Nach diesen vielversprechenden Worten bewegt Ly – nun eine geisterhafte, durchsichtige Menschenfrau – ihre Arme und die Lichter beginnen einen verwirrenden, hypnotisierenden Tanz vor meinen Augen.
Ehe ich mich versehe, nehmen die Lichter Gestalt und Form an und … ich stehe auf einem schneebedeckten Hügel, unter einem sternenklaren Himmel, Funken treiben im schwachen Wind (den ich leider nicht fühlen kann). Ich wende mich zur Seite und erhalte einen Stich ins Herz.
Einen metaphorischen Stich, ja, aber er tut trotzdem weh. Sehr weh.
„Maria!“
Meine Schwester steht neben mir und blickt mich mit diesen sanften, goldenen Augen an, die immer die Wahrheit erkennen können. Ich sehe mich verwirrt um. Da! Am Fuß des Hügels sehe ich Marlon, meinen Bruder – und Jupiter! Und Beißer und Heuler, die wie immer aneinander zu kleben scheinen.
Und Attila, den Schäferhund. Mein Herz schlägt schmerzhafte Purzelbäume. Mein Rudel! Ich bin in der Vergangenheit gelandet, in der schönsten Vergangenheit. Ich erinnere mich genau an diesen Hügel, an die endlose Weite der Sterne über uns, an den Wind, dessen Duft Abenteuer und Freiheit versprach.
„Ups, falsche Richtung“, erklingt Lys Stimme und im nächsten Moment ist das Bild weg.
„HEY!“, protestiere ich.
Jetzt stehe ich in einem großen Talkessel, der annähernd kreisrund ist. Auf den Hängen stehen in gleichmäßigem Abstand drei riesige Kelche, die selbst für die Weltenschlange noch groß wären. Einer ist schwarz und besetzt mit Obsidianen, einer rot mit Rubinen und der dritte weiß mit Diamanten. Mich interessiert das ziemlich wenig.
„Mach das sofort zurück!“
„Du wirst mit einem Drachen ringen“, erklingt Lys dramatisch-dunkle Stimme. „Deine Reise ist alles, was dich retten kann.“
Unzählige Bilder prasseln auf mich ein. Gesichter von Wölfen und Menschen und anderen Wesen … warum sehen sie eigentlich immer alle so wütend aus?
„Verhalte dich weise, nur so kannst du siegen“, dröhnt Lys Stimme. „Sonst wird das Ende nur Trauer, Angst und Wut bringen …“
Die Bilder verschwinden. Ich kauere auf dem Boden der Tausendfarbengrotte. Ly steht mir gegenüber und schwankt. „Ich brauche echt ein Nickerchen!“
Damit fällt sie zur Seite um und beginnt, laut zu schnarchen.
„Wa-was?“, stottere ich hilflos, an Capracandor gewandt.
Der grinst. „Cool! Du hast eine Weissagung bekommen! Weißt du, wie selten sie das macht?“
„Und … was hilft mir das?“
„Keine Ahnung. Wissen ist Macht, nehme ich an.“
Capracandor umkreist die schnarchende Winselmutter und stupst sie vorsichtig an. „Hm, die schläft.“
Ich schüttele den Kopf. Ich bin immer noch vollkommen verwirrt. Was ist da gerade bitte passiert? Ich erinnere mich eigentlich nur noch an Maria. Ach, Maria …!
„Sie konnte mir die Vergangenheit zeigen!“ Mir geht ein Licht auf.
„Eigentlich sollte es die Zukunft sein“, meint Capracandor. „Das am Anfang war nur ein Versehen.“
Die Vergangenheit ... Für einen Moment hatte ich geglaubt, dass alles zwischen dem Hügel im Schnee und heute ein böser Traum war. Das Erwachen ist ein bitteres. Nein, ich bin nicht mehr auf jenem Hügel. Ich bin auch nicht länger der Krieger von damals. Ich bin ein Kanonikos, in der Schimmerwelt gestrandet und wolfsmutterseelenallein.
*
Ly schläft und Capracandor ist mir auch keine große Hilfe mehr. Er hat schon angekündigt, dass er bald in einen Winterschlaf fallen wird. („Mitten im Sommer?!“ – „Ja, genau! Großartig, was?“)
Das ist offenbar ein Hobby von ihm. („Hm … müsste es dann nicht Sommerschlaf heißen?“ – „Dann weiß nie jemand, wovon ich spreche. Außerdem kann ich das machen, wann immer ich will.“)
Jedenfalls bin ich ziemlich aufgeschmissen, was ich jetzt tun soll.
Ly meinte, dass ich gegen einen Drachen kämpfen müsste. Hoffentlich meinte sie damit den Lindwurm, den ich schon hinter mir habe. Ich habe wirklich keine Lust auf einen zweiten Drachenkrieg!
Ich hänge mal wieder meinen Gedanken nach und trotte dabei durch den Wald. Das hier muss ein wirklich sehr belebter Wald sein, weil ich nämlich schon wieder Stimmen höre.
Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, warum die Stimmen mir so seltsam erscheinen: Sie reden die Menschensprache, die ich ja inzwischen perfekt beherrsche. Ich hab es nicht gleich bemerkt, weil die Stimmen so hell sind – es sind Menschenwelpen, die im Wald spielen.
Neugierig geworden, nähere ich mich der Quelle des Gelächters. An einem Hang spielen mehrere Menschenwelpen mit Stöcken und Ästen. Sie schichten das Holz an einem waagerechten Ast auf, legen Blätter darüber und kriechen in den so entstandenen Bau, nur um wieder herauszukommen und weiter zu basteln. Mich sehen sie nicht, sie halten sich ein ganzes Stück tiefer am Hang auf und bewegen sich nicht groß in unterschiedliche Höhen. Ich lege mich trotzdem vorsichtshalber auf den Bauch, während ich ihr Toben weiterhin interessiert verfolge.
Um ehrlich zu sein, habe ich Menschen noch nie so wirklich aus der Nähe gesehen. Und noch seltener hatte ich Gelegenheit, sie ungestört zu beobachten. Doch immer noch erschließt sich mir ihr Tun nicht. Sie üben offenbar, die großen Menschenbauten zu bauen, in denen die meisten von ihnen wohnen. Als Ausgewachsene müssen sie sich sicherlich ihr eigenes Haus bauen, so wie Vögel ihr Nest bauen. Ob sie für jedes Jungtier eine neue Höhle bauen?
Doch das, was die Welpen da produzieren, würde nicht einmal einem kräftigen Nießer standhalten. Sogar ich könnte so eine Hütte bauen! Vorausgesetzt, ich hätte Lust, so viele Stöcke zusammen zu suchen.
Was wollen sie mit diesem albernen Unterschlupf? Ich dachte, Menschen wären so geschickt und intelligent. Vielleicht sind das hier auch mehr die Ausnahmen.
„Schnell!“, tönt die Stimme eines Menschenweibchen aus der Hütte. Wow, jetzt kann ich sogar schon die Geschlechter der Jungtiere auseinander halten!
„Kommt der König?!“, ruft ein Junge erschreckt zurück. „Wir haben noch keine Schwerter!“
„Nein, es kommen nur seine Soldaten. Sie dürfen uns nicht finden!“, ruft das Mädchen zurück. Ihre Begleiter – es sind vier, ein weiteres Weibchen und drei Männchen – eilen zu der Hütte.
„Die Solaranlage steht noch nicht!“, piepst das zweite Mädchen. Es ist jünger als das erste. „Wir werden im Bunker nur kaltes Wasser haben!“
„Ich sehe nichts!“, teilt ein anderer Junge mit, der sich zwei Fäuste vor ein Auge hält.
„Ist dein Fernrohr beschlagen?“, ruft das große Mädchen. Sie scheint die Anführerin zu sein.
Der Junge nimmt die Fäuste runter und reibt sie irgendwie an seinem Bauch. „Immer noch nichts!“
„Sie sind braun!“, ruft das große Mädchen. „Der König hat die Nazis geschickt. Los, versteckt euch, sie sind ganz nah.“
Wenn das stimmt, müssen diese komischen Handlanger das Geschrei inzwischen hören können. Zum Beispiel die Anweisungen der Anführerin, die noch in mehreren Kilometern Entfernung die Vögel auffliegen lassen. „Und versteckt alles, was braun ist. Sie denken sonst, dass es ihnen gehört und nehmen es mit.“
„Was ist mit der Erde?!“, ruft ein anderer Junge.
„Von der denken sie auch, dass sie ihnen gehört. LEISE!“
Die Kinder springen laut in ihr Versteck und kichern dabei auch noch übertrieben. Merkwürdige Wesen. Von ihren Feinden ist auch immer noch nichts zu sehen, aber jetzt rufen die Kinder "Pew! Pew!" und wackeln mit ihren Stöcken herum.
Ich erhebe mich und trete den Rückweg zur Höhle an. Die Kinder sind mir egal, aber was ist mit Capracandor? Sein Geweih ist doch auch braun! Wenn ich nicht will, dass diese seltsamen Navis ihn mitnehmen, muss ich ihn irgendwie verstecken oder anders tarnen.
Ich sprinte los, als ich die Menschenwelpen hinter mir kreischen höre. Mir läuft die Zeit davon! Was soll ich tun, was soll ich ...?
Unvermittelt befinde ich mich vor einem Stapel weißer Behältnisse und kann nicht mehr rechtzeitig bremsen. Ich stolpere direkt in den Dosenstapel und die Plastikeimer, die größer sind als mein Kopf, poltern durcheinander. Ich höre einen Fluch.
„Verdammt, wie soll ich denn jetzt ein Jägersmanngrün anmischen? Kannst du mir das verraten?!“
Ich rappele mich auf und drehe mich um, halb geduckt, um jederzeit fliehen zu können. Auf einer hohen Leiter ringt ein Individuum in ehemals weißer, nun bunt gesprenkelter Kleidung mit der Schwerkraft – und verliert, als die Leiter umkippt. Ich tapse vorsichtig näher, denn das Wesen war so klein, dass ich keine Angst empfinde. Murrend rappelt sich das Wesen auf. „Und?“, faucht er mich an. „Bist du jetzt zufrieden?“
„Beruhige dich, Maler!“ Aus dem Wald kommt ein weiteres kleines Wesen, das ganz in Grün gekleidet ist. Deshalb hatte ich ihn wohl zuerst nicht gesehen. Doch nun raschelt es und plötzlich stehen mir insgesamt sechs der kleinen Männer gegenüber. Die weiteren vier sind weiß, blau, rot und schwarz angezogen. Ich werde nun doch etwas nervös – die Kerle sind in der Überzahl, obwohl sie mir allenfalls an die Brust reichen, wenn sie sich sehr strecken.
„Hört mal, ich wollte nicht …“, stammele ich.
„Schon gut.“ Der, den sie 'Maler' nennen, winkt ab. „Ich bin nur übermüdet. Ständig muss ich Kleidung umfärben. Dabei sollte ich eigentlich … na ja, arbeiten. Geld verdienen.“
Ich starre die kleinen Wesen irritiert an. „Was?“
„Nicht nur du!“, knurrt der Blaugekleidete den Maler an.
Dann hat der Schwarze Mitleid mit meiner Verwirrung. „Wir haben alle Familie … jedenfalls Frauen. Eigentlich müssten wir unser täglichen Brot verdienen, aber …“
Er dreht sich halb zur Seite und erlaubt mir einen Blick auf mehrere kleine Wäschekörbe, die sich dort im Wald verstecken. Es gibt sechs, von denen fünf nur mit einfarbigen Kleidungsstücken gefüllt sind (blau, rot, grün, schwarz und weiß). Im sechsten gibt es geringelte, bunte Kleidungsstücke. Und es gibt sechs weitere Körbe mit wild gemischten Farben. Offenbar die Kleidungsstücke, die noch umgefärbt werden müssen.
„Es ist so furchtbar. Die Frau vom Matrosen will nur blaue Kleidung, die vom Jäger nur grüne, die vom Schornsteinfeger nur schwarze“, jammert der Maler. „Weißt du, wie schwierig es ist, grüne Unterwäsche zu finden? Selbst die muss in der richtigen Farbe sein!“
„Zuerst haben wir ja noch getauscht“, sagt der Schornsteinfeger, dessen Kleidung komplett schwarz ist. „Ein weißes Hemd für den Müller dort, eine schwarze Jacke hier … Inzwischen sind wir auf den Maler angewiesen und diese Kleidungsgeschichte nimmt mehr Zeit in Anspruch, als sie sollte! Wir kommen nicht mehr zum Arbeiten, es ist zum Verrücktwerden!“
„Kann … ich euch irgendwie helfen?“, frage ich und schiele nach den Farbtöpfen.
Die sechs kleinen Männer springen sofort darauf an. „Ja! Ja, bring die Farben weit weg!“
Nun, fünf der kleinen Männer springen darauf an.
„Wie soll ich denn ohne Farben arbeiten?“, empört sich der Maler.
„Ach, stell dich nicht so an!“, knurrt der in Rot gekleidete. „Du lernst einfach auf einen unserer Berufe um. Werd' doch Reiter, da muss man nicht viel für machen. Nur oben bleiben und nicht runter fallen.“
„Ja“, mischt sich der Schornsteinfeger ein. „Oder werde Schornsteinfeger, Maler! Dann bringst du Glück!“
„Ich bin aber Maler, kein Reiter oder Schornsteinfeger!“
„Nimm doch einfach einen anderen kreativen Beruf“, schlage ich vor. „Bildhauer oder … Autor!“
Der ehemalige Maler wird still, als er sich meinen Vorschlag durch den Kopf gehen lässt. „Hmm, warum nicht? Schriftsteller malen doch auch, nur mit Worten statt mit Farben. Ich habe eh eine Pigmentallergie.“
„Sehr schön!“ Ich fasse den Henkel eines der Eimer mit den Zähnen. Zu meinem Erstaunen ist der Inhalt nicht etwa blau oder grün oder rot, sondern … bunt. Strahlend, regenbogenfarben bunt. Ich kneife schnell die Augen zusammen, bevor mir von den ganzen Wirbeln noch schwindelig wird.
„Machs gut, Wolf!“, rufen die sechs mir nach. „Wir dichten dir eine neue Strophe!“
„Waff? Noin!“
Zu spät. Hinter mir erklingen sechs Stimmchen: „Grau, grau, grau sind alle meine Kleider …“
Ich lege die Ohren an und laufe schneller.
In der Höhle befindet sich Capracandor in tiefstem Sommerschlaf. Ich würde ihn ja gerne vor der Gefahr warnen, aber da besteht leider keine Chance. Egal – ich pansche den Inhalt des Farbeimers auf sein Geweih und bestaunte das bunte Werk ergriffen. Man, so was Gutes habe ich noch nie hinbekommen! Was vielleicht daran liegt, dass ich vier linke Pfoten habe. Hach, die Kreisel und Schlieren und bunten Wirbel …!
Aber gut, ich habe eine strenge Deadline (wie viel Zeit bleibt mir eigentlich noch?) und eine verwirrende Prophezeiung von Ly. Zeit, sich auf den Weg zu machen!
„Wiedersehen, Capracandor“, flüstere ich, als ich mich zum Gehen wende.