„Kurz gesagt: Wenn ihr so weiter macht, kann ich mir nicht vorstellen, wie auch nur einer von euch den Sprung in die Achte schaffen soll.“
Mit diesen Worten beendete Frau Kobayashi einen langen Vortrag, in dem sie ihre Enttäuschung über die Leistung ihrer Klasse zum Ausdruck gebracht hatte.
Kaiko hatte nicht zugehört. Ende des Jahres würde er die Schule wechseln. Sie zogen fort von hier.
Das alles betraf ihn nicht mehr.
Die Pause hatte längst begonnen. Frau Kobayashi hatte sie fast zehn Minuten aufgehalten. In kleinen Gruppen, die aufgeregt miteinander redeten, machten sich die Schüler auf den Weg.
Kaiko ging allein. Nicht nur, weil die Probleme seiner Klassenkameraden nicht länger seine Probleme waren – er war schon immer der Außenseiter gewesen und würde es auch bleiben. Egal, wie oft sein Vater ihm sagte, er müsse nur etwas offener auf die Menschen zugehen und sich seinen Ärger über das Gespött nicht ansehen lassen, um Freunde zu finden. Kaikos Vater hatte keine Ahnung. Kaiko hatte ihm früher einmal geglaubt. Er hatte das Summen gelassen, um sich anzupassen, ganz, wie sein Vater es gesagt hatte. Er hatte sich fein angezogen, höflich geredet, fleißig gelernt. Wie alle anderen. Er war in AGs gewesen, in Sportkursen, hatte seine Liebe zur Musik verschwiegen.
Es hatte alles nichts gebracht. Er war immer noch der Spinner, der Freak.
Sie zogen seinetwegen um. Die neue Schule, auf die er gehen würde, war eine Förderschule.
Obwohl er gelernt hatte, war er in den meisten Fächern schlecht. Mathe und Musik, da hatte er gute Noten. Das reichte leider nicht.
Und weil ihn immer wieder der Lärm überwältigte, der im Klassenraum herrschte, hatte eine Klassenlehrerin seinem Vater schließlich nahegelegt, Kaiko zu einem Arzt zu schicken und untersuchen zu lassen.
Geistig behindert. Eingeschränkte mentale Fähigkeiten.
Irgendjemand hatte es herausgefunden und nun stand diese Diagnose zwischen Kaiko und seinen Mitschülern. Sie hatten die langen Wörter für sich übersetzt: „Dumm.“
Kaiko war dumm, in ihren Augen jedenfalls. Er wusste, dass das nicht stimmte. Doch er hatte es der Psychiaterin nicht sagen können. Er hatte kaum etwas sagen können. Die ganze Zeit hatte ihn dieser furchtbare, wippende Metallvogel abgelenkt.
Endlich trat er nach draußen. Die Pause war vermutlich schon zur Hälfte um. Und alles wegen einer dummen Klassenarbeit in Englisch …
Es war kalt, obwohl der Winter sich seinem Ende zuneigte. Kaiko wurde aus seinen Träumereien gerissen, weil auf dem Schulhof Chaos und Aufruhr herrschten.
Er sah sich um. Die Schüler hatten sich zu Trauben zusammengerottet. Ein Krankenwagen stand auf dem Hof, Blaulicht eingeschaltet. Daneben ein Polizeiauto. Die Polizisten standen im Sichtschutz des Wagens und befragten offenbar jemanden.
Zum Glück konnte sich Kaiko auf seine Klassenkameraden verlassen. Ein Mädchen entdeckte Freundinnen aus einer Parallelklasse und rief ihnen zu: „Was ist denn passiert?“
„Da hat eine einen zusammengeschlagen“, erwiderte eine der Freundinnen. „Ich glaube, der ist tot.“
In diesem Moment teilte sich die Schülermasse und gab den Blick auf den Tatort frei. Und da war Blut. So viel Blut. Sogar kleine Knochensplitter. Zähne.
Kaiko konnte den Blick nicht abwenden.