Normalerweise bin ich nicht die Person, die aus Langeweile im Telefonbuch herum blättert und sich Namen und Adressen ansieht. Wer hat heutzutage überhaupt noch ein Telefonbuch? Werden die Dinger überhaupt noch hergestellt? In welchen Haushalten gibt es noch aktuelle?
Doch hier sitze ich in der Post, warte darauf, dass ich mein Paket aus Amerika bekomme und blättere im Telefonbuch. Was für komische Nachnamen es gibt. Aaken. Adelt. Chornitzer. Gatzke. Ich blättere weiter, bis ich beim Buchstaben "N" aufhöre und mir die Namen und Adressen durchlese.
Nabel, Familie
Nabholz, Tina
Nauroth, Hubert & Alexander
Ich nicke wissentlich. Ob die beiden schon geheiratet haben? Ist ja möglich, heutzutage. Früher wären sie verbrannt worden oder so.
Navratil, Nadja
Klingt ausländlisch.
Nebling, Timo & Co.
Wer trägt sich denn so ein? Aber wahrscheinlich wissen die Leute, die nach ihm suchen, was er damit meint.
Neefischer, Alex
Ich lese mir den Namen nochmal durch. Alex Neefischer. Neefischer, Alex. In der Zeile rutsche ich weiter nach rechts. Am Ahrendsberg 139, 19395 Buchberg, Mecklenburg-Vorpommern. Blitzschnell hole ich mein Handy raus und tippe die Adresse ab.
Warum? Kennst du den Film "Mary & Max"? Da ist die kleine Mary, und die sitzt genauso wie ich irgendwo in Australien, langweilt sich und reißt eine Seite aus einem Telefonbuch heraus. Sie nimmt die mit nach Hause, und schickt den Brief nach New York zu Max. Es entsteht eine Brieffreundschaft, wenn sie auch nicht unbedingt gesund ist. Es ist eine rührende Geschichte, und sie brachte mich zum Weinen. Ich kann sie nur empfehlen.
Deswegen schreibe ich diese Adresse ab. Ich arbeite Tagsüber im Edeka ein paar Blocks entfernt, und manchmal am Wochenende helfe ich in der kleinen Bar von Joe aus - natürlich gegen ein kleines Endgeld. Mein Leben ist langweilig genug, abgebrochenes Psychologie Studium und erfolglose Band. Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal getroffen?
"Elliot Joeres?", ruft eine Angestellte in den Raum hinein. Ich lege das Telefonbuch zur Seite und gehe zum Thresen.
"Ich hätte gerne noch ein paar Briefmarken und Umschläge dazu", sage ich sofort, während ich schon mein Portemonnaie heraus hole. Die Frau legt das Zeug auf die Ablage zwischen uns und nennt den Preis. Ich bezahle, stapele Briefmarken und Umschläge auf dem Paket und verschwinde damit unterm Arm in die Großstadt.
Als ich in meiner kleinen drei-Zimmer-Wohnung ankomme öffne ich zuerst das Paket, lege die neue Schallplatte auf meinen Spieler, mache mir einen Tee und setze mich mit einem Zettel, Briefumschlag und Briefmarken an meinen Schreibtisch, während schon das dritte Lied von der gelben "Nimrod" Platte von Green Day anfängt.
Ich nehme mir einen Stift aus dem Glasbehälter und tippe damit auf dem Zettel herum, bis ich endlich anfange zu schreiben.
"Hallo Alex", fange ich an.
"Hast du noch ein Telefonbuch bei dir Zuhause? Also ich nicht. Ich weiß nichtmal, ob meine Eltern noch ein Telefonbuch haben. Gut, wahrscheinlich hast du etwas mehr mit Telefonbüchern zu tun, ich habe deinen Namen und deine Adresse nämlich in einem gefunden, das in der Post lag. Da habe ich auf ein Paket aus Amerika gewartet - ich habe mir eine Schallplatte von Green Day bestellt.
Kennst du den Film Mary & Max? Eigentlich habe ich nur deswegen beschlossen, dir zu schreiben. Wenn du den Film nicht kennst, sie ihn dir unbedingt an."
Der Platz auf dem kleinen DIN A5 Blatt wendet sich dem Ende zu, also beschließe ich, zu einem Ende zu kommen.
"Wie auch immer, ich bin Elliot, und mir ist langweilig. Was machst du denn so? Liebe Grüße, Elliot."
Ich lege den Stift zur Seite und starre auf das Papier und den Brief, den ich gerade geschrieben habe. Ich stelle fest, dass ich verdammt schlecht darin bin, also beschließe ich, auf der Rückseite ein "PS: Ich hab ewig keinen Brief geschrieben, von daher entschuldige bitte, dass der hier so unkoodiniert ist." hinzuzufügen. Ich taste nach meiner Tasse, während ich den Blick urteilend über meinen Zettel halte und trinke einen Schluck von meinem schon kalt werdenden Tee.
Nach langem Überlegen entschließe ich mich doch, das Papier zusammen zu falten, in den Umschlag zu stecken und diesen zu beschriften und zu frankieren.
Ich lehne mich auf meinem unbequemen Stuhl zurück und atme aus. Es ist jetzt 17:34 Uhr. Ich beschließe, mir ein kleines Abendessen zuzubereiten und danach den Brief in den nächst gelegenen Briefkasten zu bringen.
Als ich später nach Hause komme ist es schon 19:56 Uhr, also verbringe ich den Rest des Abends damit, zu lesen.
Die Wochen ziehen ins Land. In den ersten paar Tagen habe ich noch nachgesehen, ob auf den Briefen nicht einmal der Name "Alex Neefischer" auftaucht, aber dem war nie so. Fast hatte ich vergessen, dass ich diesen Brief überhaupt verschickt hatte, als ich neben der Werbung und den Rechnungen einen naviblauen, länglichen Briefumschlag mit silberner Beschriftung entdecke. Sofort hebe ich ihn vor alles andere, und da steht in etwas unordentlicher Schrift: "Elliot Joeres, Pestalozzistr. 82, Lehe, 27568 Bremerhaven". Mir stockt der Atem. Als ich den Briefumschlag umdrehe, reicht mir schon der Name "Alex Neefischer" um den Briefkasten zu zu schlagen, nach oben in meine Wohnung zu rennen und mich auf das kleine Sofa zu schmeißen.
Ich habe wirklich eine Antwort erhalten. Ohne zu zögern reiße ich den Brief auf und lese.