Steine im Glas
Jesse
Als er aufwacht ist das Erste was er wahrnimmt ein Gewicht, das sich quer über seinem Körper erstreckt. Er blinzelt einmal, zweimal gegen die hellen Sonnenstrahlen an, bevor ihm wieder einfällt, wo er sich befindet. Und bevor ihm klar wird, wer sich da auf ihm befindet. Jesse hebt vorsichtig den Kopf. Zum einen, um Xander nicht zu wecken, zum anderen weil der Jüngere so auf ihm liegt – wie hat er das bitte hinbekommen? – das er sich gar nicht wirklich bewegen kann. Er könnte es nicht einmal dann, wenn er es wollte. Aber gerade hat er eigentlich auch nicht den Drang dazu aufzustehen. Im Gegenteil. Eigentlich ist die Position sogar gemütlich. Xanders Gewicht auf seinem Körper ist fast schon angenehm schwer, vielleicht weil der andere nicht wirklich schwer ist und unwillkürlich fährt seine Hand durch das kohlrabenschwarze Haar des Jüngeren. Der murmelt irgendetwas undefinierbares, sein Kopf ruht aber weiterhin auf Jesses Brust. Automatisch lässt sich der Fünfundzwanzigjährige zurück sinken. Warum soll er eigentlich aufstehen? Er kann durchaus noch eine Runde Schlaf gebrauchen und Xander schläft sowieso noch tief und fest. Außerdem findet er, dass er das unliebsame Gespräch das er mit Xander in naher Zukunft unweigerlich noch führen muss – schließlich können sie nicht ewig hier in Wisconsin bleiben – ruhig noch ein wenig aufschieben kann. Zumindest so lange, bis sie beide richtig ausgeschlafen sind. Das ist dann auch sicher dem Gesprächsverlauf zuträglich. So hofft er zumindest.
Aufgeweckt wird er, durch ein nicht gerade leises Poltern. Sofort sitzt Jesse aufrecht im Bett und es braucht erst einmal einen Augenblick, bis er die Ursache für das laute Geräusch lokalisiert hat.
„Was zur Hölle machst du denn da auf dem Fußboden?“
„Ein paar Yoga-Übungen, sieht man das nicht?“, kommt es ziemlich trotzig zurück.
„Was?“
„Das war ein Witz.“
Jesse kommt nicht umhin abermals zu bemerken, dass die meisten von Xanders Antworten auf irgendwelche Fragen sarkastischer Natur zu scheinen sein. Er kann ihm aber auch nicht so recht einen Vorwurf daraus machen. Er hat das Gefühl, dass Xander es leid ist, auf offensichtliche Fragen eine Antwort zu geben. Sein Sarkasmus ist jedenfalls seine Art von Selbstschutz. Als ob er dadurch erreichen könnte, weiteren Fragen zu entgehen. Und Jesse kann sich sehr gut vorstellen, dass das auf Dauer wirklich gelingt.
Schließlich ist Xander in seiner Art nicht besonders umgänglich. Er kann sich ja eigentlich selbst nicht erklären, wieso sein Verhalten ihn noch nicht wirklich abgeschreckt hat. Er kann sich nicht helfen, aber bei dem Jüngeren stört ihn diese Art von Benehmen eigentlich relativ wenig. So ist er eben und irgendwie hat Jesse sich bereits daran gewöhnt. Streng genommen kann er sich gar nicht vorstellen, dass sie schon in ein paar Stunden wieder in New York sein werden. Und was ist, wenn sie zurück sind? Jesse verspürt eine jähe Anwandlung von Angst in sich aufkeimen. Aus irgendeinem Grund will er nicht, dass Xander einfach wieder aus seinem Leben verschwindet und er befürchtet, dass er das tun könnte, wenn er heute Mittag hört, was Jesse sich als nächste Schritte vorgestellt hat. Denn er hat die vage Vermutung, dass ihm diese Pläne nicht besonders gut gefallen werden.
Noch bevor er weiter darüber nachdenken könnte, wird er von Xanders rauer Stimme aus seinen Gedanken gerissen.
„Jesse? Alles in Ordnung? Ich …, das war nicht witzig. Tut mir leid. Leider rede ich manchmal, bevor ich nachdenke.“
Er sitzt immer noch auf dem kalten Parkettboden. Nun im Schneidersitz. Unbeholfen fährt er sich mit der rechten Hand durch die wirren Haare, wobei ihm das viel zu große T-Shirt leicht von der schmalen – vielleicht schon knochigen - Schulter rutscht. Nicht verwunderlich, wo ihm das T-Shirt doch viel zu groß ist. Allein die Ärmel reichen ihm bis zu den Armbeugen. Den Kopf leicht nach oben geneigt, schaut er Jesse direkt in die Augen. Der Blick alleine, wirkt wie eine Entschuldigung.
„Was? Nein, schon in Ordnung. Ich hab mich nicht angegriffen gefühlt! Ich war nur in Gedanken. Lass uns frühstücken!“
Ein, wenig galanter, Themenwechsel.
Xanders Blick sagt deutlich aus, dass er das sehr wohl gemerkt hat, aber er hält sich mit jeglichen Kommentaren zurück. Nickt nur und steht auf. Aber er geht nicht vor. Eine Eigenschaft die Jesse unter normalen Umständen als höfflich interpretieren würde, bei Xander drückt sie jedoch Unsicherheit aus. Also geht er vor. Er weiß, dass der Jüngere ihm nachkommen wird. Und so ist es auch. In der Küche bleibt er wieder einmal im Türrahmen stehen. Am Anfang hat Jesse geglaubt, Xander wäre kühl und unnahbar. Und selbstsicher. Heute weiß er, was für ein Unfug das ist. Xanders Sarkasmus ist alles andere als ein Zeichen von Selbstsicherheit und kühl und unnahbar wirkt der Jüngere auch nur, weil er tatsächlich sehr distanziert ist. Aber hingegen Jesses erster Vermutung, dass ihm einfach alles egal sei und er über den Dingen stehe, liegt es daran, dass Xander wohl schlichtweg der Meinung ist, er sei alleine besser dran. Lieber auf sich alleine gestellt auf der Straße, als zusammen mit seiner Familie Zuhause. Wobei von Familie bei Xander wohl kaum noch die Rede gewesen sein kann, wie er seit gestern Nacht weiß. Gestern Nacht ist ihm auch klar geworden, dass er sein Leben nicht einmal im Ansatz mit Xanders vergleichen kann. Was Xander in den letzten Jahren durchgemacht hat, wird er sich niemals auch nur vorstellen können. Er kann es vielleicht versuchen, aber seine Vorstellung wird wohl nie an die Realität heran kommen. Ihr nie gerecht werden.
Jesse weiß noch immer nicht, wie er mit der Flut von Informationen, die er nun kennt, umgehen soll. Wenn er an das denkt, was Xander ihm gestern anvertraut hat und dann an die Narben denkt, die ihm zuvor schon an seinem Körper aufgefallen sind, dann wird ihm regelrecht schlecht. Viel schlechter wird ihm allerdings noch bei dem Gedanken an die Narben, die man eben nicht sieht. Die, die sich auf Xanders Seele befinden und die ebenso wenig verschwinden werden, wie es die auf seinem Rücken und Armen jemals tun werden.
Zudem wird Jesse in den nächsten Minuten, die sie schweigend am Küchentisch sitzen klar, dass Xander beinahe wieder so verschlossen ist, wie bei ihrer zweiten Begegnung. Damals, nach dem Club Besuch mit Cassie. Es kommt ihm vor, als sei das eine Ewigkeit her, dabei sind es nicht einmal zwei Monate. Und flüchtig denkt er an seine Freundin, die gerade dabei sein wird ihren Tag im Wellnesshotel zu genießen und scheinbar keinen Gedanken an ihn verschwendet. Oder tut er ihr unrecht? Hätte er sie anrufen sollen? Vermutlich schon. Schließlich gehören zu einer Beziehung immer zwei Leute. Aber - und vielleicht ist es das, was ihn eigentlich beunruhigen sollte - er hat gerade einfach andere Dinge im Kopf. Dinge, die ihm wichtiger erscheinen, als seine eigene Verlobung. Also weist der Fingerzeig vermutlich doch auf ihn.
Als er aufschaut mustern ihn große braune Augen. Xander ist kein Mensch vieler Worte. Das hat Jesse längst begriffen. Aber es würde die Sache doch leichter machen, wenn er zumindest ab und an das ein oder andere Wort verlieren würde. Stattdessen beißt der Jüngere unsicher auf seiner Lippe und wendet den Blick wieder ab. Jesse kann nicht anders als aufzustöhnen. Und das sorgt dafür, dass Xander wieder schuldbewusst aufblickt und augenblicklich beginnt unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Jesse reißt sich zusammen. Gott, er hat sicher nicht vor Xander in Watte zu packen, schließlich hat der schwarzhaarige sich seine Drogensucht selbst zuzuschreiben, da kann kein anderer etwas für. Aber trotzdem hat er eine ganze Menge Scheiße durchgemacht, die er gestern Nacht vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben ein bisschen aufgearbeitet hat und direkt davor hat er einen ziemlich heftigen Entzug durch gemacht der sicher noch nicht ganz überwunden ist und nicht zuletzt hat er sich irgendwo auf halber Strecke auch noch eine Grippe eingefangen, deren Fieber ihm zusätzlich zu schaffen macht. Also um ein Resümee zu ziehen: Es geht ihm wirklich beschissen. Da sollte man dann eventuell auch mal ein bisschen Nachsichtig sein und ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er gerade nicht sonderliche Gesprächig ist. Deshalb sagt er:
„Tut mir leid, ich war schon wieder in Gedanken. Lass uns jetzt einfach wirklich frühstücken, ja? Und danach solltest du dich vielleicht noch mal hinlegen. Schließlich hast du gestern Nacht nicht besonders viel Schlaf bekommen.“
Xander nickt. Macht den Mund auf, als wollte er etwas sagen, nur um ihn gleich danach wieder zu schließen. Offensichtlich hat er es sich anders überlegt und so herrscht verhaltenes Schweigen. Jesse merkt selbst, dass auch er angespannt ist, aber er kann nichts dagegen tun. Auf einmal hat er wieder das Gefühl nicht zu wissen, was er sagen darf und was nicht.
Nach dem Essen zeigt Xander wieder erste Anzeichen von Erschöpfung und Jesse muss zugeben, dass der Achtzehnjährige jetzt schon viel besser durchhält, als er es ihm jemals zugetraut hätte. Er hat auch heute Morgen noch nicht sonderlich viel gegessen, was wenig verwunderlich ist und es fällt ihm auch sichtlich schwer, sich auf den Beinen zu halten. Aber immerhin steht er überhaupt und das am Tag vier des Entzugs, der also eigentlich weiterhin im vollen Gange ist. Trotzdem tut Xander sicher gut daran, sich noch einmal hinzulegen, als Jesse im Wohnzimmer Stellung bezieht, um abermals ein wenig für die Uni zu tun. Und vielleicht auch, um sich ein weiteres Mal nach dem Jugendheim zu erkundigen, dass er bereits vor ein paar Tagen ausfindig gemacht hat. Allerdings sieht er keinen Grund dazu, dass Xander auf die Nase zu binden. Vorerst zumindest nicht.
Gut eine Stunde später, späht er vorsichtig ins Gästeschlafzimmer. Doch dort liegt niemand. Einen Moment kommt in Jesse Panik auf und er befürchtet, Xander könnte sich klammheimlich aus den Staub gemacht haben, während er im Wohnzimmer gearbeitet hat, doch ein Blick in sein eigenes Schlafzimmer belehrt ihn eines Besseren. Der Jüngere hat sich in Jesses Decke eingewickelt und schläft tief und fest.
Er kann sehen, dass Xander gleichmäßig atmet. Das blasse Gesicht ist ihm zugewandt. Jesse tritt unvermittelt einen Schritt näher an das Bett heran. Als er Xander vorsichtig ein paar dunkle Haarsträhnen aus dem Gesicht schiebt, um eine Hand auf die noch immer erhitzte Stirn zu legen – Berufskrankheit – kommt er nicht umhin, zu bemerken, wie verdammt hübsch Xander ist. Obwohl seine Haut so unnatürlich blass ist, dass sie dem weißen Laken auf dem er liegt Konkurrenz macht. Obgleich die spröden Lippen noch vom Fieber zeugen, ebenso wie die unnatürlich geröteten Wangen. Und obschon das Gesicht eingefallen wirkt und auf widerfahrene, schwere Zeiten hindeutet. Er ist hübsch und daran ändert nicht einmal sein schlechter körperlicher Zustand etwas. Diese Gewissheit ist für Jesse fast wie ein Schlag ins Gesicht. Nicht, weil er noch nie festgestellt hätte, dass andere Personen gut aussehend sind. Oder besser gesagt andere Männer. Sowie Jorell, dem wohl niemand sein gutes Aussehen absprechen würde. Sondern, weil er Xander auf eine Art hübsch findet, wie er das sonst nur bei Cassie tut.
Er zieht die Hand, die bis gerade eben noch auf Xanders erhitzter Stirn gelegen hat so schnell fort, als ob er sich verbrannt hätte. Und vielleicht ist es genau diese ruckartige Bewegung, die Xander flatternd seine Augen öffnen lässt. Die braunen Augen die Jesse verschlafen anblicken glänzen vom Fieber und ihm ist sofort klar, dass der Jüngere nicht ganz bei sich ist. Er driftet sofort wieder in den Schlaf, doch als Jesse sich erheben will, greift Xander nach seinem Handgelenk. Der Druck ist nicht besonders stark und wenn Jesse wollte, könnte er sich ohne Probleme davon lösen, doch er verweilt für den Moment.
„Bleib.“, Xanders Bitte ist kaum mehr als ein flüstern. Doch im stillen Schlafzimmer hört Jesse sie überdeutlich und er bleibt. Bleibt, bis Xander wirklich wieder eingeschlafen ist. Hält so lange seine Hand. Dann, als Xander wieder gleichmäßig atmet, steht er leise von der Bettkante auf und schließt vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer.
Dann telefoniert er. Mit Jorell. Denn Jorell hat seine Facharbeit im Politikseminar zum Thema: „Soziale Einrichtungen und staatliche Förderungen – Kontroverse in der Politik“ geschrieben. Damals hat er erzählt, dass er sich deshalb mit einem bekannten aus seiner Schulzeit in Frankreich zusammengesetzt hat, der mittlerweile als Sozialarbeiter in einem Jugendheim in New York arbeitet. Einer Einrichtung für Jugendliche die von der Straße kommen und wieder sozial integriert werden sollen. In diesem Zusammenhang haben sie damals auch schon einmal über das Thema Drogen diskutiert, weil die Einrichtung unter anderem auch ehemalige Drogenanhängige Jugendliche aufnimmt und Jorells Freund Mike damals betont hat, wie schwer gerade die Arbeit mit dieser Art von Klientel ist. Jesse will Mikes Nummer, weil er gerne eine zweite Meinung hören würde, was Xanders Erfolgsaussichten in einer Therapie betreffen, zudem erhofft er sich – falls er noch immer in der Einrichtung arbeitet - jemanden an der Hand zu haben, der Xander vielleicht direkt in einem dieser Fürsorge Heime unterbringen könnte. Er weiß genau, dass Xander diese Plan alles andere als gefallen wird, aber alles andere würde zu nichts führen. Wenn Xander wirklich das Leben eines normalen Teenagers leben will – oder zumindest das, was davon jetzt noch übrig bleibt – dann muss er erst einmal wieder einen geregelten Tagesablauf bekommen. Und eine Therapie. Die vor allem. Denn körperlich clean zu sein, bedeutet ja noch lange nicht, wirklich clean zu sein. Das Freizeichen ertönt nach nur wenigen Sekunden.
„Jesse! Vous avez déjà pas signalé que vous* ... Alles klar bei dir?“
„Hey, ja. Sorry. War ‘n bisschen stressig die letzten Tage.“
Jesse kommt gerade der Gedanke, dass er sich in letzter Zeit merkwürdig häufig entschuldigt, doch er schiebt ihn schnell beiseite.
„Ich fürchte, ich muss dich um einen Gefallen bitten, Jo.“
Leises Lachen dringt durch die Leitung an sein Ohr und er kann Jorell geradezu Grinsen hören, als dieser antwortet:
„Une faveur?² Was für einen Gefallen? Mein Freund, es scheint, du hast in letzter Zeit so einige Geheimnisse vor mir.“
Jos Ton ist heiter. Spaßend. Doch Jesse weiß es besser, Jorell meint diese Aussage durchaus ernst. Und er hat ja auch Recht. Jesse kann es nicht einmal abstreiten. Aber im Moment lautet die Frage: Vor wem hat er gerade keine Geheimnisse? Vor seinen Eltern. Vor Jo. Vor Cassie. Vor Xander. Das wird ihm gerade zum ersten Mal so richtig bewusst und er weiß selbst nicht so genau, was er davon halten soll. Besonders beruhigend ist es jedenfalls nicht. Aber auch diesen Gedanken schiebt er gekonnt bei Seite. Stattdessen kommt er gleich zum Punkt.
„Ich bräuchte die Telefonnummer deines alten Schulfreundes. Mike. Hast du die zufällig noch?“
„Ehm, sicher habe ich die noch. Aber, was willst du denn bitte von Mike? Oder hast du kurzfristig beschlossen, dein Studienfach zu wechseln? Ich habe dir ja immer gesagt, es gibt nichts Trockeneres als ein Medizinstudium. Na, gut außer Jura vielleicht. Und Astro-Physik. Und BWL. Okay, nichts geht über BWL.“
Jesse kann sich ein leises Lachen ebenfalls nicht verkneifen.
„Doch, ich würde sagen Ethnologie toppt das alles nochmal. Aber nein, ich habe eigentlich nicht vor, jetzt nochmal Sozialpädagogik zu studieren, ich muss dich enttäuschen. Ich halte Medizin nach wie vor für die Beste Wahl.“
„Hmm, na sowas. Dann frage ich mich aber immer noch, wozu du jetzt Mikes Nummer brauchst?“
Jesse erzählt Jorell wozu. Nun, zuerst überlegt er zugegeben noch, welch Ausrede er sich am besten Ausdenken könnte, um nicht mit der Wahrheit heraus rücken zu müssen, doch zum einen hat er Jorell ja bereits von Xander erzählt und ihm will auch nichts so recht einfallen, was zu einer Ausrede taugen würde, zum anderen weist Jo ihn ausdrücklich darauf hin, dass er jetzt ja nicht auf die Idee kommen soll, sich irgendeine Ausrede einfallen zu lassen – die würde der Franzose an Jesses Stimmenlage ohnehin erkennen – sondern es einfach mal mit der Wahrheit zu probieren.
Und die Wahrheit braucht eine Weile, bis sie erzählt ist. Denn Jesse muss mit seinen Ausführungen ein bisschen weiter ausholen. Schließlich ist Jo nicht wirklich auf den neuesten Stand, was Xander betrifft. Zwar hatte der Medizinstudent nach seinem Treffen mit Xander in diesem kleinen Café ein unbändiges Bedürfnis danach, sich jemand mitzuteilen, doch letztendlich war er sich wieder nicht sicher gewesen, ob Jorell diese Sache verstehen würde. Dabei gibt es dazu doch eigentlich gar keinen Grund. Das weiß er selbst. Jo hat sich ja auch beim ersten Mal als ein sehr guter Zuhörer entpuppt und er war ihm in diesem Gespräch als echter Freund begegnet. Wieso also, hat Jesse sich davor gescheut, Jorell mehr zu erzählen? Nun, die Antwort ist eigentlich ganz simple, wenn er einen Moment länger über die Frage nachdenkt. Es liegt daran, dass er selbst nicht ganz weiß, wo er das Geschehene der letzten Wochen einordnen soll. Wenn sein bester Freund ihm erzählt hätte, dass er irgendeinen wild fremden Menschen auf der Straße getroffen hat – oder besser gesagt in einem Supermarkt. Was ja eigentlich ganz normal klingt. Na gut. In einem stillgelegten Supermarkt. Nachts. Das klingt jetzt dann schon nicht mehr so normal – der zufällig auch noch ein Drogenproblem hat und der seine Gefühle irgendwie in Aufruhe bringt, dann hätte er ihn definitiv für verrückt erklärt. Deshalb hat er Jo also nichts mehr von Xander erzählt und weil er das jetzt nachholen muss, dauert das Gespräch schon viel länger, als Jesse es geplant hat. Noch dazu überkommt ihn zwischenzeitlich der Verdacht sein bester Freund hätte ihm den Hörer längst aufgelegt, doch anhand des schweren Atemgeräusches, dass immer wieder aus dem Hörer dringt, weiß er, dass er Jorell unrecht tut. Erst als Jesse mit seinen Ausführungen zu einem Ende kommt, und dafür muss man Jorell sicherlich loben, denn er hätte ihn genauso gut bereits mitten in seiner Erzählung unterbrechen können, beginnt eine kleine Schimpftirade am anderen Ende der Leitung. Besonders viel versteht Jesse nicht, denn er spricht ja kein Französisch. Aber so viel steht fest, einige der Wörter, die Jo in den Mund nimmt, klingen nicht besonders nett. Zwischenzeitlich scheint die Stimme seines Freundes sich zu überschlagen, so schnell spricht er und Aufregung und auch ein wenig Zorn sind deutlich heraus zu hören. Dann erfolgt ein lautstarkes Schnauben. Auch Jesse atmet einmal tief durch. Macht sich dabei mental auf eine Standpauke des Politik Studenten gefasst. Die erwartete Standpauke kommt nicht. Als Jo beginnt im sauberen englisch zu sprechen, klingt seine Stimme ruhig und beherrscht.
„Wann hattest du vor, mir das alles zu erzählen?“
Der verletzte Unterton in Jorells Stimme klingt in Jesses Ohren wie die schrille Sirene eines Krankenwagens. Er schluckt.
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich …, ich dachte ich warte auf den richtigen Moment. Aber eigentlich habe ich es nur vor mir hergeschoben, weil ich selbst nicht wusste, wie ich mit der Situation umgehen sollte. „
„Hättest du mir jetzt die Wahrheit gesagt, wenn ich dich nicht ausdrücklich darum geben hätte?“
„Vermutlich nicht.“
„Scheiße.“
„Es tut mir Leid.“
„Nein. So ein Dreck. Tu was anderes.“
„Dann bin ich dankbar, dass du mir den Hörer noch nicht aufgelegt hast.“
Er hört Jorell am anderen Ende der Leitung seufzen.
„Gott, ja Mann. Sei das. Ich meine, du krempelst gerade dein gesamtes verdammtes Leben um und sagst mir nicht einmal was davon. Das wäre für mich kein schlechter Grund sauer auf dich zu sein.“
„Jetzt mal bitte halblang. Ich krempel ja nicht gleich mein ganzes Leben um. Ich habe lediglich die Entscheidung getroffen jemanden zu helfen und deshalb nicht gleich ‘nen Zeppelin mit Werbebanner losgeschickt, damit du bestens informiert bist.“
Jorell lacht auf und erwidert, dass Jesse das offensichtlich noch glaubt, was er sagt. Aber er wird schon merken, wovon Jorell spricht. Mit Sicherheit. Dann gibt er Jesse Mikes Nummer und kurz darauf ist ihr Gespräch auch schon beendet, weil Jo zur Arbeit muss. Er legt allerdings nicht auf, ohne Jesse noch einmal im besonderen Maße darauf hinzuweisen, dass er sich gefälligst ab und an melden soll.
Von diesem Gespräch mehr als nur gefrustet, wirft Jesse sich zunächst der Länge nach auf die Couch. Gott, wann ist sein Leben zu diesem einzigen Chaos mutiert? Die Antwort ist leicht. Seitdem Xander in sein Leben getreten ist. Ihn streng genommen, voll umgerannt hat. Der Fünfundzwanzigjährige stöhnt laut, als das summen seines Handys ihn in seinem Selbstmitleid unterbricht. Es ist Cassie. Sie hat ihm eine SMS geschrieben. Seine Verlobte hat ihm geschrieben, wie sehr sie ihn vermisst und wie sie sich darauf freut ihn in nicht einmal mehr 48 Stunden endlich wieder bei sich zu haben. Dazu noch viele Grüße. Sie beendet ihre Nachricht mit: Ich liebe dich. Jesse fragt sich, was eigentlich mit ihm los ist? Was für einen Zirkus er hier eigentlich veranstaltet. Und warum sich gerade alles in ihm dagegen sträubt, die Nachricht seiner Freundin zu beantworten. Stattdessen klemmt er sich lieber hinter seinem Laptop, um noch mehr Recherche zu betreiben – bloß nicht weiter darüber nachdenken - und schnappt sich sein Handy wenig später, um zu telefonieren.
„Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast, Mike. Und auch dafür, dass du dich für mich Erkundigen wirst … ja, danke nochmal. Ciao.“
„Mit wem hast du telefoniert?“
Jesse fällt vor Schreck fast sein Handy aus der Hand. Als er sich umdreht steht Xander in der Tür zum Wohnzimmer.
„Oh, Gott. Hast du mich erschreckt.“
Xander zuckt auf diesen dezenten Hinweis nur mit den Schultern.
„Mit wem hast du telefoniert?“, wiederholt er.
„Mit einem Freund.“
„Du verabschiedest dich aber ziemlich merkwürdig von deinen Freunden.“
„Und das geht dich etwas an, weil …?“
„Du über mich gesprochen hast.“
„Hast du gelauscht?“
„Nein, ich hab‘ einfach nur nicht weg gehört.“
Xander hat die Arme verschränkt. Seine gesamte Haltung spricht von Unmut. Er wirkt abweisend. Wütend. Irgendwie Angstvoll. Jesse seufzt laut auf.
„Okay, hör zu, wie wäre es, wenn du dich vielleicht hinsetzt?“
„Ich will mich nicht setzen!“
Das ist er wieder, dieser Trotz in Xanders Stimme, der Jesse irgendwie jedes Mal wütend macht. Er ist nicht dazu bereit nach Xanders Pfeife zu tanzen. Nicht heute und auch nicht irgendwann. So läuft das einfach nicht.
„Xander.“, Jesses Unterton ist scharf.
Für einen Moment wirkt der Jüngere verunsichert, doch einen Augenaufschlag später, ist von der Verunsicherung nichts mehr zu sehen. Da ist ein Feuer in Xanders Augen, das Jesse deutlich zeigt, dass Xander – ganz gleich wie es ihm gerade gehen mag – durchaus dazu bereits ist sich mit ihm anzulegen und vor allem, dass er so schnell auch nicht aufgeben wird.
Jesse nimmt einen tiefen Atemzug. Er muss jetzt ruhig bleiben. Es hilft nichts, hier jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen.
„Ich denke, es wäre wirklich angebracht, wenn wir uns beide setzten würden.“, versucht er dieses Gespräch diplomatisch in die richtige Richtung zu lenken.
„Ich denke, es ist mir scheiß egal, was du für angebracht hältst. Ich hab‘ gesagt ich will mich nicht setzten und ich werde mich auch nicht setzen.“ Xander gibt sich wahrlich Mühe, ihn in Rage zu bringen.
„Du weißt doch noch gar nicht, worum es eigentlich geht, also wie wäre es, wenn du dich mal ein wenig kooperativer zeigen würdest?“
Ich weiß sehr wohl, worum es geht“, wirft Xander ein „du willst das ich in irgendeines dieser bescheuerten Fürsorge Heime gehe, die glauben, dass Jugendliche wie ich, dringend mehr Regeln und Disziplin brauchen.“
Jesse schüttelt vehement den Kopf.
„Es geht dabei doch nicht nur um Regeln und Disziplin. Außerdem, was ist so schlimm an einem geregelten Tagesablauf?“
„Natürlich. Es geht nur um Regeln und Disziplin. Darum den Leuten einzutrichtern, was sie alles nicht dürfen. Nicht dürfen und nicht können. Es geht immer nur darum. Hauptsache du gibst alles auf was du bist, um all das zu sein, was sie haben wollen!“
Jesse schüttelt völlig irritiert den Kopf. Er kann nicht glauben, was er da hört. Wie, um Gottes Willen, kommt Xander denn bitte auf sowas. Das ist doch völliger Schwachsinn. Niemand will ihm vorschreiben, wer er zu sein hat. Es geht doch nur darum, dass er sich irgendwie in die Gesellschaft integriert, einfach, um im Leben zu Recht zu kommen. Aber deshalb spricht doch niemand von vollkommener Anpassung.
„Gott, du übertreibst völlig. Darum geht es doch gar nicht. Außerdem hat ein geregelter Tagesablauf noch niemanden geschadet!“
„Vielleicht geht es dich aber auch einfach einen Scheißdreck an, wie ich meinen Tag verbringe! Vielleicht gehe ich dich einen Scheißdreck an!“
„Oh, natürlich. Was auch sonst? Ich habe mich ja nur die letzten Tage um dich gekümmert, auf dich aufgepasst und deine Kotze weggewischt. Ich sollte mich echt schämen und mich aus deinem Leben raushalten. Was fällt mir bloß ein, mir auch noch Sorgen zu machen? Warum lass ich dich nicht auch einfach auf der Straße verrecken?“, schnaubt Jesse wutentbrannt.
Die Arme dabei halb erhoben. Am liebsten würde er gerade gerne irgendetwas gegen die nächstbeste Wand schmeißen. Einfach nur, um seine Wut heraus zu lassen. Xander scheint mindestens genauso wütend und faucht prompt zurück: „Weißt du was? Fick dich! Ich hab‘ dich nicht um Hilfe gebeten. Ich komme genauso gut alleine klar.“ Mit diesen Worten macht der Jüngere auf dem Absatz kehrt und stapft wütend gen Haustür.
„Doch. Doch, genau das das hast du!“, brüllt Jesse ihm zornig hinterher, kurz davor, dass Wohnzimmer auseinander zu nehmen. Haare raufend steht er inmitten des Raumes und für eine Sekunde ist er versucht, der Couch einen kräftigen Tritt zu versetzen. Weil sie das Einzige ist, was gerade in seiner unmittelbaren Nähe steht. Genau das ist der Augenblick, indem ihm klar wird, wie lächerlich seine Wut eigentlich ist und das arme Möbelstück kann sicher nichts für Jesses völlig unnötigen Ausraster. Lauthals fluchend läuft der Medizinstudent im Zimmer auf und ab, als ihn das Geräusch der zufallenden Haustür aus seiner Trance reißt. Scheiße!
Mit einem Satz ist Jesse im Flur. Sein Herz rast. Verdammter Mist. Keine Sekunde später ist er an der Haustür angekommen, doch als er diese aufreißt, ist von Xander weit und breit keine Spur zu sehen. „Xander!“, schreit er so laut er kann. Die Luft brennt kalt in seiner Lunge. Doch es bleibt still. Niemand antwortet. „Xander!“, versucht er es noch einmal. Verflucht. Das kann doch nicht sein Ernst sein. Hier ist Meilenweit nichts. Rein gar nichts. Also, wo zum Teufel will er denn bitte hin?
Innerlich ohrfeigt Jesse sich gerade. Was musste er auch da drinnen so herum brüllen? Wieso hatte er nicht einfach ruhig und objektiv bleiben können? Aber dafür war es jetzt zu spät. Noch einmal ruft er Xanders Namen. Sagt ihm, dass hier weit und breit nichts als Einöde ist. Dass es keinen Sinn hat, sich zu Fuß auf den Weg irgendwo hin zu machen. Und dass es ihm Leid tut. Denn das tut es wirklich. Eigentlich hat ihm nichts ferner gelegen, als Xander da drinnen wie ein Berserker anzuschreien. Nun ist es aber passiert und er kann es nicht mehr rückgängig machen. Eventuell hätte er gut daran getan, sich ebenso wie Xander, noch einmal hinzulegen. Schlaf der vergangenen Tage nachzuholen. Denn der fehlt ihm heute offensichtlich. Sonst wäre ihr Gespräch im Wohnzimmer niemals so eskaliert. Immer noch hat er keine Antwort. Irgendetwas sagt ihm jedoch, dass Xander ganz in der Nähe ist. Jesse schaut sich einen Moment in der unmittelbaren Nähe der Hütte um. Nun, bis auf die staubige, ewig lange Zufahrt und den angrenzenden Wald gibt es hier nicht viel zu sehen. Wo, würde er also hingehen, wenn er Xander wäre?
Sein erster Impuls ist, die Zufahrt entlang zu laufen, bis er zur Straße kommt, die wieder zum High Way führt, doch eine leise Stimme sagt ihm, dass Xander nicht auf gut Glück in Richtung Straße gelaufen ist. Nein. Also macht Jesse postwendend kehrt. Er geht ins Haus, um sich seine Jacke zu holen und stapft schon einen Moment später den Trampelpfad entlang, der ihn in den Wald führt. Tatsächlich dauert es nicht lange, bis er Xander findet. Er ist nicht besonders weit in den Wald hinein gelaufen und lehnt im Schneidersitz gegen den Stamm eines dicken Ahorns. Den Kopf in den Nacken gelegt. Als er Jesses Schritte vernimmt, schaut er gekonnt in eine andere Richtung. Jesse kann es ihm wieder einmal nicht verübeln. Er geht um den Ahornbaum herum und lässt sich ebenfalls auf dem Waldboden nieder. Wäre der dicke Baumstamm nicht zwischen ihnen, säßen sie Rücken an Rücken. Jetzt im Winter trägt der Baum keine Blätter und so werfen die dicken Äste, von der Wintersonne beschienen, lange Schatten auf den Waldboden. Unter diesen Ästen sitzen sie nun und schweigen.
Er hat die ganze Situation unterschätzt. Das weiß er nun. Allerdings weiß er nicht, wie er’s besser hätte machen können. Zudem fehlen ihm nun die Worte, um ein Gespräch anzufangen. Zu seiner Überraschung muss er das dieses Mal auch gar nicht.
„Nur damit du‘s weißt, ich wäre längst weg, wenn ich ‘ne Möglichkeit hätte, hier wegzukommen. Also eine, die weniger impraktikabel wäre, als 1000 Meilen zu Fuß zurückzulegen.“
„Ich weiß …“.
Er hört Xander geräuschvoll ausatmen.
„1000 Meilen sind gut geschätzt. Es sind genau 997 Meilen.“
„Ich weiß. Ich hatte in Geographie ein A.“
Irgendwie überrascht das Jesse nicht im Mindesten. Xander ist verdammt clever. Den Eindruck hatte er schon viel früher. Wäre er das nicht, hätte er sich nicht drei Jahre lang auf der Straße durchschlagen können.
„Ich auch. Aber ich hatte in all meinen Kursen, außer in Religion, ein A.“
Er hört Xander schnauben und ein „war ja klar“ murmeln. Er könnte hier jetzt ansetzten, aber ihm ist klar, dass es nichts bringt dem eigentlichen Thema immer weiter auszuweichen. Deshalb probiert er es mit etwas, mit dem er heute schon einmal ganz gut gefahren ist: der Wahrheit. Erneut sagt er Xander, was er ihm bereits vor der Hütte zugerufen hat und von dem er weiß, dass Xander es ganz sicher gehört hat, nämlich, dass es ihm Leid tut. Und Xander steckt heute voller Überraschungen, denn er erwidert, dass es ihm vielleicht auch leid tut. Und Jesse kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gut, dass Xander das nicht sehen kann. Dann beschließen sie, es ist besser, ihr Gespräch in der warmen Hütter fortzuführen. Weil Jesse trotz seiner Winterjacke langsam auf dem feuchten Waldboden kalt wird und weil Xander sich gerade mal seine abgetragenen Chucks über die Füße gezogen hat und jetzt mit seiner Grippe nur in Boxershorts und T-Shirt hier draußen sitzt – was aus medizinischer Sicht höchst bedenklich ist. Zumindest zeigt es Jesse, was er vermutet, was er gehofft hat. Xander hat nicht wirklich vorgehabt zu verschwinden.
Zurück im Wohnzimmer sitzen sie mit dampfenden Teetassen – gut, in Xanders Fall mit dampfender Kakao Tasse – auf dem Sofa. Jesse versucht Xander die Einrichtung näher zu bringen, in der Jorells Freund Mike arbeitet und in der er Xander gut aufgehoben glaubt. Leider sieht der das ein wenig anders. Desto länger ihr Gespräch geht, umso weniger kooperativ scheint er zu sein. Am Ende will er überhaupt nicht mehr zuhören. Als Jesse ihm dann auch noch sagt, dass es streng genommen für ihn ja eigentlich besser wäre New York komplett zu verlassen, um aus seinem momentanen Umfeld und von der Szene wegzukommen, ist es aus und vorbei. Xander wird erneut sauer. Er ist fest davon überzeugt, dass ihm das alles ja sowieso nichts bringen wird. Wozu die Therapie noch? Er wird ja doch nicht clean bleiben. Jesse hat das ja schließlich auch gerade angedeutet. In New York hat er ohnehin keine Chance und woanders wird er nicht hingehen. Also braucht er auch kein dämliches Jugendheim.
Doch dieses Mal bleibt Jesse ruhig. Er ahnt, dass Xander es nahezu darauf anlegt, ihn zu provozieren. Darauf wird er sich allerdings nicht einlassen. Stattdessen kontert er mit gegen Fragen.
Warum, um alles in der Welt, er dieses Entzug denn dann überhaupt durchgezogen hat? Was er glaubt, wie lange sein Körper diese kolossale Scheiße noch mitmachen wird? Wie lange er seine Vergangenheit eigentlich noch seine Zukunft bestimmen lassen will? Wann er aufhören wird, die Scheiße der Vergangenheit für die Scheiße verantwortlich zu machen, die er im hier und jetzt selbst verzapft?
Das bringt das Fass zum überlaufen und lockt den Jüngeren aus der Reserve. Xander steht kerzengerade vor ihm. In seinen Augen blitzt pures Temperament auf und Jesse würde am liebsten Grinsen, weil er weiß, was Xander noch nicht einmal ahnt, dass er viel stärker ist, als all die schlechten Dinge die ihm schon im Leben widerfahren sind.
Jesse hat keine Ahnung, schnauzt er. Es läuft sowieso alles immer nur scheiße. In seinem Leben ist einfach keinen Platz mehr für gute Dinge. Xander ist wirklich davon überzeugt, als er das sagt. Jesse weiß es und er wird ihm das Gegenteil beweisen.
„Okay“, erwidert er nur auf Xanders Geschrei. Völlig perplex sieht der ihn an. Vor Verwunderung ist sein Mund leicht geöffnet.
„Okay?“, hakt er nach.
„Ja. Okay. Kannst du mir mal bitte den dunkel blauen Beutel bringen, der sich in der obersten Schublade befindet?“
Dabei zeigt er auf die Kommode, die an der gegenüber liegenden Wand liegt. Völlig verwirrt kommt Xander Jesses bitte nach. Währenddessen steht er auf und holt aus der Küche eine Karaffe mit Wasser, sowie die große Glasblumenvase seiner Mutter. Natürlich ohne Inhalt.
Du bist völlig bekloppt. Jetzt ist es offiziell. Xander sagt das nicht, aber sein Blick scheint ihm das förmlich entgegen zu schreien. Zugegeben, wie er da voll beladen zurück ins Wohnzimmer kommt, könnte man das durchaus glauben. Selbstredend ist das nicht der Fall und er weiß ganz genau, was er da tut. Kaum ist beides auf dem Wohnzimmertisch abgelegt, schnappt er sich den dunkel blauen Beutel, der bereits auf dem Tisch liegt. Seinen Inhalt füllt er in die große Glasvase, bis diese fast bis zum Rand gefüllt ist.
Es sind Steine. In allen möglichen Größen, Formen und Farben. Gesammelt von seiner Mutter. Und Jesse selbst als Kind. Seine Mutter hat sie immer Glückssteine genannt. In jedem Urlaub, bei jedem Ausflug, überall wo sie waren, hat seine Mutter darauf geachtet, dass Jesse einen Stein von diesem Ort mitnimmt. Von Orten, an denen er besonders glücklich war. Sie hat das von ihrer Mutter übernommen, die sie dasselbe als Kind tun lassen hat. Das Glück liegt immer vor dir. Auf den Boden sozusagen. Deshalb die Steine. So hat seine Mutter es ihm beigebracht und vielleicht wird er das irgendwann einmal Xander so erklären, – obwohl er dafür wohl schon ein wenig zu alt ist – nur eben nicht heute. Heute sind die Steine einmal das komplette Gegenteil von dem, was sie für seine Mutter symbolisieren.
„Siehst du die Steine im Glas?“, fragt er deshalb an Xander gewandt.
„Ich bin nicht blind Jesse …“, murrt Xander verhalten. Offensichtlich noch nicht so sicher, was er von der Situation halten soll.
„Okay, stell dir vor …“.
„Oh Gott. Bitte lass deine Hobby-Psychologischen-Anwandlungen an jemand anderem aus, ja?“
Er wirft ihm einen Blick zu, der so viel heißen soll, wie ‚Jetzt hör doch einfach mal zu‘ und Xander scheint ihn verstanden zu haben. Denn er stöhnt laut auf, hebt die Arme als wollte er um Vergebung bitten und lässt sich mehr oder weniger mit einem Ruck auf die Couch fallen. Jesse setzt noch mal neu an:
„Also, stell‘ die vor, das Glas ist den Leben.“
„Also werden mir in meinem Leben nur Steine in den Weg geworfen? Gut, das wusste ich auch schon vorher.“
„Nein. Mensch, Xander. Hör doch mal bis zum Ende zu. Das Glas ist also dein Leben und die Steine stehen für all die schlechten Dinge, die du bereits erlebt hast.“
„Und das Glas ist randvoll. Also, wie ich gesagt habe. Kein Platz mehr für irgendetwas anderes. Danke dafür hätte ich nicht unbedingt ein Modell gebraucht.“
„wenn du so gut erkannt hast, dass das Glas randvoll ist, was ist dann, wenn ich jetzt noch mehr in das Glas füllen würde. Gute Dinge zum Beispiel?“
„Mal abgesehen davon, dass man keine „Guten Dinge“ aus dem Ärmel schütteln kann? Es würde überlaufen“
„Gut, dann kommen hier die guten Dinge die du ganz sicher noch in deinem Leben erleben wirst.“
Während er das sagt, nimmt er die Karaffe mit dem Wasser zur Hand und gießt diese über dem vollen Glas mit Steinen aus. Hingegen Xanders Annahme, muss keiner von ihnen den Boden wischen, denn das Wasser sucht sich zwischen den Steinen seine Zwischenräume und füllt so das Glas auf, ohne überzulaufen.
„Na, was sagst du jetzt?“, fragt Jesse neckend an Xander gewandt.
„Ja, schon gut. Das Glas ist nicht übergelaufen. Und was soll mir der Mist jetzt sagen? Das ich besser in Physik hätte aufpassen sollen?“
„Nein. Das da immer Platz in deinem Leben sein wird. Auch für gute Dinge. Die bahnen sich nämlich ihren Weg. Man muss sie nur lassen.“
Xander schnaubt nur und scheint wenig überzeugt. Für Jesse ist ihr Gespräch hier vorerst aber einmal beendet. Er lässt das Glas, so wie es ist erst Mal auf dem Wohnzimmertisch stehen und teilt Xander mit, dass er sich jetzt erst einmal um Mittagessen bemühen wird. Der Schwarzhaarige erwidert nichts, sondern hat seinen Blick starr auf das mit Steinen gefüllte Glas gerichtet, als Jesse das Zimmer verlässt.
Die nächsten Stunden vergehen relativ ruhig und gemütlich. Nach dem verspäteten Mittagessen legt Jesse sich hin und holt die dringend benötigten Stunden Schlaf nach. Als er wieder aufwacht, findet er Xander im Wohnzimmer auf der Couch schlafend vor. Nachdem er dem Jüngeren noch schnell eine Decke spendiert hat, macht er sich daran, Abendbrot vorzubereiten. Auf Cassies SMS hat er noch immer nicht reagiert. Dafür antwortet er auf eine kurze Nachricht, die Mike ihm geschickt hat.
>> Mike, 18:22 PM
Habe das abgeklärt und auch schon mit einigen Erziehern aus der Wohngruppe gesprochen, wegen eines geeigneten Therapieplatzes. Auch da haben wir etwas in Aussicht. Wir hätten also einen Platz frei. Jetzt liegt es an ihm. Er muss das selbst wollen, Jesse.
>>Jesse, 18:28 PM
Ich melde mich morgen mit einer endgültigen Entscheidung. Danke, Mike.
Ich weiß das ehrlich zu schätzen!
Eine gute halbe Stunde später weckt er Xander zum Abendessen, das weitestgehend stillschweigend verläuft. Die Atmosphäre zwischen ihnen ist ziemlich unterkühlt und das merkt man auch nach dem Essen, als sich ihre Wege abermals trennen. Jesse vermutet, Xander brauch einfach ein bisschen Zeit für sich, weshalb er ihn in Ruhe lässt und sich bald vom Wohnzimmer in sein Schlafzimmer verzieht, während Xander im Gästezimmer Stellung bezogen hat.
Gerade als er endlich auf Cassies SMS antworten will, es ist mittlerweile kurz vor Null Uhr, klopft es unverhofft an der Tür. Die Zimmertür öffnet sich einen Spalt breit und einen Augenblick später steht Xander im Zimmer. Er wirkt angespannt und nervös, als er mit kratziger Stimme sagt:
„Okay. Lass uns mit den guten Dingen im Leben anfangen. Wie ist das nochmal mit dieser Wohngruppe, von der du heute Mittag gesprochen hast?“