Stolpersteine und Nebelwände
Jesse
Es überrascht Jesse nicht, dass Xander sich ohne zu zögern erneut einen Schuss gesetzt hat, denn so steht es in seinen Lehrbüchern. Nur wünscht er sich insgeheim doch, das Xander weniger dem Lehrbuch entsprechen würde, denn die Ausgangssituation liegt nicht gerade günstig. Ob Medizin- oder Jurastudium es bleibt bei der Meinung: „Einmal Junky, immer Junky.“
Er weiß das. Er kennt diese Meinung. Als sie dieses Thema im fünften Semester während einer Vorlesung im Plenum mit allen Kommilitonen diskutierten, war genau das sein Standpunkt. Eigentlich hat sich seitdem nichts geändert. Und irgendwie hat sich doch alles geändert. Er wirft einen Blick zu seiner rechten Seite. Xander hat die Augen geschlossen, sein Kopf ist gegen die Autoscheibe gesunken. Der Mund leicht geöffnet. Im Schlaf sieht er noch jünger aus. Das flaue Gefühl breitet sich wieder in seiner Magengegend aus. Jesse richtet den Blick wieder auf die Straße. Es fällt ihm schwer sich aufs Fahren zu konzentrieren.
Ihm wird bewusst, dass er immer noch nicht weiß, wie alt Xander eigentlich wirklich ist. Nach mehreren Stunden, die sie sich unterhalten haben. Es lässt sich auch schwer schätzen. Er würde vom Äußeren auf fünfzehn, sechzehn schließen, seine Art sich mitzuteilen entspricht dem aber nicht. Natürlich, der rebellische Teenager kommt immer wieder durch und sicher spielen auch die Umstände in seine Verhaltensweisen mit rein, aber nichts verrät ihm wirklich, wie alt Xander ist. Nur das er deutlich jünger sein muss, da ist sich der Medizinstudent sicher. Sonst müssten sich die ein oder anderen äußeren, körperlichen Anzeichen doch zeigen. Bartwuchs oder ähnliches.
Er wirft abermals einen kurzen Blick zur Seite. Nein, definitiv nicht. Auf der fahlen Haut zeigen sich nicht einmal Ansätze von Bartstoppeln.
Noch in den Augenwinkeln fällt ihm etwas Anderes auf. Er hat sich selbst dazu gezwungen, den Blick auf Xanders Arme zu meiden. Die Einstiche in den Armbeugen machen ihn fast kirre. Die dunkel verfärbten Hämatome an seinen Oberarmen können aber nicht von der Spritze kommen und waren vor nun bald drei Tagen, sicher noch nicht da. Jesse schluckt. Er will sich gar nicht vorstellen, wie ein normaler Tag in Xanders Leben abläuft, aber im Grunde genommen ist es genau das, worum es geht. Herauszufinden wie sein Leben bisher abgelaufen ist und was dabei schief gegangen ist.
Nach fast sieben weiteren Stunden Fahrt verlässt Jesse den Highway. Es ist kurz nach acht, am Morgen des 29. Dezember. Xander ist vor etwas mehr als einer halben Stunde aufgewacht, wirkt aber immer noch nicht ganz bei sich. Obgleich sein linkes Bein unruhig zuckt. Der restliche Körper bleibt still. Scheint noch nicht wieder ganz da.
Ihm wird wieder klar, wie froh er ist, dass die kleine Hütte abgelegen liegt. Für ein solches Vorhaben ist es wohl besser, wenn man so wenig Gesellschaft wie möglich hat. Also genau genommen gar keine. Ihm kommt zwar kurz der Gedanke, dass ihm das ebenso zum Nachteil gereichen könnte, er schiebt ihn aber geflissentlich in die hinterste Ecke seiner Gedankenwelt. Er parkt den Wagen direkt unter dem Carport, der ebenso rustikal ist, wie das die Holzhütte selbst. Ihm ist vorher nie bewusst gewesen, wie idyllisch das Ganze wirkt. Irgendwie war er nur immer froh, wenn sie wieder nach Hause gefahren sind. Hier hat er sich eher gelangweilt. Zuhause hatte er zumindest seine Bücher und seine Ruhe. Es braucht einen Moment bis ihm klar wird, wie lange er schon untätig sitzt, während der Motor langsam kalt wird. Xander scheint das nicht zu bemerken, oder aber er nimmt es einfach kommentarlos hin. Er regt sich allerdings auch nicht, als Jesse bereits aussteigt. Der junge Mann kommt also zu dem Schluss, dass Xander einfach noch nicht wirklich reaktionsfähig ist. Er geht um das Auto herum, öffnet die Beifahrertür und das ist der Augenblick in dem sich etwas in Xanders Gesicht rührt. Er blinzelt einmal, schüttelt den Kopf als versuche er einen lästigen Gedanken zu verscheuchen und scheint dann endlich wieder im Jetzt und Hier angekommen zu sein.
Er murmelt ein: „Sorry“, und löst den Gurt. Dann steigt er aus. Jesse folgt ihm in kleinem Abstand. Angekommen fühlt sich Xander sichtlich unwohl. Er hat beide Arme um seinen Oberkörper geschlungen und steht etwas verloren im Hausflur. Jesse überrascht das. Er hat Xander bisher als einen recht selbstbewussten, wenn auch ziemlich rebellischen, jungen Menschen kennengelernt. Das hier ist eine neue Situation und Jesse würde Xander gerne fragen, ob alles in Ordnung ist. Nur ist das leider eine ziemlich dämliche Frage, die er sich eigentlich selber beantworten kann. Gar nichts zu sagen scheint allerdings auch keine Option zu sein.
„Was schwirrt dir im Kopf?“.
„Was? Oh … ehm, ich glaube es ist besser, ich führe das nicht näher aus.“
„Gut, deine Entscheidung.“
Xander nickt.
In der nächsten halben Stunde machen sie sich daran, sich ein wenig häuslich einzurichten. So häuslich wie das eben geht, wenn man auf einen Kurzaufenthalt eingestellt ist. Jesse rechnet damit, dass der körperliche Entzug bei Xander etwa drei oder vier Tage dauern wird. Das ist nur eine vage Vermutung, wie ihm klar wird. Er weiß nicht einmal, wie lange Xander dieses scheiß Zeug schon konsumiert und je nachdem wird auch der Entzug verlaufen. Theoretisch könnte er nachfragen, praktisch käme er sich dabei aber reichlich dämlich vor. Eigentlich ist genau das bescheuert. Er ist Arzt. Er hat solche Fragen zu stellen, ohne sich dabei dämlich vorzukommen. Wobei Xander auch kein Patient ist, also ist das eventuell noch einmal anders zu betrachten.
Aber er ahnt, dass er im Moment auch keine Antwort auf solche Fragen von Xander bekommen würde. Dafür schenkt er ihm nicht das nötige vertrauen. Jesse will nicht abstreiten, dass Xander sich bemüht, er ist sich ziemlich sicher, dass er das tut, aber zwischen versuchen und können liegt eben doch noch ein Meilen weiter unterschied. Er verschiebt solche Fragen also auf später, ohne genau zu wissen, wann später sein wird.
Sie sitzen in der Küche, Jesse hat extra vorher eingekauft und hofft das der große Kühlschrank den er gerade erst wieder an die Stromzufuhr angeschlossen hat, bald ordentlich kühlt, sodass ihr Abendessen nahrhafter ausfällt als das karge Frühstück. Sandwich mit Schinken oder Käse. Dabei stellt Jesse verblüfft fest: „Isst du kein Fleisch?“
Denn er kann beobachten, wie Xander nachdem er das einzige Käse-Sandwich gegessen hat, keine Anstalten macht sich noch etwas zu Essen zu nehmen und er kann sich nicht vorstellen, dass er nach einer solch langen Autofahrt so gar keinen Appetit hat. Oder beginnen bereits die Entzugserscheinungen. Gut möglich wäre es jedenfalls.
Das Licht der mittlerweile hoch am Himmel stehenden Sonne fällt hell durchs Fenster, taucht den dunkel braunen Küchentisch in sanftes Licht. Doch auf Xanders Gesicht zeichnen sich dunkle Schatten ab, lassen ihn noch verschlossener wirken, als er sowieso schon scheint. Dann kommt die gemurmelte Antwort: „Nein, ich esse das schon, es ist nur …“. Der Satz bleibt unvollendet. Schwebt in der Luft. Jesses Neugier ist geweckt.
„Es ist nur…?“
Xander zögert. Dann räuspert er sich.
„Jetzt gerade, oder generell?“
„Beides.“
„Ich mag den Gedanken nicht, dass das mal … na ja, ein Lebewesen war.“
„Du bist Vegetarier?“
„Nicht wirklich. Ich ess‘ es, aber ich mag es nicht besonders, also vom Geschmack. Und der Gedanke bleibt.“
Es ist ein merkwürdiges Gefühl als Jesse klar wird, dass dieser relativ unbedeutende Fakt vermutlich das persönlichste ist, was er bisher über Xander erfahren hat. Diese Erkenntnis rückt allerdings bald in den Hintergrund, denn Jesse ist schnell klar, dass Xander langsam aber sicher von Entzugserscheinungen gequält wird. Die Hände, die auf dem Küchentisch liegen zittern unkontrolliert und er kann ihm ansehen, dass er keinen Bissen mehr herunter bekommen wird. Er muss gar nicht erst sagen, dass ihm schlecht ist.
Jesse versucht nun möglichst routiniert zu handeln. Das ist eine Situation, wie sie in keinem Lehrbuch steht. Aber er weiß, welches Verhalten – zumindest aus medizinischer Sicht – jetzt das richtige ist. Also bleibt er ruhig. Er stellt das Geschirr in die Spüle, reicht Xander Kleidung zum Wechseln – die er extra für ihn eingepackt hat und die ihm sicher zu groß sein wird -, auch wenn der ziemlich verdutzt und vielleicht ein wenig verlegen reagiert und dann richtet er, während der Jüngere sich im Badezimmer umzieht, das zweite Schlafzimmer in der Hütte her. Jesse wird im anderen schlafen. Falls er schlafen wird. Er ist sich da zurzeit nicht besonders sicher. Im Augenblick ist Xander noch – relativ gesehen – ruhig. Aber er ist nicht so naiv und lässt die Illusion Oberhand gewinnen, dass das jetzt die nächsten Stunde und Tage so bleibt und der Entzug so harmlos von Statten gehen wird.
Nach einer Viertelstunde beschließt Jesse, einmal nach Xander zu sehen, der noch immer im Bad verschwunden ist. Nicht das er misstrauisch wäre, aber es kommt ihm doch reichlich komisch vor, dass jemand so lange zum Umziehen brauchen will. Er klopft einmal an der Tür. Keine Reaktion. Komisch. Als er die Türklinke herunter drückt, stellt er zu seiner Überraschung fest, dass die Badezimmertür nicht verschlossen ist.
Er drückt die dunkle Eichentür einen spaltbreit auf und bleibt wie angewurzelt stehen. Xander hat ihm den Rücken zugewandt und zieht sich gerade das weiße T-Shirt über den Kopf, das Jesse ihm gegeben hat. Aus der Fassung bringt Jesse aber sicher nicht das T-Shirt. Über Xanders Rücken erschreckt sich eine lange Narbe. Die Haut, die auf der Narbe eine Wulst gebildet hat, schimmert ihm rötlich entgegen. Jesse zieht scharf die Luft ein.
Xander braucht keine Sekunde, um zu reagieren. Er dreht sich in einer schnellen Bewegung zu ihm und zieht dabei gleichzeitig das T-Shirt herunter. Wenn Jesse es nicht besser wüsste, könnte man meinen, es sei nichts gewesen. Der Jüngere reagiert anders, als er es erwartet hat. Gar nicht impulsiv. Eher gelassen. Obgleich Jesse zu behaupten wagt, dass die Gelassenheit nicht mehr als eine Farce ist.
„Vergiss einfach, was du gesehen hast.“, sagt er und beendet das Thema damit scheinbar. Jesse ist trotz seiner Vermutung zu perplex, um irgendetwas zu erwidern, etwas zu Fragen. Obwohl ihm die Fragen auf der Zunge brennen und er eigentlich nichts lieber hätte als Antworten. Stattdessen folgt er Xander einfach durch den Flur zurück in die Küche. „Was nun?“. Große braune Augen sehen ihn fragend an. „Nun heißt’s wohl abwarten.“
Sie müssen nicht besonders lange abwarten. Aber das hat Jesse auch nicht erwartet. Xander vermutlich auch nicht, er ist bereits eine halbe Stunde später ziemlich fertig. Eine weitere halbe Stunde später fliegt ein Glas durch die Küche. Xanders Aggressionen halten sich noch in Grenzen, aber trotzdem ist Jesse im ersten Moment wie vor den Kopf gestoßen, als Xander anfängt rumzuschreien. Er ist von der einen auf die nächste Sekunde von Null auf Hundert und es scheint ihm ganz egal zu sin, gegen wen sich seine Wut richtet. Jesse versucht ruhig auf ihn einzureden, das bringt Xander aber nur noch mehr in Rage. Er schreit, dass Jesse einfach keine Ahnung hat. Er soll ihn verdammt nochmal in Ruhe lassen. Das alles hier sei eine absolute Scheiße. Er hat ein weiteres Glas in der Hand. Jesse geht auf ihn zu. Xander wird noch lauter, weicht gleichzeitig irgendwie zurück. Jesse weiß, er wird nicht zögern nach ihm zu werfen. Er bleibt so ruhig wie irgendwie möglich. Mit einer schnellen Bewegung ist er bei ihm angekommen, nimmt den Jüngeren mit einer groben Geste das Glas aus der Hand, lässt ihn aber auch genauso schnell wieder los. Xander wird keineswegs handgreiflich. Jesse wertet das als etwas Positives. Er stellt das Glas zurück in den Küchenschrank. Als die Schranktür scheppernd zufällt, stellt er fest das Xander im Hausflur steht. Genauer gesagt vor der Haustür. Er rüttelt an der Klinke und flucht dabei lauthals. Jesse ist nun mehr als erleichtert, dass er abgeschlossen hat. Sonst wäre Xander jetzt vermutlich über alle Berge. Er macht einen Schritt in den Flur, bleibt letztendlich doch im Türrahmen der Küche stehen. Hält Abstand zu Xander. Sagt nichts. Er wüsste auch nicht, was er sagen soll. Was sagt man in einer solchen Situation? Eine grausame Sekunde fühlt er sich überfordert. Wirft einen kurzen Seitenblick auf die Küchenfliesen, wo die Scherben des Glases liegen, das von der Wand abgeprallt ist. Dann schweift sein Blick wieder zu Xander. Ihm scheint alle Kraft aus dem Körper gewichen zu sein. Er hat sich an der Haustür herunterrutschen lassen und sitz mit den Beinen angezogen auf dem Boden. Sein Körper krampft sich regelrecht zusammen. Er bringt nicht mehr als ein Wimmern über die Lippen und Jesse fühlt sich merkwürdig hilflos.
Langsam geht er auf Xander zu. Der reagiert kaum, als Jesse vor ihm in die Hocke geht. Er zittert nur völlig unkontrolliert, atmet flach und ist kalkweiß. Auf seiner Stirn glänzt schon der Schweiß. Es geht ihm wirklich elend, das ist nicht zu übersehen. Irgendwie schafft es Jesse doch, den Schwarzhaarigen ins Schlafzimmer zu verfrachten. Die Tür lässt er einen Spaltbreit offen, falls irgendetwas sein sollte. Die Fenster hat er vorhin verriegelt, die Haustür ja auch, also kann Xander sowieso nicht raus. Während er in der Küche die Glasscherben beseitigt kommt ihn der Gedanke, dass Xander versuchen könnte das Fenster einzuschlagen, um wegzukommen. Auch wenn er es für unwahrscheinlich hält, allein weil er ihm so viel Kraft gar nicht zutraut und weil er sich das einfach nicht vorstellen kann, geht er durch das Haus und beginnt noch einmal alle Fenster aufzuschließen, um erst die Fensterläden und dann erneut die Fenster zu schließen. Deshalb betritt er dann auch das Schlafzimmer in dem sich Xander befindet abermals, geht dort genauso vor wie im Rest des Hauses. Sperrt die Sonne aus. Xander nimmt ihn gar nicht richtig war. Er liegt auf dem Bett, hat das eine Bein merkwürdig angewinkelt und der Rest seines Körpers zuckt unnatürlich. Jesse versucht nicht hinzusehen, er fühlt sich so unheimlich machtlos.
In den nächsten Stunden geht es eigentlich. Manchmal steht Xander auf. Tigert im Zimmer oder im Flur auf und ab. So gut er sich eben auf den Beinen halten kann. Dann liegt er wieder. Die Nacht vergeht relativ ruhig. Vielleicht ist Jesse nach der langen Autofahrt und dem anstrengenden Tag auch einfach nur zu müde, um etwas mitzubekommen. Am Morgen des 30. Dezember kann man fast noch glauben, Xander hat eine starke Magen-Darm Grippe, wenn man es nicht besser weiß. Aber im Laufe des Tages wäre auch jedem unbeteiligten klar geworden, dass dem nicht so ist.
Mittlerweile geht es Xander wirklich elend. Mehr als elend. Er erbricht sich mehrfach, behält überhaupt keine Nahrung drin und scheint selbst mit Flüssigkeit Probleme zu haben. Seine Muskeln krampfen andauernd. Er ist förmlich schweiß gebadet, wird aber immer wieder von Schüttelfrost geplagt. Am meisten sorgt Jesse das hohe Fieber, das Xander gegen Nachmittag bekommt. Er glüht regelrecht und ist überhaupt nicht ansprechbar, obwohl er wach ist. Das versetzt Jesse in aufruhe. Fieber ist kein gewöhnliches Entzugssymptom. Das die Körpertemperatur ansteigt ist eine Sache, aber Fieber eine andere. Die nächsten Stunden sind der reinste Albtraum. Xander Halluziniert. Er wirft sich von links nach rechts und wieder zurück. Murmelt unverständliche Sätze, scheint völlig verängstigt. Manchmal schreit er regelrecht. Da ist jemand vor dem er wahnsinnige Angst hat. Zumindest glaubt Xander, dass jemand da ist.
Jesse ist am Abend genauso fertig wie Xander. Er ist unheimlich erschöpft und müde. Er hat grauenvolle Kopfschmerzen und er reagiert auf jedes noch so kleine Geräusch überempfindlich. Ihm kommt zum ersten Mal der Gedanke, dass das hier ihm zu viel wird. Er hatte keine Ahnung, worauf er sich da einlässt. Das ist ihm jetzt bewusst. Theorie und Praxis sind nicht annähernd miteinander zu vergleichen. Theoretisch hat er gewusst, was da auf ihn zukommt, aber praktisch merkt er, wie überfordert er ist. Xanders Verhalten macht ihn auf eine ganz andere Art und Weise zu schaffen, als Jesse es erwartet hat. Er hat geglaubt, dass es ihn treffen könnte, wenn Xander in Rage das ein oder andere Wort fallen lässt das man eventuell nicht sagen sollte. Aber das ist es nicht. Denn letztendlich meint Xander diese Worte nicht ernst. Zumindest hofft er das. Es macht ihn völlig fertig den Jüngeren körperlich so am Ende zu sehen. Es macht ihn völlig fertig, wenn Xander, scheinbar von einem Albtraum nach den anderen geplagt, absolut verängstigt und in Panik schreit. Kurz um, es macht ihn völlig fertig, dass er ihm nicht helfen kann. Obwohl er Xander nicht einmal wirklich kennt, geht das alles ihm so unendlich nah und er fragt sich immer öfter, was ihm widerfahren sein muss, um ihn zu einem Leben auf der Straße getrieben zu haben. Er fragt sich, welche Ängste und welchen Kummer er versucht hat mit dem Heroin zu betäuben.
Ängste und Kummer betäuben. Jesse kann nicht in Worte fassen, wie sicher er sich ist, dass es das ist, was Xander so kläglich versucht hat. Mit diesen Gedanken läuft der junge Mann ruhelos in der Küche auf und ab. Jesse ist zwar erschöpft, kann sich allerdings einfach nicht dazu durchringen, sich – wenn auch nur für einen Augenblick - auszuruhen. Stattdessen geht er zum Herd, wo eine Hühnerbrühe, aus der Dose, weil Jesse mit Suppen nicht besonders viel Erfahrung hat, vor sich hin köchelt. Er hofft das Xander zumindest davon ein wenig herunter bekommt.
Die Tür zum Schlafzimmer ist nur angewinkelt. Dennoch dringt das kalte Licht der Flurlampe nicht annähernd ins Schlafzimmer. Darin ist es stockdunkel. Stockdunkel und stickig. Es riecht nach Schweiß und erhitzter Luft. Es stinkt gerade zu. Jesse stellt den Teller mit der Brühe und das Glas Wasser das er gerade noch in der Hand gehalten hat auf dem Nachttisch neben dem Bett ab. Ohne zu zögern geht er auf das verriegelte Fenster zu. Reißt es auf. Ebenso die Fensterläden. Endlich ein wenig frische Luft. Zu Jesses Überraschung scheint Xander zu schlafen, als er sich dem Jüngeren zuwendet. Natürlich kann Jesse es nicht beschwören, schließlich hat er selber zwischenzeitlich ein paar Stunden geschlafen, aber er glaubt, dass es das erste Mal ist, seitdem sie hier angekommen sind, dass Xander schläft. Wirklich schläft. Ohne zu halluzinieren oder um sich zu schlagen.
Der Mond, der hoch am Himmel steht, wirft bläuliches Licht zum Fenster hinein. Ein wenig schummrig. Dennoch genug um Xanders Konturen gut zu erkennen. Jesse streicht ihm zögerlich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Er ist immer noch unnatürlich heiß. Das ist mehr als nur schlecht. Jesse befürchtet, dass Xander sich zusätzlich zum körperlichen Entzug eine Grippe eingefangen hat. Darauf lässt zumindest auch der Husten schließen, den Xander am Nachmittag krampfhaft zurückzuhalten versucht hat. Kein Wunder, schießt es Jesse durch den Kopf. Wo er doch bei minus Graden nur im T-Shirt draußen rumgelaufen ist. Da muss man ja krank werden. Trotzdem hätte er es sich anders gewünscht.
Xander ist völlig durchgeschwitzt. Das T-Shirt und die Jogginghose kleben an seiner Haut. Jesse beschließt, dass Xander zunächst einmal dringend Flüssigkeit und ein paar Nährstoffe braucht. Danach eine Dusche. Wenn er aufstehen kann. Also setzt der Medizinstudent sich auf die Bettkante, rüttelt vorsichtig an der schmalen Schulter. Zunächst keine Reaktion. Kein Grund aufzugeben. Also noch einmal und langsam regt Xander sich. Er wird nur schwer wach und Jesse kann den fiebrigen Glanz in seinen braunen Augen sehen.
„Hey“, flüstert er.
„Hey“, kommt es leise von Xander zurück.
Nur mit Mühe kann er Xander dazu bewegen etwas zu essen und zu trinken. ‚Etwas‘ ist gerade zu vermessen. Denn es sind kaum mehr als ein paar Löffel und ein paar Schlucke, die er zu sich nimmt. Besser als nichts, immerhin. Xander sieht ihn gequält an und Jesse ist sich bewusst, was für eine reine Folter das in Xanders Augen sein muss, ihn zum Essen und zum Trinken zu zwingen. Es tut ihm ja auch leid, aber da muss er jetzt durch. Und daran ist niemand anderes, als er selbst schuld.
Bald darauf wird Jesse klar, dass Xander nicht aufstehen kann. Er muss sich erneut übergeben und Jesse ist froh, wenn überhaupt irgendetwas an Nahrung und Flüssigkeit drinnen geblieben ist. Außerdem hat Xander ziemlich starke Schmerzen. Sowohl von den Muskelkrämpfen als auch bloße Bauchschmerzen. Jesse beschließt zunächst etwas gegen das Fieber zu tun, welches dringen sinken muss. Normalerweise wären Medikamente jetzt eine sichere Option, wäre Xander nicht sowieso schon Abhängig. Jesse will den Entzug auf keinen Fall mit irgendwelchen Medikamenten beeinflussen. Vielleicht in ganz geringer Dosis, nur ob das hilft ist fraglich und außerdem wird Xander sie momentan auch kaum drin behalten. Zeit für ein gutes altes Hausmittel. Wadenwickel.
Gesagt, getan. Jesse schnappt sich zwei Geschirrtücher, sowie drei Handtücher und füllt eine Schüssel mit kaltem Leitungswasser. Als er ins Schlafzimmer zurückkehr ist es kurz nach 10 Uhr abends und Xander ist in einen unruhigen Halbschlaf gefallen. Vorsichtig zieht er dem Jüngeren die verschwitzte Jogginghose von den Beinen. Der reagiert darauf kaum. Zu Jesses Glück. Er erinnert sich nur zu gut daran, wie Xander in der Nacht damals im November reagiert hat, als er ihn am Arm gefasst hat. Er hatte eine ungeheure Panik. Das können sie jetzt absolut nicht gebrauchen. Ist vermutlich nicht schlecht, dass er nicht besonders viel mitbekommt. Zunächst schiebt Jesse das große Handtuch unter Xanders Unterschenkel. Bevor er anfängt, misst er noch einmal Fieber. Xanders Temperatur liegt bei 39,9° Grad. Der Fünfundzwanzigjährige zieht scharf die Luft ein und fährt sich unruhig durch das rotblonde Haar. Jetzt wird’s aber auch Zeit. Jesse rückt noch kurz seine Brille zurecht, dann taucht er ein Geschirrtuch in das kalte Wasser. Wringt es aus, bis es nicht mehr tropft und wickelt es faltenfrei und möglichst fest um den rechten Unterschenkel. Das zweite, kleinere Handtuch wickelt er um das feuchte Geschirrtuch. Es sorgt dafür, die Temperatur des Wickels zu erhalten. Dasselbe macht er am linken Unterschenkel. Ein Zucken geht durch Xanders gesamten Körper und für einen Moment bäumt er sich auf, um im nächsten Augenblick schon wieder reglos auf dem weißen Laken zu liegen. Nach gut zwanzig Minuten löst er die Wickel wieder. Nur um die Prozedur eine Viertelstunde später zu wiederholen und dabei bleibt es nicht. Erst um Mitternacht sinkt die Temperatur auf 38° Grad.
Jesse tun alle Knochen im Körper weh und er ist unsagbar müde, aber er wagt es nicht, von Xanders Seite zu weichen. Er kann nicht einmal sagen, woran das liegt. Er will ihn einfach nicht allein lassen. Obwohl der Schwarzhaarige immer noch ziemlich weggetreten ist. Immerhin hat er aufgehört sich zu übergeben. Dafür hat er sich auf der Seite zusammengerollt wie ein Igel. Er macht auch den Eindruck, als wolle er sich ebenso vor der Welt verstecken. Durch seinen Körper geht in fast schon gleichmäßigen Abständen ein Beben und manchmal krallt sich seine zur Faust geballte Hand ins Bettlaken, wie ein ertrinkender der das letzte Seil ergreift, das ihm dargeboten wird. Kurz darauf entspannt er sich zumeist allerdings wieder. Auch diese Nacht vergeht. Irgendwann ist Jesse eingeschlafen.
Der 31. Dezember beginnt für ihn um 3:00 Uhr in der Früh, als Xander es gerade noch so schafft, sich aus dem Bett heraus zu übergeben. Er hustet verzweifelt und scheint keine Luft zu bekommen. Jesse ist alarmiert. Mit einem Satz ist er von dem unbequemen Ledersessel aufgesprungen, in dem er die Nacht verbracht hat. Einen weiteren braucht es, bis er an Xanders Seite des Bettes angekommen ist. Mit einem Ruck zieht er den Jungen in eine aufrechte Position, hält ihn fest und streicht ihm beruhigend über den Rücken, während sich der nächste schwall von Erbrochenem auf den Boden ergießt. Er ist sich nicht sicher, ob Xander das registriert. Es dauert nur Sekunden, da ist die gesamte Spannung aus seinem Körper gewichen. Jesse spürt es sofort, weil er wegkippen würde, wenn er ihn nicht festhielte. Völlig kraftlos sinkt er gegen Jesses Brust. Die braunen Augen sehen glasig ins Leere.
Eigentlich sollte er das hier ekelhaft finden und der saure Geruch des Erbrochenen steigt ihm auch in die Nase, aber Jesse stellt fest, dass es ihm überraschend wenig ausmacht. Es ist unangenehm, zuweilen vielleicht ekelhaft. Nur, wenn er das hier nicht täte, wer würde Xander dann unterstützen und jetzt bei ihm sein? Langsam greift er nach einem der Geschirrtücher, welches er für die Wadenwickel verwendet hat und wischt Xander damit das Gesicht sauber. Das Tuch landet einen Wimpernaufschlag später bereits in der nächsten Ecke und Jesse drückt ihn vorsichtig an sich. Für eine Dusche ist es jetzt wirklich höchste Zeit. Der Geruch nach Schweiß und Erbrochenem ist beißend und wird langsam unerträglich. Sachte schiebt Jesse einen Arm unter Xander Oberschenkel, der andere stütz Xanders rücken. Mit ziemlicher Sicherheit ist der Kleinere gerade nicht dazu in der Lage zu laufen.
Im Badezimmer schiebt er ihn sanft in die Dusche, wo er - wie nun schon so häufig beobachtet – zusammengekauert in der Duschwanne sitzen bleibt. Xander wehrt sich nicht. Was Jesse doch irgendwo Sorgen bereitet. Er hat nicht einmal etwas gesagt, als Jesse ihm zögerlich des T-Shirts entledigt hat. Die Jogginghose hat er ja sowieso nicht mehr getragen und Jesse hat nicht vor gehabt, ihn auch noch seiner Boxershorts zu entledigen. Nicht, das er ein Problem mit nackter Haut hätte. Aber er muss Xander wirklich nicht nackt sehen. Das ist ihm absolut unangenehm. Wieder sticht ihn die lange Narbe auf Xanders Rücken ins Auge und noch eine weitere hat seine Aufmerksamkeit gewonnen. Am linken Oberarm hat Xander einen merkwürdigen, fast dreieckigen roten Abdruck. Es sieht wie eine verheilte, relativ schwere, Verbrennung aus. Jesse schluckt.
Nicht einmal als er kurz darauf den Hahn in der Dusche aufdreht, reagiert Xander wirklich. Er gibt einen leisen Protestlaut von sich, als das warme Wasser auf seine Haut trifft, aber mehr auch nicht. Erst als Jesse damit beginnt behutsam Shampoo in Xanders verschwitzen Haaren zu verteilen, gibt der Jüngere ein klägliches Wimmern von sich. Seine Hand wandert an Jesses Handgelenk. Will ihn von sich weg schieben.
„Pscht. Alles ist gut. Keine Angst.“
Xander erwidert nichts, seine Haltung bleibt angespannt. Gleichwohl er seine Hand zögerlich sinken lässt.
Und Jesse fährt fort. Er merkt, wie Xander dabei immer müder wird. Er kann das gut nachvollziehen. Er ist auch hundskaputt.
Nach dem Duschen legt er Xander ein großes Handtuch um den hageren Körper und wickelt ihn geradezu darin ein. Er scheint wieder völlig willenlos, als Jesse ihm sagt, dass er einen Augenblick im Badezimmer warten soll. Jesse geht an seinen Koffer, holt Xander frische Kleidung und lässt ihn einen Moment alleine, damit er die nasse Boxershorts loswerden und sich anziehen kann.
Mit einer großen, gelben Decke bewaffnet kommt er wieder ins Badezimmer. Xander hat sich indessen das frische T-Shirt und die Boxershorts über gezogen. Jesse hat keine Jogginghose mehr, so viele besitzt er einfach nicht, aber er findet, dass das auch absolut ausreichend ist. Wie zuvor das Handtuch, wickelt er nun auch die Decke um Xanders schmalen Körper, bevor er den Jüngeren auf den Arm nimmt und wieder fest an sich drückt. Xander protestiert auch jetzt nicht. Er hört ihn zwar einige Male schwer schlucken, doch dann sinkt sein Kopf schwer gegen Jesses Brust. Er ist eingeschlafen.
Jesse beschließt, dass er das Schlafzimmer dringend sauber machen muss und trägt Xander vorsichtig ins Wohnzimmer, wo er ihn auf der Couch ablegt. Der dunkelhaarige ist erschreckend leicht. Er wiegt vielleicht nicht nichts, aber es wäre durchaus möglich ihn eine Weile zu tragen. Auf der Couch scheint Xander ihm den nächsten Stunden ganz gut aufgehoben uns so macht er sich um diese Gott erbarmungswürdige Zeit daran, das Schlafzimmer wieder einigermaßen bewohnbar herzurichten. Er will ja nicht, dass seine Eltern bei ihrem nächsten Urlaub noch irgendwelche verdächtigen Spuren finden, die sie hinterlassen haben. Und zugegeben, dabei wird ihm bewusst das es doch ziemlich widerlich ist das Erbrochene von jemand anderem wegzumachen. Obwohl er Xander nicht einmal einen Vorwurf macht. Immerhin hat er sich die letzten drei Tage so häufig übergeben – und Jesse macht sich immer noch Sorgen um seinen Flüssigkeitshaushalt und fragt sich ob das bei einem Entzug noch normal ist, oder ob es wohl doch an der Grippe liegt – dass es geradezu ein Wunder ist, das er nicht früher schon den Boden statt des Eimers erwischt hat.
Als die Sonne langsam ihre ersten Strahlen durch die, mittlerweile nicht mehr zusätzlich mit Fensterläden verriegelten, Fenster wirft, ist Jesse körperlich so am Ende, dass er sich rücklings auf sein Bett fallen lässt. Er muss eingeschlafen sein. Geweckt wird er von einem zaghaften „Jesse“, das von der Tür kommt. Sofort ist er hellwach.
„Hey.“
„Hey.“
Jesse muss leicht grinsen. Das ist irgendwie ihr Ding.
„Alles klar? Wie geht es dir?“
„Ja, ich glaube schon. Geht.“
„Wie spät ist es?“
„Weiß nicht genau, ich glaube Nachmittag“.
Jesse reißt erstaunt die grünen Augen auf. So lange wird er doch nicht geschlafen haben. Mit einem Satz ist er aus dem Bett und in der Küche, wo eine Uhr hängt. Es ist tatsächlich schon Viertel nach vier. Wow. Er war echt verdammt müde. Xander ist ihm unsicher hinterher getapst. Wirklich getapst. Seine blanken Füße geben ein dumpfes, leises Geräusch von sich, als er über den Parkettboden läuft. Im Türrahmen ist er unschlüssig stehen geblieben. Jesse lächelt ihn an. Wie Xander da steht, nur in Jesses viel zu großem T-Shirt und Boxershorts, mit der großen Decke um die Schultern geschlungen – vermutlich ist ihm kalt – und den völlig zerzausten schwarzen Haaren, die an ein Vogelnest erinnern, sieht er wirklich liebenswert aus. Fast niedlich.
Jesse schüttelt über seine eigenen Gedanken den Kopf. Halt. Stopp. Liebenswert, okay. Eventuell. Aber sicher nicht niedlich. Auch nicht ‚fast‘.
„Was ist?“
„Was soll sein?“
„Du hast den Kopf geschüttelt…“.
„Ach, nichts weiter. Ich hab‘ nur nachgedacht.“
Zum Nachdenken bleibt ihn in den nächsten Stunden eine Menge Zeit. Nach der Phase der ewigen Unruhe, des Krampfens und Erbrechens, scheint Xanders Körper jetzt nur noch Schlaf zu brauchen. Nach ihrem, zugegeben ziemlich verspäteten Frühstück, sorgt Jesse dafür, dass Xander erst einmal ein paar Liter trinkt. Denn, seine Temperatur ist immer noch erhöht und er hat die letzten Stunden kaum etwas drin behalten. Kurz danach schläft er auf der Couch tief und fest. Es ist fast ein wenig merkwürdig, wie erleichternd Jesse diese Tatsache findet. Müder reibt er sich über die Nasenwurzel und rückt seine Brille zurecht. Zeit im Dorf einkaufen zu gehen. Sie haben kaum noch etwas im Haus.
Als er fast zwei Stunden später – er hat noch nie einen so schlecht sortierten Supermarkt gesehen und die Verkäuferin hat ihn fast in Grund und Boden geredet - die Tür zur Hütte aufschließt, bemerkt er sofort, dass im Wohnzimmer Licht brennt. Kein Wunder. Draußen ist es ja auch schon wieder dunkel. Verdammter Winter. Er stellt die Einkaufstüten im Flur ab.
Xander sitzt, noch immer in die Decke gewickelt, auf der Couch. Zunächst glaubt Jesse er würde ins Leere starren, doch dann wird ihm klar, dass er über irgendetwas angestrengt nachdenkt. Jesse will sich schon zurückziehen, als Xander abrupt seinen Kopf zu ihm wendet.
„Dein Handy hat geklingelt“, sagt er tonlos.
Automatisch greift Jesse in seine Jackentasche, nur um festzustellen, dass sich darin nur Autoschlüssel und Portmonee befinden.
„Logischerweise hier im Haus, sonst hätte ich es ja nicht hören können“, stellt Xander noch einmal explizit klar.
Ach, sieh einer an, kaum, dass es ihm wieder ein wenig besser geht, wird der junge Mann sarkastisch. Na, vielen Dank. Scheinbar hat auch Xander gemerkt, dass er sich eventuell etwas im Tonfall vergriffen hat, denn er fügt schnell hinzu:
„In der Küche.“
Jesse nickt und geht in die Küche. Er glaubt zunächst Cassie hätte versucht ihn anzurufen, doch als er auf sein Handydisplay schaut, erkennt er die Telefonnummer seiner Eltern. Was wollen die denn? Nicht, das Jesse sich nicht freuen würde von ihnen zu hören, nur wundert es ihn.
Er geht in sein Schlafzimmer, macht die Tür hinter sich zu und ruft zurück. Seine Mum geht ans Telefon.
„Hey Mum.“
„Hallo mein Schatz. Warst du unterwegs?“
„Hmm“, er nickt zustimmend, bis ihm klar wird, dass seine Mutter das nicht sehen kann.
„Ja, warum hast du angerufen?“
„Ach, nicht ich habe angerufen. Deine kleine Schwester hat angerufen. Lilly wollte mit dir reden, wo sie dich und Cassie schon in den Semesterferien doch nicht besuchen kann. Ich habe sie aber gerade ins Bett geschickt. Es ist ja schon kurz vor Acht und du weißt ja wie sie ist, bis sie wirklich im Bett verschwunden ist, ist es halb neun und wenn wir heute Abend noch Raketen steigen lassen wollen ...“
Jesse überredet sein Mum ihm Lilly doch noch kurz an den Hörer zu holen und lässt sie seinem Vater Grüße ausrichten. Als Lilly dann tatsächlich noch an den Hörer kommt ist sie erst ein bisschen beleidigt, weil Jesse sich so spät erst meldet, das ist aber schnell vergessen, als sie ihm von ihrem Hund Sam erzählt und was sie für Silvester alles gekauft haben. Während ihrer Erzählungen wird Jesse schon ein bisschen wehmütig. Von der kleinen Hütte kann man das Feuerwerk im nächstgelegen Dorf kaum sehen oder hören und so hat er sich sein Silvester eigentlich nicht vorgestellt, aber im gleichen Atemzug wird ihm auch bewusst, dass Cassie diesen Tag ja offensichtlich auch nicht mit ihm verbringen wollte. Überhaupt wird ihm in dieser Sekunde erst klar, dass er seit Xander und er in Wisconsin angekommen sind, noch nicht ein einziges Mal an Cassie gedacht hat. Sogleich ereilt ihn ein schlechtes Gewissen und es fällt ihm schwer seiner kleinen Schwester weiter zuzuhören. Er lässt sich jedoch nichts anmerken und verabschiedet sich einige Minuten später fröhlich von ihr.
Nach diesem Gespräch braucht er zunächst einen Moment für sich. Wie kann es sein, dass er in der gesamten vergangenen Zeit nicht eine Sekunde an seine Freundin gedacht hat, mit der er seit fast zehn Jahren zusammen ist? Wie kann es sein, dass er keinen einzigen Gedanken an seine Verlobte verschwendet hat? Dass er sie noch nicht einmal vermisst hat? Das macht ihm Angst. Er kann nicht in Worte fassen, wie beunruhigend er diese Erkenntnis findet. Wie schlecht er sich fühlt und wie sehr er das Gefühl hat, dass hier etwas ganz und gar falsch läuft.
Um sich abzulenken wendet er sich bald dem Abendessen zu. Es ist besser er denkt nicht länger darüber nach. Xander gesellt sich einige Zeit später zu ihm. Sie reden nicht wirklich miteinander, jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Zu Jesses Überraschung macht Xander sich nach dem Essen direkt nützlich und beginnt die Teller abzuräumen und das Geschirr zu spülen. Jesse muss gestehen, dass Xander auf ihn generell einen eigentlich ziemlich gut erzogenen Eindruck macht. Ja, er wird zu weilen ziemlich frech und gibt den ein oder anderen sarkastischen Kommentar von sich, wenn er denn mal redet, aber meistens handelt es sich dabei um eine Art Selbstschutz. Xander wird immer dann unhöflich und sarkastisch, wenn er sich angegriffen fühlt und scheint sich so verteidigen zu wollen.
Jeder Versuch, nach dem Abräumen, ein Gespräch zu beginnen scheitert. Xander geht es zum einen wieder schlechter, zum anderen scheint er mit seinen Gedanken auch ganz weit fort zu sein. Bis auf Xanders stätige Husten ist in der Holzhütte nicht viel zu hören. Sie sitzen gemeinsam im Wohnzimmer. Eigentlich wollte er mit Xander besprechen, wie es nach den nächsten zwei Tagen weitergeht - er hat da schon ein Jugendwohnheim im Blick -, aber das scheint jetzt wenig Sinn zu machen. Er vertagt das auf einen Zeitpunkt, an dem es ihm besser geht. Deshalb arbeitet er einfach noch ein wenig für die Uni. Gut, das man eine Laptop überall mithinnehmen kann.
Es dauert eine Weile bis Jesse auffällt, dass Xander nicht mehr auf dem Sofa sitzt. Verwundert stellt er seinen Laptop ab und macht sich auf die Suche. Er ist nicht in der Küche und auch nicht im Bad. Eigentlich hätte er ja sofort darauf kommen können, dass Xander sich ins Schlafzimmer zurückgezogen hat, aber wie das in so einer Situation ja so häufig der Fall ist, stand er einfach auf dem Schlauch. Was er dann sieht, bricht ihn eine Sekunde das Herz.
Er hatte geglaubt es würde den Jüngeren heute schon deutlich besser gehen und vielleicht war das über größere Etappen des Tages auch so, aber jetzt gerade geht es ihm in jedem Fall nicht viel besser, als gestern. Er hat sich wieder einmal auf dem Bett zusammengerollt und sein Körper zittert. Er hustet immer wieder zwischendurch und seine großen, braunen Augen, starren wie so häufig in den letzten Tagen, trüb vor sich hin.
Jesse macht das Licht an, doch als Xander seine Augen direkt unwillig zusammenkneift, schaltet er es wieder aus.
„Sorry.“
„Schon okay.“
„Wie fühlst du dich?“ Er setzt sich auf die Bettkante
„Geht eigentlich.“ Xander hustet.
„Eigentlich?“
„Mir tut nur jeder Knochen und jeder Muskel im Körper weh, aber ansonsten …“
„Na ja, da du im Körper 656 Muskeln und über 300 Knochen hast, wird es dich vielleicht freuen, dass sie vermutlich nicht alle wehtun werden.“
Xander schnaubt, zeigt aber den Ansatz eines Lächelns auf den Lippen.
„Nimmst du alles so ernst, was man sagt?“
„Meistens.“
Kurze Stille.
„Jesse?“
„Hmm?“
„Du bist echt anstrengend.“
Jetzt muss Jesse wirklich lachen. So, so. Er ist anstrengend? Hat Xander in letzter Zeit eigentlich mal in den Spiegel geschaut? Genau das sagt er ihm auch auf den Kopf zu. Aber Xander meint nur leichthin, dass der Blick in den Spiegel in letzter Zeit nichts sonderlich Erfreuliches gezeigt hätte, weshalb er gut und gerne darauf verzichten könne.
Dann wechselt er unvermittelt das Thema.
„Mit wem hast du eigentlich telefoniert?“
Einerseits hat Jesse das Gefühl, dass es Xander nichts angeht. Andererseits sieht er aber auch keinem Grund es ihm nicht zu erzählen. Im Gegenteil, eigentlich darf er von Xander ja nicht erwarten ihm irgendetwas anzuvertrauen, wenn er das selbst nicht tut.
„Mit meiner Mum und meiner kleinen Schwester.“
Er hört Xander schlucken und dann vorsichtig fragen:
„Kümmert sich deine Mum viel um dich?“
„Na ja, ich bin Fünfundzwanzig. Da braucht sie sich nicht mehr allzu viel zu kümmern. Aber sie ruft ab und zu mal an, um sicher zu gehen das ich nicht die nächste Bank ausgeraubt habe.“
Auf Jesses scherz geht Xander nicht ein. Er fragt nur, wieder etwas zögerlich:
„Wie alt ist deine kleine Schwester, Jess?“
Mehr als die Frage überrascht ihn der Kosename, aber er beantwortet einfach unvermittelt, ohne Xander darauf anzusprechen, seine Frage und da geschieht es.
„Sie ist acht. Im Sommer wird sie neun.“
Xander beginnt unversehens zu weinen. Richtig zu weinen. Er atmet schwer, kann kaum noch schlucken und sein Schluchzen bricht Jesse fast das Herz. Er ist binnen einer Sekunde emotional völlig fertig und er weiß nicht, wie er reagieren soll. Denn als er Xander – aus reinem Impuls – beruhigend in den Arm nehmen will, weicht der Jüngere fast panisch zurück und sein schluchzen wird nur noch lauter. Er drückt sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Bettes und bringt so den größtmöglichen Abstand, der auf diesem engen Raum möglich ist, zwischen sie. Jesse versucht beruhigend auf ihn einzureden. Er weiß nicht, was los ist. Aber er will ihm doch nichts Böses. Als das keine Wirkung zeigt, zieht er den Kleineren einfach in eine feste Umarmung.
Xanders ganzer Körper bebt jetzt regelrecht, so stark, dass Jesse ihn kaum zu fassen bekommt. Er schluchzt immer wieder unkontrolliert auf, manchmal – immer dann, wenn Jesse glaubt, er würde sich gerade wieder beruhigen – wird er fast hysterisch. Versucht ihn von sich weg zu schieben, trommelt mit seinen Fäusten gegen Jesses Brustkorb und versucht sich mit aller Kraft, aus der festen Umarmung zu winden. Jesse lässt es nicht zu. Er hält ihn in einem eisernen Griff, bis Xander tatsächlich ruhiger wird. Bis er kraftlos in Jesses Armen liegt. Vor Erschöpfung kaum noch in der Lage, sich zu wehren. Das Schluchzen bleibt. Immer wieder streicht er beruhigend über Xanders Rücken. Bis das Schluchten des Jüngeren langsam abebbt. Es wird zu einem kaum hörbaren wimmern und dann wird es still zwischen ihnen. Die Stille wird Jesse beinahe unbehaglich, er weiß nicht, was er sagen, was er fragen soll, als Xander leise zu sprechen beginnt.
„Ich hab‘ sie in Stich gelassen. Es ist meine Schuld.“
„Xander …“, murmelt Jesse leise, noch immer nicht recht wissend, was er sagen soll.
„Es war mein Job auf sie aufzupassen. Mein Job, sie abzuholen. Ich hab‘ alles kaputt gemacht. Mums Leben, Dads Leben, Marys und Nikkis. Alles.“ Xanders Stimmer ist nicht mehr, als ein Flüstern. Heiser und gebrochen, vom ganzen weinen.
„Schhttt.“ Sanft versucht Jesse Xander zu beruhigen. Er zieht ihn noch ein Stück näher zu sich. Will ihn aber dazu animieren, weiterzusprechen. „Hey, langsam. Ich bin sicher du hast nicht alles kaputt gemacht. Ganz sicher nicht.“
„Doch“, stößt Xander kraftlos hervor.
„Nein, bestimmt nicht. Fang einfach von vorne an, ganz von vorne. Ich hör‘ dir zu.“
Xander zieht scharf die Luft ein, dann beginnt er zu erzählen.