Nach meinem eher weniger erfolgreichen Zusammentreffen mit Hotdog wende ich mich dem Weg weiter bergab zu. Ich rätsele immer noch, wie ich zur Wikiothek kommen soll. Ob ich einfach mein Glück mit den zahllosen Pfaden der Schimmerwelt versuchen soll? Bin ich wirklich schon so verzweifelt?
Plötzlich rutschen mir die Pfoten unter dem Körper weg und ich lande mit einem lauten Platscher in einer riesigen Schlammpfütze. Mit empörtem Keckern huscht ein Eichhörnchen auf einen nahen Baum. Ich, unsanft aus meinen Gedanken gerissen, rappele mich auf dem rutschigen Boden auf. Und lande direkt wieder platt auf dem Bauch. Meine Pfoten finden einfach keinen Halt.
Ich sehe mich um. Irgendwie bin ich gedankenverloren direkt in eine hellbraune Matschgrube gestolpert. Mal etwas anderes, als im Fettnäpfchen zu landen, aber immer noch sehr unangenehm. Ich robbe nicht besonders elegant vorwärts und rolle mich dann seitlich zum Grubenrand. Als ich endlich auf festen Boden klettere, sehe ich entsprechend aus. Der Matsch ist sogar schon angetrocknet, wie ich nach ausgiebigem Schütteln enttäuscht feststellen muss.
Müsste hier in der Nähe nicht ein Teich sein, oder eine Wasserquelle? Irgendwie muss das Schlammloch doch entstanden sein! Ich trotte los und höre tatsächlich bald ein feines Plätschern.
Wasser! Glück gehabt! Ich folge dem Geräusch und treffe auf hohes (und an den Rändern schmerzhaft scharfes) Schilfgras. Doch mich beherrscht nur der Gedanke, endlich mein Fell sauber zu bekommen. Ich fühle mich schon dreimal so schwer wie normal, das kann so nicht weitergehen.
Endlich blitzt das klare, helle Wasser vor mir auf und ich eile darauf zu.
„Halt, stopp!“, ertönt eine weibliche Stimme. „Was soll das denn werden?!“
Die Stimme klingt menschlich. Ich erstarre zu einer tropfenden Matschstatue.
„Weg von meinem See, husch!“ Eine schlanke, in Wasserperlen und Schaum gekleidete Menschenfrau baut sich vor mir auf und stützt die Hände in die Hüften. Die bedrohliche Geste verfehlt ihre Wirkung. Sie sieht selbst für Wolfsaugen wunderbar schön und nett aus. Trotzdem spitze ich nur vorsichtig die Ohren und bewege mich ansonsten nicht eine Haarbreite.
Meine eine Pfote schwebt schon über dem klaren Wasser. Ein brauner Tropfen fällt hinein und löst sich auf …
„Du verunreinigst meinen See!“, sagt das Menschenwesen etwas sanfter.
Ich ziehe die Pfote zurück und sehe sie mit schief gelegtem Kopf an. „Was bist du?“
„Danke! Das ist nett von dir. Ich brauche das Gewässer für einen Zauber. Er ist fast fertig, doch so lange dürfen da keine Fremdkörper rein.“
Offenbar kann sie mich nicht hören. Trotzdem stelle ich meine Frage noch einmal: „Was bist du?“
Inzwischen vermute ich, dass sie eine Nymphe ist.
Sie sieht mich an. „Aber natürlich kannst du helfen, kleiner Freund.“
Ähh, was?!
„Ich brauche noch ein wenig Fingerhut, dann ist der Reisezauber fertig – und ich kann endlich zurück in meine Heimat.“ Sie schaut mir bittend in die Augen.
Überrumpelt starre ich zurück.
Ehe ich mich versehe, befinde ich mich auf der Suche nach Fingerhut für die Dame. Aber ich freunde mich mit der Situation an. Nymphen stammen doch aus Griechenland, oder nicht? Wenn sie in ihre Heimat reisen will, könnte sie mich doch mitnehmen. Dann wäre ich deutlich näher an der Wikiothek. Aber das muss ich meiner neuen Bekanntschaft irgendwie mitteilen.
Verflixt. Ich kann zwar jetzt die Menschen verstehen, aber die Menschen mich nicht! Das ist mal wieder typisch mein Glück.
Ich brauche nicht lange, um die charakteristischen roten Blüten des Fingerhuts zu entdecken. Hier eröffnet sich mir ein neues Problem: Ist die Pflanze nicht giftig? Ich versuche, sie vorsichtig am Stiel zu packen und aus der Erde zu ziehen, ohne Stängel oder Blüten mit den Zähnen zu verletzen. Da wünscht man sich doch glatt einen evolutionär überlegenen Daumen! Grr!
Ich schaffe es schließlich, die Stängel zu packen, ohne allzuviel Fingerhut zu fressen. Vorsichtig trage ich meine Beute zurück zu dem Tümpel. Die Nymphe begrüßt mich begeistert.
„Das ist wirklich ausgesprochen lieb von dir, kleiner Freund!“
Sie beugt sich herunter und tätschelt mir doch tatsächlich den Kopf. Ich bin für einen Moment zu perplex, um mich zu wehren. Schon sieht die Nymphe auf ihre schlammbraune Hand. „Ups. Das hätte ich echt nicht machen sollen.“
„Wirklich nicht“, bestätige. „Ich bin ein Wolf, kein Hund.“
Sie hört mir nicht zu, was mich nicht weiter verwundert. Während sie ihre Hand säubert und dann irgendeine komische Magie wirkt, laufe ich am Teichrand auf und ab. Was ist denn die universelle Zeichensprache für „Nimm mich bitte mit“? Wenn ich nur einen Daumen raushalten könnte! Ich winsele, hüpfte auf und ab und versuche mit allen Mitteln, die Aufmerksamkeit der Nymphe auf mich zu ziehen. Ich brauche ja nicht zu erwähnen, dass das nicht wird, aber getreu dem Motto „Show, don’t tell“ gibt es hier noch einmal die ausführliche Variante:
Marvin: *fiep, fiep, winsel, fiep*
Nymphe: „Ach, du bist aber ein drolliges Kerlchen.“
Marvin: *hüpft, winselt, dreht sich im Kreis*
Nymphe: „Tut mir leid, mein lieber Helfer, aber ich habe kein Leckerli.“
Marvin: *rollt über den Boden, versucht, das Wort ‚Griechenland‘ zu tanzen und scheitert kläglich*
Nymphe: „Hihi, du bist wohl völlig aus dem Häuschen, weil du mir helfen durftest. Es ist ja auch eine Ehre!“
Marvin: *leises, genervtes Knurren*
Nymphe: „So, ich kann jetzt aber keine Autogramme geben, ich muss wirklich dringend nach Hause. Bis später, kleiner Helfer!“
Marvin: *reißt entsetzt die Augen auf und winselt*
In diesem Moment leuchtet der Teich plötzlich wunderschön auf. Hellblau mit nur einem Hauch von Rosa an den Rändern. Ich bin ja eigentlich nicht so der Fan von Rosa, aber hier sieht das echt toll aus. Muss man mal neidlos anerkennen.
Während ich das Leuchten selbstvergessen betrachte, wird die Nymphe bereits blasser. Verflixt – sie verschwindet!
Da mir keine Zeit bleibt, nachzudenken, geschweige denn, irgendwie mit der Nymphe zu kommunizieren, springe ich einfach nach vorne und ihr direkt in die Arme.
Es ertönt ein spitzer Schrei, dann ist der Teich leer.
Für mich ist es damit noch nicht vorbei. Der Schrei hält an, während ich durch ein chaotisches Nichts stürze, in dem es kein Oben oder Unten gibt. Ein echt unangenehmes Gefühl, das viel zu lange anhält.
Dann trifft mich harter Boden, zuerst in den Rücken, dann die Seite, dann den Bauch, dann die andere Seite. Ich rolle über Festland. Endlich! Ich könnte es abknutschen.
Bevor ein weiterer spitzer Schrei meine Trommelfelle zerreißt. Ich sehe auf, vor mir steht die Nymphe und rauft sich die Haare.
„WAS HAST DU GETAN?!“, keift sie mich an. „WIR SIND … WO SIND WIR GELANDET, GRIECHENLAND? DU IDIOT, DU HAST DEN ZAUBER ZERSTÖRT! MEINE GANZE KALIBRIERUNG ...“
Sie bricht urplötzlich ab und sinkt mit einem kraftlosen Schluchzen auf den Boden. „Ich wollte nach Mexico! Meine Familie endlich wiedersehen! Du hast … alles vernichtet, Wolf. Ich … ich verfluche dich! Ich werde Rache nehmen, das kannst du mir glauben, ich werde …“
Sie sieht mich an und mein Fell sträubt sich.
„Marvin!“, spricht sie mit bedrohlicher Stimme. „Marvin Schlammbraunwolf, ich werde nicht ruhen, bis diese Tat von dir gesühnt ist!“
Ich drehe mich um und ergreife die Flucht. Hilfe, die Frau ist doch nicht mehr ganz richtig im Kopf! Zum Glück hat sie offenbar meinen Namen etwas falsch aufgefasst … Woher wusste sie eigentlich, dass ich Marvin heiße?
Ich sprinte durch die engen Gässchen eines Dorfes auf einem Berghang und dann hinein in ein kleines Wäldchen voller Zypressen. Langsam beruhigt sich mein Herzschlag. Die Nymphe ist weit zurückgeblieben. Ich fühle mich sicher und sehe mich um. Ich bin in ziemlich warmen Gefilden angekommen. Was sagte sie noch gleich? Griechenland? Das heißt … ich bin so gut wie am Ziel!
Glücklich hebe ich die Nase in die Luft. Und ich scheine Glück zu haben, denn der Wind trägt mir einen vertrauten Duft zu. Die Wikiothek ist ganz in der Nähe! Ich hab es geschafft!
Also … den ersten Teil meiner Reise. Der ja nur daraus bestand, überhaupt zu erfahren, was dieses verflixte Mondkalb ist.
Meine Freude fällt schlagartig in sich zusammen.