Kapitel 11
„Hast du Lust, heute ein bisschen Skaten zu gehen? Deine Inliner sind doch sicher schon ganz verstaubt!“, fragte Jillian an Selina gewandt, während sie zusammen mit der großen Schülerschar aus dem Schulgebäude gingen.
Selina schüttelte den Kopf und sah ihre Freundin entschuldigend an. „Freitags geht Andrea doch zum Ballettunterricht. Ich muss sie abholen und danach habe ich selbst noch Tanzstunde.“
Jillian lächelte. „Ich würde dich und deine kleine Schwester gern mal zusammen auf einer Bühne sehen.“
Selina seufzte sehnsüchtig. „Dein Wort in Gottes Ohren, aber Andrea ist mit ihren sechs Jahren dann doch noch etwas zu jung dafür. Es tut mir wirklich Leid, dass ich heute nicht kann. Wir holen das ganz bald nach.“
Jillian winkte lachend ab. „Ist doch nicht schlimm. Eigentlich habe ich sowieso noch alle Hände voll zu tun, weil ja morgen Tim wieder nach Hause kommt. Vermutlich brauchte ich nur eine Ausrede, um die Hausarbeit nicht machen zu müssen.“
Selina biss sich auf die Lippen, erst jetzt erinnerte sie sich an das Drama, dass sich gerade in Jillians Familie abspielte. Bei der Fröhlichkeit und Stärke, die ihre Freundin in den letzten Tagen ausgestrahlt hatte, war diese Tatsache in Vergessenheit geraten. „Vielleicht schaffe ich es ja später, noch einmal bei dir vorbei zu kommen.“
Jillian sah ihre Freundin an und las die Sorgen von ihrem Gesicht ab. „Nein, das musst du nicht! Wirklich nicht! Ich komme klar.“
„Ruf mich an, wenn du jemanden zum reden brauchst.“ Diesen Satz hätte Selina genauso gut unausgesprochen lassen können. Wenn Jillian jemanden zum Reden brauchte, ging sie zu Jonas. Einmal mehr erinnerte sie sich daran, dass Jillian in ihm schon längst ihre beste Freundin gefunden hatte.
Etwas eifersüchtig war Selina schon, doch in diesen Tagen war sie mehr denn je froh, dass Jillian ihn hatte. Sie und Jill waren zwar mit der Zeit sehr gute Freundinnen geworden, jedoch standen sie sich nicht so nah, um all das gemeinsam durchstehen zu können, was Jillian jetzt einfach durchstehen musste. Und sie brauchte jemanden, der ihr dabei half.
Selina sah in Jillians Augen. Sie wirkt so gehetzt, dachte sie dabei. Früher einmal ist Jill aufgedreht gewesen, aber jetzt ist sie nur noch gehetzt.
„Jill!?“ Die Stimme riss Selina aus ihren Gedanken. Als sie aufsah, bemerkte sie Justin, der eiligen Schrittes auf sie zukam.
Auch das noch!, dachte Selina besorgt und betete inständig, dass er Jillian nicht um ein weiteres Date bat.
„Hey.“, hauchte Jillian. Plötzlich war der Rest der Welt in Vergessenheit geraten.
Am liebsten hätte Selina ihre Freundin an den Schultern gepackt und sie einmal kräftig geschüttelt. Es war absolut untypisch für Jillian, jemanden so anzuhimmeln. Sie schien von dem, was um sie herum geschah, überhaupt keine Notiz mehr zu nehmen.
Es war nicht so, dass Selina Justin nicht mochte. Er war charmant und man konnte sich gut mit ihm unterhalten, wenn er nicht gerade versuchte, sich an einen ranzumachen. Sie selbst war von seinen Flirtversuchen bisher – Gott sei Dank! - verschont geblieben, was vielleicht auch daran lag, dass er genau wusste, dass sie ihn längst durchschaut hatte.
Wieder unterbrach seine Stimme Selinas Gedanken. „Selly? Könntest du uns bitte allein lassen? Nur kurz.“
„Kann ich machen. Ich muss sowieso los.“ Am liebsten wäre sie einfach stehen geblieben. Es fiel ihr so schwer, mit ansehen zu müssen, wie Jillian in ihr Verderben rannte. Aber welche Worte benutzt man, um ein verliebtes Mädchen wieder zur Vernunft zu bringen? „Bis Montag, ihr zwei.“
„Bis dann.“, riefen Justin und Jillian ihr nach, bevor sie sich einander zuwandten.
„Es ist schade, dass es mit unserem Date nicht geklappt hat. Hast du vielleicht Lust, jetzt noch einen Kaffee trinken zu gehen?“, fragte Justin schließlich.
Jillian konnte wieder nur bedauernd mit dem Kopf schütteln. „Lust habe ich schon, aber keine Zeit. Wie gesagt, kommt mein Bruder morgen nach Hause und ich muss noch viel vorbereiten für...“ Sie stockte und das erste Mal versuchte Justin wirklich, sie zu verstehen. Mitleid loderte in ihm auf.
„Die Beerdigung.“, beendete er dann ihren Satz. „Tut mir Leid, wenn ich etwas unsensibel gewesen sein sollte.“
Jillian brachte nur ein hilfloses Achselzucken zustande. Sie hätte sich gewünscht, dass es anders zwischen ihnen beginnen würde, nicht mit einem Gespräch über die Beerdigung ihrer Eltern.
Justin nahm sie in den Arm. „Du bist stark. Du schaffst das, glaub mir... ich bin für dich da...“
Jillian sah zu ihm auf. „Wirklich?“
Bei ihren hoffnungsvollen Blicken wurde ihm unbehaglich zumute, sie schienen so viel mehr zu verlangen, als er zu geben hatte. Dennoch antwortete er ohne mit der Wimper zu zucken. „Natürlich, Süße.“
Es fühlte sich wunderbar an, sie in den Armen zu halten. Und kein Jonas weit und breit. Wenn Justin bei Jillian war, geschah etwas mit ihm. Etwas, das ihm Todesangst bereitete. Gleichzeitig fühlte er sich so frei wie sonst nie, obwohl er von sich immer behauptete, ein freier Mensch zu sein. Es war ein anderes Gefühl der Freiheit, was ihn faszinierte. Grenzenloses Vertrauen ihrerseits, was ihm die Macht gab, sie zu verletzen. Was er plötzlich gar nicht mehr wollte. Doch so viel Freiheit dieses Gefühl mit sich brachte, so viel Verantwortung brachte es ihm auch. Wo Freiheit war, lauerte auch immer irgendwo die Verantwortung.
Jillian schloss die Augen und genoss den Augenblick in vollen Zügen. Es tat gut, von Justin getröstet zu werden. Es tat so gut zu glauben, dass er für sie da sein würde. Doch genau in diesem Moment ließ er sie auch schon wieder los und eine schreckliche Kälte ergriff Besitz von ihr.
Als Justin zu Jillian herunter sah und deren sehnsuchtsvollem Blick begegnete, wusste er, dass er es geschafft hatte und setzte ein selbstgefälliges Grinsen auf. Jillian besaß diese besondere Einzigartigkeit, die ihn so sehr faszinierte. Sie war definitiv mit Abstand das interessanteste Mädchen, das er kannte. Mit einer viel geübten Geste strich er ihr durchs Haar. „Okay, Süße. Ich muss jetzt los. Wir sehen uns am Montag. Ich freu mich schon drauf.“
Jillian lächelte. Mit seinen Worten machte Justin etwas Besonderes aus ihr. „Ich mich auch...“
„Wenn es dir nicht gut geht, dann denk an mich, okay? Ich bin bei dir.“
Sie konnte nicht einmal ansatzweise beschreiben, wie gut ihr diese Worte taten und dann auch noch aus seinem Mund. Darum lächelte sie nur.
Im Bewusstsein, dass alle Blicke der umstehenden Mädchen auf ihn gerichtet waren, ging er zu seinem Motorrad.
„Justin! Hey, warte auf mich!“ Eine der Mädchenstimmen löste sich aus dem Getümmel auf dem Schulhof und er drehte sich zu ihr um. Lara war fast zwei Köpfe kleiner als ihr Bruder, aber sicher nicht weniger auffallend hübsch. Dennoch hatte sie ständig das Gefühl, im Schatten ihres älteren Bruders zu stehen, mit dem einfach jeder etwas zu tun haben wollte. Wenn sie jemand ansprach, hieß es immer nur: „Weißt du, wo Justin ist?“ oder: „Wann kommt dein Bruder heute aus der Schule?“ Sie konnte es noch nicht einmal jemandem verübeln, sie vergötterte ihn ja auch.
Justin sah auf seine Schwester hinab, die mal wieder in einen ihrer Tagträume zu verfallen schien. „Ich wusste nicht, dass du auch schon Schluss hast. Willst du mitfahren?“
Sofort begannen ihre strahlend blauen Augen hell zu leuchten. „Darf ich? Das wäre echt klasse!“ Sie liebte es, mit Justin durch die Gegend zu fahren, dann wurde auch sie gesehen...
Justin nahm den blauen Motorradhelm, der sich immer auf dem Gepäckträger festgeschnallt befand, wenn er nicht gerade auf dem Kopf irgendeines Mädchens saß, und setzte ihn seiner Schwester auf den Kopf. Diese schaute verwirrt und ein wenig entsetzt zu ihrem großen Bruder auf, der nun überlegen zu grinsen begann.
„Ich werde dieses scheußliche Ding ganz sicher nicht aufsetzen, das versaut mir meine Frisur!“, legte sie auch gleich los. Wenn Lara auch sonst eher ruhig und gelassen wirkte, so nahm sie ihrem Bruder gegenüber kein Blatt vor den Mund.
„Und ob du das wirst! Du kannst natürlich auch nach Hause laufen.“ Justin genoss seine Überlegenheit in vollen Zügen und Lara spielte schon mit dem Gedanken, ihm den dämlichen Helm vor die Füße zu werfen und die zwei Kilometer bis nach Hause zu Fuß zu gehen, besann sich aber dann und stieg auf.
Als Justin sich mit zufriedener Miene vor sie setzte und den Kickstarter trat, riss seine Schwester empört den Mund auf. „Du trägst auch keinen Helm.“
„Ich hatte leider nur den einen dabei.“, antwortete er vergnügt.
„Du Lügner! Ich weiß ganz genau, dass unter dem Sitz noch einer ist.“
Justin musste lachen. Es machte doch immer wieder Spaß, seine Schwester auf die Palme zu bringen.
„Nur, weil du älter bist, hältst du dich für etwas Besseres!“
Er rollte die Augen genervt himmelwärts. Jetzt also wieder diese Tour. Manchmal konnten Laras Zickerein echt an den Nerven zehren. „Drei Jahre sind drei Jahre.“, antwortete er darum nur und überließ seine Schwester den Rest der Fahrt ihren Gedanken.
Laras Wut war schon bald wieder verraucht. Sie schloss die Augen, um die schnelle Fahrt zu genießen. Die Spitzen ihres weizenblonden Haares flatterten im Wind. Sie wusste, dass sie manchmal nicht ganz einfach war, aber mit zwei großen Brüdern daheim musste man sich als Sechzehnjährige einfach durchzusetzen wissen... oder es zumindest versuchen. Sie wünschte sich, auch einmal in der Schule so aus sich herausgehen zu können, aber für die meisten blieb sie eben nur Justins kleine Schwester. Natürlich hatte sie Freundinnen, aber für die war sie sofort abgeschrieben, wenn irgendwo ihr großer Bruder auftauchte. Die Jungs trauten sich erst gar nicht an sie heran, weil sie Angst hatten, sich Justin damit zum Feind zu machen.
Sie seufzte. Sie hielt ohnehin nichts von all den kindischen Jungs in ihrer Klasse. Sie träumte von jemand ganz anderem und Justin würde es sicher nicht gefallen, wenn er wüsste, von wem.
Jonas Hill war so gar nicht wie ihr Bruder. Sie kannte überhaupt niemanden, der so war wie er. Er musste nicht irgendeine Rolle spielen, ihm war egal, ob die anderen ihn nun mochten oder nicht. Manchmal hatte Lara das Gefühl, Jonas würde gar nichts anderes wahrnehmen außer seiner Musik und Jillian.
Bei dem Gedanken an das Mädchen, das sicher genauso beliebt wie Justin war, verfinsterte sich Laras Miene. Sie hasste sie aus vollem Herzen. Warum gerade sie Jonas’ beste Freundin war, ist ihr nie ganz klar geworden. In diesem Punkt war sie sich mit ihrem Bruder einig.
„Hey, träumst du? Runter mit dir!“ Justins Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Verdutzt nahm sie wahr, dass sie schon zu Hause waren. Auch gut, jetzt hatte sie wenigstens etwas Zeit für sich. Sie stieg ab und ging schnurstracks ins Haus.
Justin sah seiner Schwester nach und schüttelte den Kopf, als die Haustür krachend hinter ihr ins Schloss fiel. In letzter Zeit stimmte irgendetwas nicht mit Lara und langsam begann er, sich Sorgen um sie zu machen.
Hektisch nestelte Jillian an ihrem Schlüsselbund herum, um so schnell wie möglich ins Haus zu kommen. Denn von drinnen war laut und deutlich das Klingeln des Telefons zu vernehmen, das durch das ganze Haus hallte. Das musste Tim sein! Sie hatte nicht mehr mit ihrem Bruder gesprochen, seit er letzte Woche nach New York geflogen ist. Natürlich hatte er ihr, wie versprochen, jeden Tag eine Mail geschickt, aber was sie jetzt dringend brauchte war brüderlicher Beistand.
Endlich hatte sie den richtigen Schlüssel gefunden. Sie stieß die Tür auf und auf dem Weg zum Telefon ging noch eine Vase zu Bruch. Schnell hob sie den Hörer ab und sprach völlig außer Atem hinein. „Ja? Hallo?“
„Jill? Stör ich grad?“
Erleichtert darüber, endlich wieder Tims Stimme zu hören, ließ sie sich einfach auf den Boden fallen und lachte befreit auf. „Du störst nie! Ich bin nur gerade erst aus der Schule nach Hause gekommen.“
„Ich werde mit dieser verdammten Zeitumstellung niemals klarkommen.“, bemerkte Tim und fragte schließlich: „Wie geht es dir? Ist alles okay?“
„Natürlich ist es das, mach dir keine Sorgen. In der Schule werde ich gut abgelenkt und es kommt auch ziemlich selten vor, dass ich hier allein bin. Meistens bin ich mit Selina oder Jonas unterwegs. Heute wollte sich Justin mit mir treffen...“
„Wer ist Justin?“ Tim war sofort ganz Ohr.
„Der kleine Bruder von Stefan, mit dem du immer um die Häuser gezogen bist.“
„Oh, der Justin. Jill, ich finde, das ist gar keine gute Idee.“, antwortete Tim mit besorgter Stimme.
Jillian glaubte, sich verhört zu haben. Sie hatte so auf ihren Bruder gebaut. „Jetzt fang du nicht auch noch damit an!“, stöhnte sie frustriert. „Erst Jonas, dann Selina und jetzt fällt mir auch noch mein eigener Bruder in den Rücken. Was habt ihr bloß gegen Justin?“
„Ich habe nichts gegen Justin.“, widersprach Tim ruhig. „Im Gegenteil, ich mag ihn. Ich mag es nur nicht, wie er mit den Mädchen umgeht. So jemand ist ganz bestimmt nichts für dich, Jill. Stürz dich jetzt nicht Hals über Kopf in irgendetwas hinein!“
„Das tue ich doch gar nicht!“, widersprach sie erschöpft. Es fiel ihr jedes Mal so schwer, sich gegen diejenigen zu stellen, die sie liebte. „Ich lasse mir Zeit, Tim. Du hättest ihn vorhin erleben müssen. Er hat mir ganz lieb seine Hilfe angeboten und mich in den Arm genommen. Er war mir nicht einmal böse, dass ich schon wieder ein Date absagen musste.“
Tim seufzte. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Es war eine Sache, sich vor Ort um die Vorbereitungen der Beerdigung seiner eigenen Eltern zu kümmern. Eine ganz andere Sache war es, seiner meilenweit entfernten Schwester eine Beziehung mit einem Jungen auszureden, den er selbst so gern mochte.
„Okay, lassen wir das. Das ist ganz allein deine Entscheidung.“, ergab er sich schließlich.
Jillian war erleichtert. „Danke. Wieso hast du nicht schon eher angerufen?“
Schuldgefühle wallten in ihm auf. „Es ist nicht leicht, hier jemanden zu finden, der mich nach Deutschland telefonieren lässt. Es ist ja auch nicht gerade billig.“
Sie nickte verständnisvoll. „Das sollte auch kein Vorwurf sein. Von wo rufst du jetzt an?“
Er hatte schon befürchtet, dass diese Frage kommen würde, jetzt würde er sich auch dem Rest stellen müssen. „Von einer jungen Frau, die ich auf dem Flug hierher kennen gelernt habe.“
„Oh, wirklich?“ Jillian war hellauf begeistert. „Wie heißt sie denn? Wie sieht sie aus? Wie ist sie so?“
„Frag mich nicht so aus!“, entgegnete Tim genervt. Als ob es nicht schlimm genug wäre, dass er Hannah bitten musste, seine Schwester anrufen zu können, weil er selbst nicht genug Geld dafür hatte, jetzt wurde er auch noch verhört. „Sie heißt Hannah und ist Schriftstellerin. Früher hat sie auch in Deutschland gelebt.“
„Sie ist Schriftstellerin? Das klingt ja spannend! Jetzt lass dir nicht alles einzeln aus der Nase ziehen!“ Jillians Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
„Jill, sie sitzt grad neben mir und lacht über deine Neugier.“, erwiderte Tim peinlich berührt.
Jillian wurde rot. „Du hast den Lautsprecher an?“ Jetzt war ein helles und warmes Lachen zu hören. Jillian lächelte und sagte schließlich: „Hi Hannah! Ich mag dich jetzt schon!“
„Sie sagt, sie mag dich auch.“, erwiderte Tim lächelnd.
Jillian bemerkte, dass ihm die ganze Angelegenheit peinlich war und so sprang sie auf ein anderes Thema um: „Wann kommst du morgen?“
„Es ist schon alles gepackt und reisefertig. Ich will sehen, dass ich noch einen Flug für diese Nacht bekomme. Falls nicht, nehme ich den Frühflug morgen um fünf Uhr, dann bin ich gegen Abend bei dir.“
In diesem Augenblick öffnete sich bei Jillian die Haustür. „Du, warte mal kurz. Hier kommt grad jemand.“
Jonas wollte gerade klingeln, als Jillian ihm schon die Tür öffnete. Als er sah, dass sie telefonierte, wandte er sich lächelnd ab, aber sie hielt ihn zurück.
„Ich bin gleich fertig.“, flüsterte sie ihm zu.
Am anderen Ende der Leitung lauschten Hannah und Tim, gespannt darauf, wer Jillians unerwarteter Gast sein konnte.
„Justin.“, flüsterte Tim Hannah zu. „Verdammt! Ich hoffe, er lässt die Finger von meiner Schwester.“
Hannah schüttelte den Kopf. „Das ist sicher nur Jonas.“
Tim winkte ab. „Das ist eindeutig Justin. Sie wollte sich heute ohnehin mit ihm treffen.“
„Sie hat nicht gesagt, dass sie es tut.“, erwiderte Hannah. Jetzt wurden die beiden in ihren Spekulationen unterbrochen.
„Sorry, Jonny ist gerade gekommen.“, sagte Jillian atemlos.
„Eins zu null für mich.“, wisperte Hannah kichernd und Tim lächelte erleichtert. „Kannst du ihn mir bitte kurz geben?“, bat er dann.
„Was? Warum das denn?“ Jillian war verwirrt. Ihr Bruder und Jonas waren noch nie die besten Freunde gewesen und in letzter Zeit hatte sich ihr Verhältnis zueinander nicht gerade gebessert.
Tim hatte befürchtet, dass sie nachfragen würde und jetzt musste er lügen. „Wegen der Beerdigung. Ich muss noch ein, zwei Dinge wissen.“
Bei der Erwähnung des Begräbnisses hatte Jillian sofort wieder einen dicken Kloß im Hals. Ohne weitere Fragen reichte sie das Telefon an Jonas weiter und ging ins Badezimmer. Mit ungutem Gefühl nahm Jonas den Hörer entgegen. „Ja?“
„Jonas, hi. Ist Jill noch bei dir?“, fragte Tim sofort.
Jonas dämpfte sofort die Stimme. „Nein, sie ist im Bad. Ich glaube, ich höre sie weinen.“
Tim seufzte und Hannah legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Jillian tat ihr Leid und gleichzeitig sie sie für die Stärke, die sie aufbrachte. Genauso gut wusste sie aber auch, wie schwer Tim es die ganze letzte Woche gehabt hatte. Sie hatten sich die letzten Tage oft getroffen. Ihr tat es gut, jemanden bei sich zu haben, der sie an ihre alte Heimat erinnerte und ihm tat es gut, mal an etwas anderes denken zu können, als an die Beerdigung seiner Eltern.
Tims Stimme riss Hannah aus ihren Gedanken. „Jonas, ich hab mir Sorgen gemacht. Ich kann sie von hier aus so schlecht erreichen. Über die Mails, die sie mir schickt, bekomme ich auch kaum mit, wie es ihr geht. Bitte sei ehrlich zu mir. Ist etwas passiert seit ich weg war?“
Jonas dachte an Jillians Zusammenbruch und biss sich auf die Lippen. Er entschloss sich, so wahrheitsgemäß wie möglich zu antworten und sagte: „Die ersten Tage ging es ihr sehr schlecht, aber seit Montag wurde es täglich besser. Die Schule und der Alltag tun ihr gut.“
Tim nickte beruhigt, ehe er die Frage stellte, die ihm am meisten auf dem Herzen lag. „Was ist zwischen ihr und Justin?“
Jonas seufzte und die Antwort, die er Tim jetzt geben musste, gefiel ihm selbst nicht. „Ich weiß es nicht. Sie behauptet, alles ruhig anzugehen und unter Kontrolle zu haben, aber wenn ich sie dann mit ihm sehe, bin ich nicht mehr so überzeugt davon, dass sie wirklich noch weiß, was sie tut. Justin ist nichts für sie, Tim. Und jetzt erstrecht nicht!“
„Ich weiß.“, antwortete Tim besorgt. „Aber es ist ihre Entscheidung.“
„Ich bin für sie da.“, versicherte Jonas wahrheitsgemäß und fragte dann: „Warum genau wolltest du mit mir sprechen?“
Jetzt fiel es Tim wieder ein und er sagte: „Ich weiß noch nicht, ob ich heute Abend noch einen Flieger bekomme. Ich möchte nicht, dass Jillian so kurz vor der Beerdigung allein ist. Ich weiß nicht, wie stark sie ist...“
„Ich hatte nicht vor, sie jetzt allein zu lassen.“, unterbrach Jonas Jillians besorgten Bruder.
Tim beruhigte sich allmählich wieder und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Früher hatte es nur seine Kumpels, Partys und den Traum von New York gegeben. Jetzt gab es so vieles, mit dem er fertig werden musste. An manchen Tagen drohte die Last der Verantwortung, die auf ihm ruhte, ihn zu erdrücken. Er war froh, Hannah und seine zwei Mitbewohner zu haben, die ihm mit Rat und Tat zur Seite standen, aber am dankbarsten war er Jonas, auf den er sich in Sachen Jillian blind verlassen konnte. „Okay, Jonny. Danke für alles.“
„Nichts zu danken.“ Jonas bemühte sich um einen lockeren Ton. Er merkte, wie abgehetzt und fertig Tim war. „Wir sehen uns am Sonntag.“
Tim war erleichtert, nicht fragen zu müssen. „Du kommst zu der Beerdigung? Gut. Bis dann.“
Als Jonas aufgelegt hatte, fragte er sich, wie Tim auch nur in Betracht ziehen konnte, dass er nicht kam. Er schüttelte den Kopf. Ihm graute vor diesem Tag, aber danach, so hoffte er, würde alles leichter werden.
Er trat vor die Badezimmertür und klopfte an. Als er keine Antwort bekam, machte er einfach die Tür auf und ging hinein. Jillian saß auf dem Rand der Badewanne und versuchte vergeblich, den nicht enden wollenden Tränenfluss zu stoppen. Als sie Jonas bemerkte, lächelte sie schief. „Oh man! Ich bin ein Wrack, Jonny. Was will ich denn erst zur Beerdigung machen? Ich steh das nicht durch.“
Er setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Doch, das wirst du. Das werden wir zusammen. Du bist so stark. Die letzten Tage hast du super hinbekommen! Und am Sonntag hast du Tim und mich und noch all deine anderen Verwandten.“
Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie daran dachte. „Jonny... diese Blicke, die sie mir zuwerfen werden. Das Geflüster, wie schlimm doch alles ist... am liebsten würde ich einfach abhauen und nie mehr wieder kommen. Ich hab so Angst vor diesem Tag.“
Jonas erschrak. „Abhauen ist etwas für Feiglinge. Du bist nicht feige, Jillian. Es wird alles viel leichter sein, wenn du deine Eltern verabschiedet hast, glaub mir. Dann weißt du immer, wo du sie finden kannst.“
Jillian wischte sich die Augen trocken und lächelte matt. „Du hast wie immer Recht.“