor er ein falsches Lächeln aufsetzt und sich an den Mann wendet. „Wir sind leider nur auf der Durchreise, doch ein warmes Essen und eine Unterkunft nehmen wir gerne.“
„Oh, gerne, gerne.“ Der Wirt bedeutet euch, ihm zu folgen.
„Und besteht die Möglichkeit, dass wir unsere Pferde hier auf unbestimmte Zeit abstellen?“, fragst Allyster. „Leider können wir sie nicht auf die restliche Reise mitnehmen.“
Der Wirt nickt. „Mein Stall ist der Beste der Gegend, die Herren werden zufrieden sein! Fünfzig Silberlinge die Nacht, und es wird euren Pferden an nichts mangeln!“
„Fünfzig?“, ächzt du. „Pro Nacht?“
„Der erste Monat im Voraus gezahlt“, sagt der Wirt und schielt euch mit zusammengekniffenen Augen an. „Wenn ihr es euch leisten könnt!“
Allyster sieht in den Beutel mit dem Königsgold, den er von Falur überreicht bekommen hat und seitdem bei sich trägt.
„Können wir uns das leisten?“, fragst du leise.
„Ja“, schimpft Allyster gedämpft. „Aber es ist trotzdem ein Wucher!“
„Natürlich gibt es noch einen anderen Stall“, sagt der Wirt jetzt. „Goldings Schuppen. Er ist billiger, viel billiger. Und das merkt man.“
„Wo finden wir diesen Golding?“, fragt Allyster scharf. „Vielleicht begutachten wir lieber das Angebot, bevor wir uns entscheiden.“
„Ihr entscheidet euch hier und jetzt“, gibt der Wirt zurück. „Wenn ihr geht, glaubt ja nicht, dass ihr zurückgekrochen kommen könnt! Golding findet ihr auf den Wiesen, vor den Klippen.“
„Vor den Klippen?“, fragst du nach. „Aber dort gibt es nur …“
„Schuppen!“, sagt der geldgierige Wirt triumphierend. „Schuppen und wilde Tiere! Ich sage euch, Markas Stall ist der beste der Gegend, deutlich besser als Goldings Schuppen!“
Du tauschst einen Blick mit Allyster.
Er lehnt sich zu dir herüber und raunt: „Wir wissen nicht, wie lange wir auf See bleiben werden. Der Stall könnte uns alle Vorräte kosten!“
„Aber wir können Duma und Melréd doch nicht dort unten lassen“, widersprichst du und streichelst deiner Stute sanft über den Nüstern. „Du hast selbst gesagt, nur hier oben ist es sicher.“
Allyster nickt. „Und das stimmt. Ich weiß nicht, was wir tun sollen, Brenna. So oder so gehen wir ein Risiko ein.“
Du starrst den Zauberer an. Schon wieder überlässt er dir eine wichtige Entscheidung. Das letzte Mal wurde ihr allerdings von Dunkelelfen überfallen, also weißt du nicht, ob du diese Entscheidung wirklich treffen solltest.
„Nun?“, drängt euch der Wirt, der Marka sein muss. „Haben die Herren sich entschieden?“
Du entscheidest dich …
- ... in Markas Stall zu übernachten. Lies weiter bei Kapitel 2.
[https://belletristica.com/de/books/20829/chapter/22389]
- ... zu Goldings Schuppen zu reiten. Lies weiter bei Kapitel 3.