Du bist Elred Aramys Nuvian.
„Lass uns zuerst versuchen, über die Mauer zu klettern“, schlägst du vor. Du willst dich nicht erneut auf Lügen und Täuschung verlassen müssen. Als du dem Krieger die von dir erspähte Zinne zeigst, grinst er breit. Offenbar gefällt ihm dein Plan – logisch, er ist ja auch halsbrecherisch und gefährlich.
Ihr habt natürlich kein Seil dabei, das lang genug für eine solche Kletterei wäre, doch innerhalb einer halben Stunde könnte ihr aus euren Gürteln, Riemen und kürzeren Seilen eine lange Leine knüpfen. An deren Ende bindest du ein Metallrohr, das Arthrax gefunden und in die Form eines Hakens gebogen hat. Derartig ausgerüstet stellst du dich vor die Mauer, schwingst das provisorische Enterseil, wirfst – und verfehlst die Zinne. Mit einem Kratzen gleitet der Haken über den Stein.
„Leise!“, flucht Arthrax. „Was war das denn?“
„Die Leine ist schwerer, als ich erwartet hatte“, gestehst du. Und vor allem schwerfälliger, da sich das ganze Leder in der Leine auf seltsame Weise verbiegt, wenn es in der Luft ist. Du holst den Haken ein, während du mit angehaltenem Atem zur Mauerspitze siehst, doch offenbar wurde euer Versuch nicht bemerkt.
Wieder schwingst du den Haken.
„Lass mich das machen.“ Arthrax nimmt dir das Seil ab.
Du protestierst nicht dagegen und siehst zu, wie der Krieger den Haken mit einer einzigen geschickten und kraftvollen Bewegung wirft. Er trifft die Zinne und zieht am Seil, damit der Haken sich festigt.
„Sehr guter Wurf, Pirat.“ Du grinst.
„Bereit zum Entern?“, fragt Arthrax und reicht dir mit einer spöttischen Verneigung das Seil. „Nach dir, Dunkelelf.“
Wenig später befindest du dich weit über der schlafenden Stadt, die Füße gegen die grobe Stadtmauer gestützt. Du spürst jede Bewegung, die Arthrax unter dir macht, jeden Schritt, jedes winzige Abrutschen.
Der Mensch besitzt nicht das Geschick, das deinem Volk zu eigen ist. Immer wieder siehst du besorgt zu ihm herunter. Falls Arthrax abstürzen sollte, könntest du nicht viel für ihn tun. Schon jetzt seid ihr viel zu hoch, als dass er den Sturz überleben könnte. Während du dich träumerisch leicht in die Höhe schwingst, arbeitet Arthrax sich verbissen vor, knurrend und immer wieder erschöpft eine Pause einlegend, indem er Arme und Beine möglichst fest um das Seil wickelt.
Du beschleunigst deine Schritte etwas. Wenn du zuerst oben wärst, könntest du Arthrax herauf ziehen …
Als du den Blick zur Zinne hebst, erstarrst du. Da ist ein Schatten, der sich über euren Enterhaken beugt. Du siehst Metall aufblitzen – ein Messer! Da hockt jemand, der das Seil durchtrennt.
„Halt!“, brüllst du, dich nicht länger um Heimlichkeit bemühend. „Nein! Bitte nicht ...“
Doch schon gibt das Seil nach und du spürst, wie du fällst. Instinktiv streckst du eine Hand aus und spürst erstaunt, wie sich dein Fall verlangsamt. Selbst Arthrax‘ Schrei scheint zu erfrieren – du verstehst: Wie schon zuvor im Orkland hat sich die Zeit verlangsamt. Es kommt dir nur so vor, als würdest du schweben, in Wahrheit befindest du dich noch im freien Fall.
Verzweifelt raffst du das Seil zu dir, um eine Schlaufe zu bilden. Vielleicht kannst du sie ja über die Zinne werfen und euch retten!
Doch obwohl das Seil rasend schnell durch deine Hände gleitet, wird dir gleich darauf klar, dass du es unmöglich schaffen kannst, die Zinne erneut zu treffen. Ganz zu schweigen davon, dass Arthrax, dessen Bewusstsein nicht in dieser Zeitblase gefangen ist, das Seil nicht länger in den Händen hat. Er würde definitiv sterben, und auch du würdest dir, falls dein Plan trotz allem aufgehen würde, einige Knochen brechen, weil du mit vollem Schwung gegen die Mauer geschleudert werden würdest.
Einen hilflosen Fluch auf den Lippen wirfst du das zur Schlaufe geformte Seil trotzdem. Zu deinem Entsetzen hast du dich bereits ein ganzes Stück von der Zinne entfernt, und das Seil, das sich bewegt, als wäre es unter Wasser, kommt nicht einmal annähernd an die Mauerspitze heran. Langsam, wie schlafwandelnd, sinkt deine Rettungsleine auf dich zurück.
Resigniert senkst du den Blick und kannst Arthrax‘ Aufprall auf den Boden in aller widerlicher Deutlichkeit mitverfolgen, jedes Knacken hallt laut durch die seltsame Geräuschlosigkeit der eingefrorenen Zeit.
Allein der Gedanke, deinen eigenen Aufprall bewusst erleben zu müssen, versetzt dich in Panik. Du greifst nach dem Tigerherz, das noch immer an einer Kette um deinen Hals hängt, und reißt es von dir.
Die Zeit kehrt wie mit einem Schlag zurück und der Boden springt dir entgegen.
Dies ist kein Canon-Ende, deswegen gibt es hierzu keine Fortsetzung.
Um das Canon-Ende für Brennas Teil der Geschichte zu erreichen, musst du dich für den Weg unter der Mauer hindurch entscheiden.
Vielen Dank für's Lesen und viel Spaß beim Weiterspielen!