Und nichts ist mehr, wie es war
Xander
Xander ist diesen Morgen einmal mehr neben Jesse aufgewacht und er gibt es nur ungern zu, aber so langsam gewöhnt er sich daran und das macht ihm mittlerweile irgendwie wirklich Angst. Gut. Stimmt nicht ganz. Nicht erst mittlerweile. Das hat ihm von der ersten Sekunde an Angst gemacht. Das war auch der Grund, wieso er gestern Morgen als er aufgewacht ist geradewegs rücklings aus dem Bett gefallen ist. Vor Schreck. Kein Witz. Das war ja mal ‘ne verdammt peinliche Situation. Und dann ist Jesse auch noch davon aufgewacht. Klasse, ehrlich. Aber er hat sich ja sowieso absolut zum Affen gemacht. Yoga Übungen? Wer sagt denn sowas bescheuertes? Wieder einmal wünscht sich Xander er wäre ein wenig schlagfertiger. Obwohl er das ja eigentlich ist – findet er zumindest. Wäre nur nicht schlecht, wenn er ab und an auch mal denken würde, bevor er spricht. Garantiert nur halb so peinlich. Eventuell aber auch doppelt so langweilig. Schwer zu sagen. Irgendwie war gestern ja generell kein besonders guter Tag. Mal abgesehen davon, dass Jesse ganz offensichtlich irgendwie auch arg neben der Spur war, haben sie sich gestern so angebrüllt, dass es glatt Oscar Reif gewesen wäre, hätte jemand dabei zugesehen. Nur leider haben sie nicht nur so getan, sondern tatsächlich ernstlich gestritten. Und er hasst es. Zugegeben, meistens ist er selber schuld und oft genug provoziert er es auch noch, aber ehrlich gesagt hat er einen natürliche Abneigung gegen Streit. Er hasst dieses Rumgebrülle, dieses auf seine Meinung beharren und am aller schlimmsten findet er die Ignoranz und Gleichgültigkeit – gar zu sagen Verachtung – die man dem jeweils anderen nach einem Streit nur allzu oft entgegen bringt. Und obwohl er das alles hasst und obgleich er genau weiß, wo der Fehler liegt, kann er sich doch nie zurückhalten. Nie einfach mal die Fresse halten.
Immerhin hat er es heute Morgen als er aufgewacht ist geschafft, nicht wieder wie so ein Volltrottel aus dem Bett zu fallen. Ein kleiner Erfolg zumindest. Schließlich schläft Jesse noch tief und fest und das soll am besten auch noch eine Weile so bleiben. Nicht weil er etwas gegen Jesses Gesellschaft hat, im Gegenteil, er hätte nie gedacht das er es einmal angenehm finden könnte zu wissen, dass da jemand ist und es graut ihn schon vor dem Tag an dem sie wieder getrennte Wege gehen werden, doch er hat das ungute Gefühl, Jesse hat wegen ihm so einiges an Schlaf verpasst, den er jetzt dringend nachholen sollte. Also besser nicht stören.
Dumm nur, dass er nicht wirklich einen Plan hat, was er jetzt machen soll. Gleichzeitig traut er seinen eigenen Beinen zurzeit nicht wirklich. Nicht das er es Jesse gegenüber erwähnt hätte, warum auch, vermutlich ist es ganz normal, aber manchmal scheint die Energie von einer zur nächsten Sekunde aus seinen Körper zu weichen und dann fühlt er sich einfach wieder müde und schlapp. Und ja, auch ein bisschen elend. Zum Glück hat er zumindest keine Krämpfe mehr und er würde jetzt sicher auch mehr Essen drin behalten, wenn er denn bloß Appetit hätte. Es ist einfach verdammt irrwitzig. An manchen Tagen hatte er auf der Straße das Gefühl gehabt verhungern zu müssen und Bauchschmerzen gehabt, weil sein Magen Tagelang fast leer gewesen war und nun wo er die Gelegenheit hatte sich mal wirklich satt zu Essen, bekam er kaum etwas runter. Das kommt ja sicher richtig dankbar rüber, wie er hier seit Tagen das Essen mehr oder minder verschmäht. Überhaupt fühlt er sich in diesem Augenblick ziemlich undankbar. Jesse muss ja praktisch – zumindest an seinem Verhalten gemessen – denken, dass er nicht im Geringsten zu schätzen weiß, was er da für ihn tut. Aber Xander ist sich dem sehr genau bewusst. Er kann es ihm nur einfach nicht sagen. Kann ihm nicht um den Hals fallen und sich bedanken, wie er es vielleicht eigentlich sollte.
Er atmet einmal tief durch und fährt sich fahrig durch die Haare, bevor er so leise wie möglich das Schlafzimmer verlässt. Er kann einfach nicht mehr schlafen und er will Jesse ja keinesfalls wecken. Wobei nicht mehr schlafen können vielleicht eine sehr vage Aussage ist. Schließlich hat er die gesamte Nacht über kaum ein Auge zubekommen. Nicht das er es jemals zugeben würde, aber das Gespräch mit Jesse hat ihn aufgewühlt.
Xander weiß nicht wohin. Klingt irgendwie albern, aber er hat das Gefühl, dass jeder Raum in diesem Haus irgendwie der falsche ist, um sich gerade darin aufzuhalten. Die Küche ist ihm seit dem ersten Tag mit Jesse in diesem Haus unangenehm. Seitdem er ihn dort mehr oder weniger – streng genommen ja mehr – mit Geschirr beworfen hat, will er sich nicht länger als nötig dort befinden. Das Schlafzimmer in dem er die ersten Tage fast pausenlos verbracht hat, weil er nicht zu besonders viel mehr als herum liegen zu gebrauchen war, weckt auch mehr negative Assoziationen als unbedingt gewünscht. Und noch viel schlimmer: Er hat das Gefühl die Dinge die er Jesse in diesem Raum anvertraut hat, die Worte die er gesagt hat, schweben dort noch immer in der Luft. Ein weiterer Grund ihn nicht zu betreten. Auch wenn er das heute Abend wohl oder übel tun muss. Er kann ja nicht schon wieder bei Jesse schlafen. Man muss das ganze allerdings nicht herausfordern. Nicht eher als nötig zumindest. Im Wohnzimmer hatten sie erst gestern diesen riesen Streit und sich im Bad zu verschanzen kommt ihm dann doch ein bisschen sehr lächerlich vor, sogar für seine Verhältnisse. Aber mehr Räume hat die kleine Hütte nicht zu bieten und aus Mangel an Alternativen entscheidet Xander sich letztendlich doch für das Wohnzimmer.
Dort macht er es sich erst mal auf dem Sofa gemütlich. Viel umher laufen ist zurzeit nicht so gut, sagt sein persönliches Wohlbefinden zumindest und zudem wirkt es doch reichlich merkwürdig in einem sonst leeren Raum auf und ab zu laufen. Die Gedanken schweifen lassend fällt Xanders Blick auf den Wohnzimmertisch. Besser gesagt auf das Buch, welches auf dem Tisch liegt. Der Titel lautet: Der kleine Prinz. Und er ist Xander seit einer gewissen, längeren Autofahrt bestens bekannt. Nun gut, bestens bekannt ist vielleicht ein wenig übertrieben. Aber immerhin sagt der Titel ihm irgendwas und Jesse scheint dieses Buch sehr zu mögen. Mehr aus Langeweile als aus Interesse nimmt Xander das Buch zur Hand und schlägt es irgendwo mittendrin auf.
Er betrachtet die Seiten eine ganze Weile, die nun aufgeschlagen vor ihm liegen. Bevor er irgendwo mitten in einem Satz anfängt zu lesen.
„Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennenzulernen. Sie kaufen alles fix und fertig im Laden. Aber da es keine Läden für Freund gibt, haben die Menschen keine Freunde mehr.“
Unweigerlich muss er darüber nachdenken, was das bedeutet. Für ihn. Der Fuchs in dem Buch hat nicht ganz unrecht. Xander kommt nicht umhin das zu bemerken. Tatsächlich fragt er sich, wie viele Menschen wohl noch Freund haben. Richtige Freunde. Freunde auf die man sich verlassen kann. Er weiß, dass das zumindest für ihn nicht der Fall ist. Er hat niemanden mehr und er war auch nie besonders gut darin sich Freunde zu machen. Und von diesen wenigen Freunden, es sind wohl genau zwei an der Zahl, ist keiner mehr übrig. Angel ist tot. Und jeder Gedanke an sie schmerzt und ist noch dazu mit Drogen verbunden. Was ihn wahnsinnige ängstigt und ihn geleichzeitig schier verrückt macht. Weshalb er alle Gedanken und Erinnerungen an sie so weit von sich fort schiebt, wie es nur irgendwie möglich ist. Und Romeo? Er hat keine Ahnung wo Romeo heute ist und wie es ihm geht. Vielleicht ist er noch in Jersey City, vielleicht aber auch schon ganz woanders. Schwer zu sagen. Egal wo, er hofft, dass es ihm gut geht. Das hofft er wirklich. Und zum ersten Mal wird ihm klar, wie sehr er ihn vermisst. Weil Romeo sein erster richtiger Freund war. Der erste Mensch dem er wirklich vertraut hat. Nein, der zweite. Aber der erste, der dieses Vertrauen nicht missbraucht hat. Ihn nicht enttäuscht hat, sondern ihm gezeigt hat, dass man sich auf ihn verlassen kann, komme was da wolle. Und was ist daraus geworden? Xander weiß nicht einmal mehr, wo er sich aufhält und ob es ihm gut geht. Romeo ist nur noch ein Schatten der Vergangenheit. Einer der Schatten, die ihm zwar keine Angst machen, die aber dennoch unweigerlich fort sind. Wie seine kleine Schwester. Und wessen Schuld ist das wieder einmal? Seine eigene. Herzlichen Glückwunsch auch.
Als Xander Jersey City verlassen hat, hatte er noch Romeos Telefonnummer. Er hat sie eine ganze Weile gehabt, denn er hat sie immer mit sich herum getragen, und am Anfang haben sie immerhin noch einmal die Woche telefoniert. Zumindest für ein paar Minuten. Wenn Xander das nötige Kleingeld übrig hatte um es in ein Telefonat in einer der unzähligen, abgewrackten Telefonzellen New Yorks zu investieren. Dann hat er den kleinen Zettel mit der ziemlich langen Nummer verloren. Das war allerdings nicht weiter schlimm, denn er konnte die Nummer ja auswendig. Und dann? Irgendwann hat er weder das Geld, noch die Zeit übrig gehabt, um noch mit Romeo zu telefonieren. Denn all sein Geld hat er in den Stoff investiert und all seine Zeit hat er darin investiert, um an Geld zu kommen, dass er in Heroin investieren konnte. Doch das ist alles in allem nicht der Grund, wieso sie heute keinen Kontakt mehr haben. Nein, der Grund dafür ist die Tatsache, dass Xander sich eines Tages einfach nicht mehr der Telefonnummer entsinnen konnte, die er noch zu Beginn seiner Zeit in New York so häufig in den Zahlenblock der Telefonzellen getippt hat. Romeos Nummer war eines Tages einfach weg. Verschwunden aus seiner Erinnerung. Er kann bis heute nicht sagen, wann das passiert ist. Irgendwann war sie einfach weg. Das ist der Grund.
Und der eigentliche Grund, dass weiß er genau, aber er ignoriert es gekonnt, sind die Drogen. Hat nicht besonders lange gedauert, bis er festgestellt hat, dass er anfängt zu vergessen. Kleinigkeiten am Anfang. Nichts Wichtiges. Irgendwann dann elementare Dinge, wie zum Beispiel, welcher Wochentag gerade ist. Datum. Oder ganz banal, was er die letzte Nacht, manchmal gar die letzte Woche getrieben hat. Und eben auch Romeos Telefonnummer. Vielleicht auch besser. Wenn er daran denkt, dass Romeo erfahren könnte, wie er das letzte Jahr zugebracht hat, wird ihm schlecht und er hat das Bedürfnis im Erdboden zu versinken und nie wieder ans Tageslicht zu kommen. Vor allem weil Drogen für ihn ein besonders heikles Thema waren.
Es ist das zweite Wochenende im Februar. Ein relativ milder Februar. Zumindest im Vergleich zum Januar. Der war der Horror. Mochte daran liegen, dass es sein erster Winter auf der Straße war. Romeo sagt, er wird sich dran gewöhnen. Xander kann sich das nicht vorstellen. Noch nicht zumindest. Aber er konnte sich vor ein paar Monaten auch nicht vorstellen ein besetztes Haus, oder viel mehr die Ruine eines besetzten Hauses sein Zuhause zu nennen. Tja, so schnell ändern sich die Dinge. Die Bauruine eines ehemalig geplanten Einkaufszentrums kommt ihm jedenfalls mittlerweile deutlich kuscheliger vor als des Nachts irgendeine dunkle Gasse. Als sie an diesem Abend zu ihrem Schlafplatz zurückkehren, nachdem sie den gesamten Tag in der Stadt verbracht haben und somit auf den Beinen waren, steht direkt vor dem Haus eine zwielichtig dreinblickende Gestalt. Bekleidet in dunklen Sachen und einem völlig abgetragenen grauen Trench-Coat. Alles in allem vermittelte der junge Mann sicher keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck. Aber im Grunde genommen ist es ihm ganz egal, welchen Eindruck er vermittelt. Xander interessiert sich schon lange nicht mehr für andere Leute. Außer für Romeo. Weil sie immer zusammenhalten.
Gerade als sie im Haus verschwinden wollen, spricht der zwielichtige Typ Romeo an. Xander kann nicht verstehen, was er sagt, aber er kann Romeos Antwort umso deutlicher vernehmen. Und die ist nicht besonders freundlich.
„Fick dich und lass uns in Ruhe!“
Dabei greift Romeo, ohne sich umzudrehen, nach seinem Handgelenk und zieht ihn mit einer schnellen Bewegung mit sich ins Haus. Noch ist er zu perplex, um den älteren irgendwelche Fragen zu stellen. Sie laufen so lange, bis sie in einem der letzten Räume des oberen Stockwerks angekommen sind und lassen sich dort in einer Ecke an ihrem üblichen Platz nieder. Sie sind mit der alten Matratze, die Romeo irgendwo vom Sperrmüll abgegriffen hat und den alten Kleidungsstücken die sie mal hier und mal dort mitgehen lassen haben und die bei solchem Wetter ebenso gut wie Decken vor der Kälte schützen, sozusagen häuslich eingerichtet. Einige Sekunden vergehen, in der sie schweigend auf der abgegriffenen Matratze sitzen, bis der Lockenkopf zum Sprechen ansetzt und Xander ihm still lauscht:
„Versprich mir bitte, dich von solchen Leuten immer fern zu halten. Versprich es.“
„Warte, was?“
„Versprich’s einfach.“
„Ja, wenn ich wüsste worum es geht …“.
„Das spielt keine Rolle, Xander. Versprich es einfach“, Romeos Ton ist dabei so Ernst, wie selten.
„Okay, okay. Ich versprech‘ es. Geht’s dir damit jetzt besser?“
„Hmmm …“.
Romeo wirkt in Gedanken versunken. Der Blick ist merkwürdig entrückt. Weit in die Ferne gerichtet, obwohl es nichts weiter als graue Betonwände zu sehen gibt. Es scheint als würde ihn irgendeine Vorstellung belasten, doch Xander traut sich nicht zu fragen. Das ist merkwürdig, denn normalerweise hat er damit kein Problem. Und das war von Anfang an mindestens genauso merkwürdig, denn Xander war nie besonders gut darin, mit Leuten Kontakte zu knüpfen. Vermutlich auch ein Grund, warum er vom ersten bis zum letzten Tag in der Middle School immer ein Außenseiter war. Und im seinem ersten Jahr an der High School. Gut, das hat nicht zuletzt daran gelegen, dass man als Freshman sowieso nicht gerade zu den beliebten Kids der Schule gehört. Und daran, dass Zack ihn bereits vom ersten Tag in der Elementary School an gehasst hat. Was vielleicht nicht zuletzt daran lag, dass Xander ihm am ersten Tag im Sportunterricht – ob beabsichtigt oder nicht sei mal dahin gestellt – ein Bein gestellt hat und er sich ziemlich hart auf den Hallenboden gelegt hat. Gut, das tat ihm danach dann auch leid. Er wollte ja nicht, dass Zack von der versammelten Mannschaft ausgelacht wird. Aber er hat die Quittung bereits am nächsten Tag bekommen, denn da hat Zack gleich seinen älteren Bruder samt Freunde auf ihn gehetzt. Und die Lektion war echt schmerzhaft. Zack. In ihrer High-School-Zeit der beliebteste Schüler seines Jahrgangs und Anführer der „coolen“ Clique. Selbstredend war Zacks älterer Bruder mittlerweile ein Senior, Quarterback und Kapitän der Footballmannschaft der Schule. Wenn Zack sich also mal wieder höchstpersönlich von Xanders Art in der Gegend herumzustehen angegriffen gefühlt hat, denn Xander hat es gewiss niemals wieder gewagt ihm irgendwie anders in die Quere zu kommen, bekam der Schwarzhaarige das spätestens nach der Schule meistens zu spüren. Deshalb war es bald auch eine vielversprechende Option einfach gar nicht zur Schule zu gehen. Fand sein Vater jetzt nicht gerade so prickelnd. Aber gut, hatte der ja nicht zu entscheiden.
Jedenfalls ist Kommunikation noch nie so sein Ding gewesen. Bis er auf Romeo getroffen ist. Zugegeben, der hat von der ersten Sekunde an auch genug für sie beide geredet, aber trotzdem ist es ihm nie zuvor so leicht gefallen, sich mit jemandem zu unterhalten.
Romeo schüttelt den Kopf als wollte er irgendeinen schlechten Gedanken vertreiben und Xander wartet ab. Dann hebt sein Freund den Blick. Er schaut in die dunkelblauen Augen seines Gegenübers und kann die Sorge daraus sprechen sehen.
„Romeo? Vergiss den Typen einfach, okay? Solche Leute muss man einfach ignorieren.“
„Nein. Eben nicht. Ich kann nicht verstehen, wie man zulassen kann, dass Typen wie er das Leben anderer Menschen ruinieren“, erwidert der Lockenkopf lautstark.
Er schaut einen Moment zum grauen Steinboden hinab. Er sieht das ein wenig anders, aber er traut sich kaum, seinem Freund zu widersprechen.
Das scheint Romeo sogleich zu bemerken und die Stimme des fast fünf Jahre ältere nimmt einen merklich sanfteren Ton an, als er fragt:
„Oder siehst du das anders?“
„Schon. Also, na ja. Ich weiß nicht. Ich find’s nicht richtig, wenn irgendwer Drogen vertickt. Das Zeug ist halt echt nicht witzig. Aber am Ende ist doch jeder für sich selbst verantwortlich. Und das Drogen nichts zum Spielen sind, sollte auch jeder wissen …“
Romeo nickt, lässt seine Worte einen Moment auf sich wirken. Dann meint er: „Das stimmt wohl. Am Ende sind wir alle für uns selbst verantwortlich. Aber das heißt noch lange nicht, dass andere nicht ebenso Acht geben können, wie wir selbst, was wir uns zumuten. Vier Augen sehen mehr als zwei, weißt du? Und es ist nicht jeder Fünfzehnjährige so erwachsen wie du und sieht die Sache so nüchtern. Nein, Drogen können verdammt verlockend wirken. Besonders auf Minderjährige, die es nicht besser wissen. Es gibt gerade in diesem Alter immer wieder Situationen, in denen man sich wünscht alles wäre anders, oder es wäre einem zumindest egal. Das weiß ich selbst. Ist jetzt ja noch nicht so lange her.“
Seine Stimme klingt wieder hart, als er noch hinzufügt:
„Nein, Leute wie dieser Mistkerl da unten, die die Situation anderer ausnutzen und denen es völlig egal ist, ob sie damit über Leichen gehen oder nicht, die sind für mich der größte Abschaum, den Jersey City zu bieten hat. Drogen und alle die etwas damit zu tun haben sind für mich das aller Letzte“
Xander nickt. Er kann völlig verstehen, was Romeo damit sagen will, dennoch glaubt er, dass sein bester Freund gerade vielleicht ein wenig zu gereizt und vor allem zu beschützend reagiert hat. Wie Romeo selbst gesagt hat, er ist Fünfzehn. Er kann auf sich aufpassen. Niemand muss das mehr für ihn tun.
„Ist okay“, antwortet er deshalb.
„Ich verstehe was du sagen willst. Aber keine Sorge, wie du gerade ja selbst festgestellt hast, ich bin erwachsen genug, um auf mich selbst aufzupassen. Du musst nicht auf mich Acht geben, wie auf einen deiner kleinen Geschwister.“
Romeo schüttelt den Kopf, bevor sich in seinem mit Sommersprossen übersäten Gesicht ein großes Grinsen bildet und er mit einem lauten Lachen zu bedenken gibt:
„Hey! Von erwachsen war nie die Rede. Ich habe gesagt du verhältst dich so. Du bist es aber deshalb doch noch lange nicht.“
Mit diesen Worten zieht er ihn zu sich und fährt ihm, weil er genau weiß das Xander es ärgert und er es hasst, durch das kohlrabenschwarze Haar und setzt hinzu:
„Außerdem bist du für mich doch längst mein kleiner Bruder. Also muss ich doch auf dich aufpassen. Zudem haben Willis, Collin, Ryan, Lewis, Colette, Zoe und Lucas nichts gegen Familienzuwachs. Die sind ja dran gewöhnt.“
Xander bricht unvermeidlich in Lachen aus, obwohl die Situation vor ein paar Sekunden noch so ernst gewesen ist.
„Gott. Ich werde mir die Namen all deiner Geschwister nie merken können. Du hast davon einfach zu viele!“
Aber insgeheim wird ihm warm bei den Gedanken, dass Romeo nicht nur einen Freund, sondern einen Bruder in ihm sieht.
Definitiv würde Romeo den heutigen Xander hassen. Und Xander kann selbst nicht sagen, ob er sich heute noch besonders gut leiden können würde. Die Wahrheit ist: Vermutlich nicht. Er will gerne in den Spiegel sehen und sich selbst sagen, dass das hier ein Neuanfang wird. Das es ab jetzt besser wird. Das Problem ist nur, zurzeit erträgt er sein eigenes Spiegelbild nicht. Vorsichtig legt er das Buch beiseite, welches er noch immer fest umklammert hält und vergräbt sein Gesicht unversehens in den weichen Sofakissen. Er kann sich nicht helfen. Aber gerade hasst er wieder alles und jeden. Diese scheiß Situation, seinen Vater, sein Leben und vor allem sich selbst.
Seine Gedanken rasen und werden Laut in seinem Kopf, bis sie zu einem tosenden Sturm anschwellen. Es macht ihm Angst, wie bestimmt diese Stimmen wieder werden. Und wie schnell er das Gefühl hat, erneut auf sie hören zu müssen. Er will schreien, doch stattdessen drückt er sein Gesicht noch tiefer in die Sofakissen und versucht sich so von jedem noch so kleinen Geräusch abzuschotten. Es gelingt ihm nicht. Aber das war auch nicht zu erwarten. Obwohl es im gesamten Haus ohnehin schon gespenstisch still ist. Eigentlich ist es das Geräusch seines eigenen raschelnden Atems, das ihm gerade schon zu viel ist.
Er fährt wie der Blitz hoch, als er eine Berührung an der Schulter spürt. Sein Puls rast und fast hätte er vor Panik aufgeschrien. Er hat zuvor keine Schritte gehört und doch steht Jesse jetzt vor ihm, die Hände abermals beschwichtigend erhoben. Wie oft hat er diese Pose jetzt schon gesehen?
„Sorry“, murmeln sie beide zeitgleich. Xander rückt ein Stück zur Seite, um Jesse gegebenenfalls Platz zu machen. Doch der bleibt fürs Erste unschlüssig stehen, bevor er sich dann doch dazu entscheidet, sich neben ihm niederzulassen. Für einen Moment hängt eine unbehagliche Stille im Raum. Xander heftet seinen Blick an den Boden. Er ist sich nicht sicher was er sagen soll und gleichzeitig möchte er nicht, dass es wieder einmal an Jesse ist, ein Gespräch zu beginnen oder irgendetwas zu tun. Also räuspert er sich verlegen und sagt:
„Das sah jetzt vermutlich unproduktiver aus, als es sollte.“
„Na, unproduktiv würde ich nicht sagen. Du sahst eher traurig aus“, stellt Jesse ganz unvermittelt fest.
Xander wird ‘nen Teufel tun und zugeben, dass er sich gerade absolut beschissen fühlt. Jesse hat wirklich mehr als genug Ärger wegen ihm gehabt. Und er hat definitiv zu genüge Kummerkasten gespielt. Irgendwann sollte auch einmal Schluss sein und er hat Jesse mit Gewissheit schon deutlich mehr abverlangt, als man einem anderen Menschen jemals sollte.
Deshalb antwortet er nur:
„Nein. Alles gut. Ich bin nicht traurig. Hab‘ nur nachgedacht.“
Jesse nickt ein wenig zu enthusiastisch als er erwidert:
„Aber sicher. Und in meiner Freizeit belege ich Kurse in indischem Bauchtanz. Gut, dass wir so ehrlich miteinander sind.“
Xander schüttelt ungläubig den Kopf.
„Gott, warum verarscht du mich eigentlich so?“, braust er auf.
Jesse zuckt gelassen mit den Schultern und kontert prompt:
„Warum belügst du mich eigentlich so?“
Xander lässt frustriert den Kopf sinken. Er entgegnet besser nichts. Was auch? Jesse würde ja doch merken, dass er lügt.
Er hört ein seufzen von der anderen Hälfte der Couch.
Dann überkommt Jesse wieder einmal eine, offensichtlich, Hobbypsychologische Anwandlung. Er erklärt Xander – als wüsste er das nicht selbst – dass es ja vollkommen normal ist, auch einmal traurig, oder wütend, oder eben frustriert zu sein. Und das es wichtig ist das nicht in sich hineinzufressen, sondern auch einfach mal darüber zu reden.
Mitten im Satz wird es Xander zu viel. Er würgt Jesse einfach ab.
„Okay, okay. Ich hab‘s verstanden. Und weil du das immer so toll machst, hast du auch gar keine Probleme.“
Jesse beginnt lauthals zu lachen.
„Du glaubst ich hab‘ keine Probleme?“
Er ist für einen kurzen Moment versucht zu erwidern, dass es in der Tat so aussieht. Doch ein Blick in Jesses nun mehr ernstes Gesicht verrät ihm, er könnte sich getäuscht haben.
Xander presst die Lippen aufeinander. Zu seiner Verteidigung Jesse scheint nun wirklich keine großen Probleme zu haben.
Der Gesichtsausdruck des Älteren wird augenblicklich weicher.
„Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen, oder?“
„Nein, manchmal durchaus nicht.“, räumt Xander zögerlich ein.
Er hat gar nicht in Betracht gezogen, dass es auch Dinge geben mochte, die Jesse Probleme bereiteten. Der Gedanke war natürlich vollkommen logisch, dennoch schien er bis gerade eben absolut abwegig.
Vielleicht genau deshalb gibt Xander fast ein bisschen stoisch zu bedenken:
„Aber du hast immer alles in Griff. Wo sollen da Probleme entstehen?“
Jesse
Zieht die Brauen zusammen, als er murmelt:
„Ja, aber manche Dinge kommen unerwartet und manchmal will man an seinem Problem auch gar nichts ändern …“.
Was Jesse damit sagen möchte, bleibt offen, denn im nächsten Moment steht er auf. Vielleicht hätte Xander dieses Verhalten in irgendeiner Weise verwundern sollen, doch er hat sich mittlerweile bereits so an Jesse gewöhnt, dass er es als „normal“ wertet und sich deshalb keine weiteren Gedanken dazu macht. Vielleicht aber auch nur, weil sich Gedanken über Jesses Verhalten zu machen zwangsläufig dazu führt sich Gedanken um Jesse als Person zu machen und dem versucht er auszuweichen. Desto mehr er über Jesse nämlich nachdenkt desto stärker wird das Gefühl von Vertrautheit, dass er langsam aber sicher entwickelt. Und dieses Gefühl findet er wahnsinnig befremdlich. Befremdlich und beängstigend. Denn wann immer Personen begonnen haben ihn etwas zu bedeuten, sind sie bald darauf wieder aus seinem Leben verschwunden. Und Jesse wird vermutlich bald wieder aus seinem Leben verschwinden. Davon geht er ganz fest aus. Also bloß keine weiteren Gedanken dazu.
Trotzdem fragt er sich, wo Jesse nun hin verschwunden ist. Ihm fällt die Decke auf den Kopf. Er weiß nicht, warum er’s alleine zurzeit einfach nicht wirklich aushält. Aber er will nicht länger alleine im Wohnzimmer herumsitzen.
Er findet Jesse in der Küche vor, wie er eine Paprika akkurat zerlegt. Er wirkt dabei so konzentriert, als ob es nichts Wichtigeres im Leben gäbe, als Paprika gleichmäßig in seine Einzelteile zu zerlegen. Ehe er sich versieht ist er mit derselben Aufgabe betraut. Offensichtlich gehört Jesse zu dieser Art von Gesundheitsfanatikern, für die Gemüse schon zum Frühstück dazu gehört. Denn während Xander sich daran macht die orange Paprika ebenso gleichmäßig zu zerschneiden, wie Jesse es mit der grünen getan hat, kümmert der sich bereits darum ein paar Möhren den gar auszumachen. Was soll das denn bitte werden? Gemüsepotpourri zum Frühstück? Nicht das Xander etwas gegen Gemüse hätte, aber gut, man muss auch nicht übertreiben.
Xander will schon Fragen, wozu das eigentlich gut sein soll, als Jesse ihm eine Schüssel hinhält und ihm bedeutet, seine geschnittene Paprika zum restlichen Gemüse dazuzugeben. Xander tut das. Und er tut es, ohne zu Fragen. Denn mit einem Schlag hat er das Gefühl, es ist besser nichts zu Fragen. Jesse wirkt mit einem Mal merkwürdig unnahbar. Nicht das er irgendwie unfreundlich wäre, aber er spricht nur noch das nötigste mit ihm, wenn er denn was sagt und zudem scheint er sich zu bemühen eine gewisse Grunddistanz zwischen ihnen zu schaffen, die Xander auch nicht mehr zu überstreiten wagt. Vielleicht ist er Jesse in den letzten Tagen einfach zu sehr auf die Nerven gegangen. Ja, vermutlich ist er das.
Jesse stellt die Schüssel mit dem geschnittenen Gemüse in den Kühlschrank und Xander kommt zu dem Schluss, dass er eventuell zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückgreifen wird. Denn danach holt Jesse Brot für das Frühstück aus dem Schrank. Xander verspürt abermals wenig Appetit. Die gedrückte Stimmung trägt sicherlich ihren Teil dazu bei. Als er die Küche verlässt, scheint Jesse kein Interesse daran zu haben, ihn zu fragen, wo er hin will. Und Xander hat kein Bedürfnis dazu, es ihm mitzuteilen.
Er findet seine verschlissene Kleidung im Wäschekorb im Badezimmer. Bereits gewaschen. Er schließt die Tür hinter sich zu und duscht. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ohne Zeitdruck oder dem Gefühl etwas Unangenehmen bevorzustehen. Als er mit völlig zerzausten aber somit auch beinahe komplett trocken gerubbelten Haaren das Badezimmer wieder verlässt, ist Jesse nirgendwo zu sehen. Aber das ist okay. Er wird ihn nicht suchen. Wenn es Jesse lieber ist, dass er ihm fernbleibt, dann wird er das tun. Kein Problem. Seine ramponierten Chucks findet er im Flur. Er zieht sie über und spielt für einen Moment mit den Gedanken sich kurzerhand auch eine von Jesses Jacken zu schnappen, die an der Garderobe hängen. Natürlich nur leihen. Doch er verwirft die Idee so gleich wieder. Besser nicht. Sonst denkt Jesse noch, er will sich aus dem Staub machen. Das Resultat dieser Entscheidung ist, dass er unweigerlich beginnt zu frösteln, als er der kalten Morgenluft wenige Sekunden später entgegen tritt. Die schwere Eingangstür fällt hinter ihm ins Schloss. Vielleicht ist er wieder etwas zu empfindlich, was die Geräusche in seiner Umgebung betrifft, doch es fühlt sich so an, als wollte der Laut der zufallenden Tür die morgendliche Stille zerreißen.
Er atmet einmal tief durch und schaut seinem eigenen Atem dabei zu, wie er in der kalten Luft kondensiert. Es bilden sich kleine Wölkchen. Um ihn herum glitzert der, wohl in der Nacht frisch gefallene, Neuschnee. Es könnte eine wahnsinnig idyllische Szene sein, tobte in Xanders innerem nicht ein Sturm. Er schließt die Augen für ein paar Sekunden. Versucht sich darauf einzustellen, was ihm in den nächsten Tagen bevor stehen wird. Sich der Veränderung schon einmal stellen. Aber es gelingt ihm nicht wirklich. Das beunruhigt ihn nur noch mehr. Er vermag nicht zu sagen, ob er in diesem Moment vor Aufregung, Angst oder Kälte zittert.
Er muss dringend den Kopf freu bekommen. Deshalb beginnt er zu laufen. Obwohl sich seine Beine nach den Tagen des Herumliegen und Sitzens noch immer wackelig anfühlen. Er muss sich einfach bewegen. Spüren, dass er am Leben ist. Das alles gut ist.
Er läuft ohne jegliches Zeitgefühl. Der Wald ist sein stiller Begleiter. Vorbei an Baumreihe für Baumreihe. Das ein oder andere Tier wird von seinem Lauf aufgeschreckt. Doch es kümmert ihn nicht. Es geht über Stock und Stein. Eine Baumwurzel wird zum scheinbar unüberwindbaren Hindernis und ehe er sich versieht, liegt er auf dem hartgefrorenen und schneebedeckten Waldboden. Schürft sich Hände und mit Sicherheit auch Knie auf. Die rechte Hand ist blutig. Die linke – die von einer kleinen rosa Narbe geziert wird, dort wo sich bei seinem und Jesses zweiten Treffen ein Glassplitter hinein gebohrt hat – ebenso. Der Schnee färbt sich rötlich. Xander kümmert es nicht. Er springt wieder auf. Spürt das Adrenalin immer noch durch seinen Körper rauschen. Er muss weiter. Immer in Bewegung bleiben. Also läuft er. Weiter und weiter. Das Rot des Morgens verliert sich am Himmel. Ein tristes Grau setzt statt seiner ein. Ab und zu bricht die Sonne zwischen den Wolken hervor. Und Xander läuft weiter. Obwohl sein Körper lange protestiert, die Luft in seinen Lungen brennt und das Blut in seinen Ohren rauscht. Am Himmel wird das triste Hellgrau durch dunklere Schattierungen ersetzt. Die Sonne hat sich verzogen. Die grauen Wolken haben ihren Platz vollständig eingenommen. Noch immer kümmert es Xander nicht. Er konzentriert sich darauf auf den Beinen zu bleiben. Bis diese unter ihm nachgeben. Er kann nicht mehr. Sein Körper zieht unmissverständlich die Notbremse. Das Endet in einer erneuten Bekanntschaft mit dem Boden. Eine auf die Xander gewiss hätte verzichten können. Erschöpft dreht er sich auf den Rücken. Bleibt einfach liegen. Sein Puls rast. Er spürt sein Herz in seiner Brust schlagen. Es hämmert förmlich dagegen, als drohe es damit, jede Sekunde daraus hervorzubrechen. Xander ist längst nicht mehr kalt. Sein Körper ist von einer gleichgültigen Taubheit ergriffen. Er schließt die Augen, lässt sich von der trügerischen Ruhe einnehmen.
Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis sein Körper sich gegen diese Taubheit zur Wehr setzt. Er beginnt zu Zittern und mit einem Mal beginnt jeder einzelne Muskel seines Körpers zu schmerzen. So kommt es ihm jedenfalls vor. Aber wie hat Jesse noch vor ein paar Tagen gesagt? Er besitzt 665 davon. Also vermutlich doch nicht jeder. Macht das Ganze aber nicht wirklich besser. Seine Augen wollen sich nur schwerfällig öffnen. Das erste was er wahrhaftig wahrnimmt ist der Himmel über ihn, der zwischen den Blattlosen Baumkronen hervorschaut. Das Grau des Tages verliert sich bereits wieder. Statt seiner nimmt der Himmel die Farben der untergehenden Sonne ein. Farben einer Wintersonne, die den Tag über wohl kaum am Himmel zu sehen war und ohnehin keine Wärme spendet.
Es dauert lange, bis er wieder auf die Beine kommt. Seine Kleidung klebt feucht an seinem Körper. In seinem nassen Harr schmilzt der Neuschnee, der während seiner Koma ähnlichen Ruhepause erneut gefallen sein muss. Ihm sollte wahnsinnig kalt sein und irgendwo tief in seinem Inneren spürt er auch, dass ihm kalt ist. Vor allem fühlt er sich jedoch leer. Leer und ausgelaugt. Wozu das alles? Im Grunde genommen spukt diese Frage bereits seit dem ersten Tag des Entzuges in seinem Kopf herum. Er weiß, dass das nicht die richtige Einstellung ist und er ärgert sich wahnsinnig darüber. Scheinbar problemlos beantwortet Jesse diese Frage schließlich für sich, während er selbst doch zu keinem Ergebnis kommt. Nur hilft ihm das auch nicht weiter. Er seufzt, fährt sich durch das nasse Harr um seinen Pony, der ihm in nassen Strähnen ins Gesicht hängt, aus diesem zu verbannen. Dabei setzt er sich in Bewegung doch es braucht seine Zeit, bis er die Orientierung wiedergewinnt. Könnte daran liegen, dass so was wie ein Orientierungssinn bei ihm nicht einmal im Ansatz vorhanden ist.
Als er nach gefühlten Stunden auf der Lichtung ankommt, auf der die Holzhütte steht, hält er abrupt in seiner Bewegung inne. Der andere sitzt da auf der Veranda, als wäre es das normalste der Welt. Als würde er auf ihn warten und Xander hätte ihre Verabredung schlichtweg vergessen. Ein Blick in Jesses leuchtend grüne Augen beweist Xander, dass es so ist. Jesse hat auf ihn gewartet. Mit weit von sich gestreckten Beinen sitzt er da. Die dicke Winterjacke hält wohl die größte Kälte von ihm fern und die Thermoskanne in seinen Händen verrät dem Schwarzhaarigen, dass er wohl schon etwas länger hier draußen wartet.
Noch bevor Xander irgendwie reagieren, irgendetwas sagen kann, kommt der Ältere schon schnellen Schrittes auf ihn zu. Mit einem Satz ist er auf den Beinen. Jesse ist richtig nervös. Das bemerkt Xander, als er sieht, wie die Hand zittert, die noch immer die Thermoskanne fest umklammert hält. Und er fragt sich unweigerlich warum. Vor ihm bleibt Jesse stehen. Für einen Moment sehen sie sich einfach nur in die Augen. Jesses intensiver Blick macht Xander nervös, augenblicklich wendet er den Kopf ab. Er kann sich nicht helfen, aber wenn er zu lange in Jesses Augen schaut, hat er das Gefühl seine Beine können ihn nicht weiter tragen. Und irgendwie überschlagen sich dann immer alle seine Gedanken. Es ist Jesses Räuspern, das ihn zurück ins Hier und Jetzt holt. Der Medizinstudent fährt sich unruhig durch das rotblonde Haar, während er Xander mitteilt, dass der sich mit einem solchen Verhalten eines Tages umbringen wird. Vorwurfsvoll bemerkt Jesse, dass seine Lippen schon ganz blau sind und fragt ihn, warum er sich nicht zumindest eine Jacke mit raus hatte nehmen können, wenn er schon vorhatte mehrere Stunden draußen in der Kälte herum zu laufen. Die grünen Augen mustern ihn kurz, bevor Jesse noch hinzufügt:
„Gott, du bist ja von Kopf bis Fuß nass. Was hast du denn gemacht?“
Doch noch bevor Xander eine Antwort auf die Frage geben könnte – nicht das er das wollte, aber er hat auch keine Gelegenheit dazu bekommen – schickt Jesse ihn ins Haus. Für eine Sekunde keimt der Gedanke in Xander auf, sich dagegen zu wehren. Wer hat Jesse bitte erlaubt ihn herum zu kommandieren? Um des lieben Friedens Willens sieht er allerdings davon ab. Außerdem ist ihm mittlerweile tatsächlich ziemlich kalt. Im Haus geht es mit den Anweisungen weiter und Xander hat irgendwie weder die Lust noch die Kraft dazu jetzt mit Jesse darüber zu streiten, dass er alt genug ist, um zu wissen was er tut. Also geht er klaglos duschen, nur um danach abermals in eins von Jesses Shirts und eine seiner Hosen zu schlüpfen. Als er danach mit Jesse reden will – er will einfach verstehen was er falsch gemacht hat, dass der Ältere sich heute schon den ganzen Tag über so merkwürdig verhält – ist Jesse erneut verschwunden. Xander seufzt laut. Das darf doch nicht wahr sein. Was ist denn los?
In der Küche steht ein dampfender Teller. Doch von Jesse weiterhin keine Spur. Ergeben setzt Xander sich an den Küchentisch. Er hat den Wink mit dem Zaunpfahl schon verstanden. Als er den Teller nun genauer betrachtet, erkennt er das Gemüse von heute Morgen wieder. Dafür war das also. Zum angebratenen Gemüse hat Jesse Reis gekocht und nachdem Xander einen Bissen probiert hat, muss er sich zu seiner Überraschung eingestehen, dass Jesse anscheinend kochen kann. Damit hat er irgendwie nicht gerechnet. Aber es schmeckt definitiv und das Gericht ist fleischlos. Ob das jetzt Zufall ist, oder aber Jesse es gut gemeint hat, lässt sich schwer sagen, aber Xander nimmt es trotzdem dankbar an.
Nach dem Essen – obwohl Xander durchaus wirklich Hunger hatte, war es ihm schier unmöglich diesen riesen Teller aufzuessen – sucht er erneut nach Jesse. Es lässt ihm einfach keine Ruhe, wie sich der Andere heute verhalten hat und wenn er ihn nicht zur Rede stellt, dreht er womöglich noch durch. Ein kurzer Gang durch das Haus verrät ihm, er wird innerhalb der vier Wände nicht fündig. Die einzig logische, daraus resultierende Feststellung ist die, das Jesse sich wohl draußen aufhält. Draußen muss Xander auch nicht lange suchen. Um genau zu sein wird er fündig, sobald er nur die Haustür aufmacht. Wieder sitzt Jesse auf der Veranda Treppe. Mittlerweile ist es draußen dunkel geworden. Die Sterne stehen hoch erhoben am Himmel und scheinen – zumindest Jesses konzentrierten Blick nach oben zu urteilen – hochinteressant zu sein. Neben Jesse liegt eine zweite Jacke und da Xander nicht davon ausgeht, dass Jesse insgeheim auf den Zwiebel-Look steht, kommt er nicht umhin sich die Frage zu stellen, ob Jesse jeden seiner Schritte eigentlich vor ihm kennt.
Leise schließt er die Tür hinter sich, unschlüssig, ob Jesse ihn wohl schon bemerkt hat, oder nicht. Doch die Frage erübrigt sich alsbald, denn Jesse klopft unmissverständlich mit der Hand auf den freien Platz neben sich. Ergeben lässt Xander sich neben Jesse sinken, der ihm prompt die bereitliegende Jacke reicht. Xander zieht sie klaglos über. Aber bevor Jesse irgendetwas sagen kann, falls er denn irgendetwas sagen möchte, platzt es aus Xander heraus.
„Was habe ich falsch gemacht?“
„Was?“
Jesse sieht ihn perplex an und Xander fühlt sich gleich ein wenig komisch. Das hätte er auch anders formulieren können.
„Na ja …“, murmelt er „irgendwie hab‘ ich das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben. Verstehe mich nicht falsch, ich weiß ich bin nicht gerade einfach und dass du schon eine Menge für mich getan hast und ich will mich ja auch nicht beschweren, aber irgendwie warst du heute Morgen so anders als die letzten Tage Ich weiß auch nicht.“
Jesse sieht ihn bei seiner Ausführung aufmerksam an – soweit Xander das beim Licht von Mond und Sternen erkennen kann – und schüttelt dann den Kopf. Er schaut sogar ein wenig zerknirscht drein und Xander kommt insgeheim zu dem Schluss, dass er Jesse nicht darauf hätte ansprechen sollen, als dieser antwortet:
„Du hast Recht. Ich hab mich vermutlich, wie sagst du, komisch verhalten? Aber das liegt nicht daran, dass du etwas falsch gemacht hättest, okay abgesehen davon dass ich dir davon abrate weiterhin in Jeans und T-Shirt durch schneebedeckte Wälder zu rennen, es gibt da einfach ein Problem, wie gesagt, dass ich mit mir selbst ausmachen muss. Ich wollte aber keineswegs, dass du dich dafür verantwortlich fühlst. Wenn das so ist, tut es mir leid.“
Xander nickt. Ein wenig verwirrt und gleichermaßen erleichtert. Dann legt sich Stille zwischen sie. Aber es ist eine Stille der angenehmen Art. Xander fragt nicht weiter nach Jesses Problem, denn er ist davon überzeugt, würde Jesse darüber reden wollen, täte er es. Und so ist es ein einvernehmliches schweigen. Bis Xander einen Hustenanfall bekommt und damit die bestehende Ruhe zerstört. Jesse bedenkt ihn nur mit einem „Habe-Ich-Es-Nicht-Gesagt“ Blick. Das reicht auch schon um Xander missmutig grummeln zu lassen, dass er seine Lektion gelernt hat. Ist ja auch nicht so, als ob er das Hobbymäßig regelmäßig tuen würde, das war heute eindeutig eine Ausnahmesituation. Diese laute Feststellung bringt ihm die Frage ein, ob er früher regelmäßig Sport gemacht habe.
Xander bricht in prustendes Lachen aus.
„Nein, definitiv nicht. Es sei denn, vor der örtlichen Polizei zu fliehen gilt auch als sportliche Betätigung. Ich bin Sportverweigerer aus Gewissensgründen.“
Jesse stimmt in sein Lachen mit ein.
„Zu Schulzeiten war ich das auch“, bekennt er.
„Habe ich auch nicht anders erwartet.“
Das kam Xander schneller über die Lippen als geplant. Jesse reagiert aber eher mit gespielter Bestürzung. Xander erntet einen Schlag gegen den Oberarm – der ihm nur nebenbei bemerkt deutlich mehr weh tut, als er jemals zugeben wird – bevor Jesse ihn gekünstelt gekränkt fragt:
„Hey, was soll das denn heißen?“
„Oh, bitte. Wenn ich raten soll, würde ich sagen du warst Mitglied im Debattier-Club und bestimmt auch im Schach-Club.“
„Debattier-Club, ja. Schach-Club, nein. Und du?“
Xander schüttelt leicht den Kopf. Hat dabei ein Grinsen auf den Lippen. War ja klar. Dann antwortet er:
„Keine Schulclubs.“
„Keine Schulclubs? Nicht einen einzigen? Gab es denn nichts, was dich irgendwie interessiert oder gereizt hätte?“
Jesse klingt, als könnte er sich nicht vorstellen, dass es so etwas gibt.
„Doch, schon“, gibt Xander vorsichtig zu.
„Die Schulband hätte mich grundsätzlich interessiert. Aber die waren scheiße. Die Gitarristen konnten eine E-Gitarre nicht mal von ‘nem Bass unterscheiden und die Sängerin klang wie eine zu heiß gebadete Katze.“
Jesses leisem Räuspern nach zu urteilen und dem schiefen Blick zur Seite, ist er sich auch nicht sicher, ob er eine E-Gitarre von einem E-Bass unterscheiden kann. Vielleicht ist die nächste Frage nur ein Versuch diesen peinlichen Moment zu überspielen, eventuell ist es aber auch einfach ehrliches Interesse.
„Also spielst du ein Instrument?“, aus Jesses Stimme schwingt die Überraschung mit. Xander kann förmlich hören, dass er damit nicht gerechnet hat.
„Hmm“, antwortet er vage, bevor er noch ein „Gitarre und Bass“, hierhersetzt.
Jesses sanftes Lachen ertönt.
„Aha, du kannst also Gitarre und Bass voneinander unterscheiden.“
Xander muss sogleich auch lächeln. Jesses lächeln steckt einfach an. Dann fragt er:
„Und du? Ich meine, du warst doch sicher in mehr Clubs engagiert als nur dem Debattierclub, oder?“
„Stimmt“, bestätigt Jesse ihm nickend.
„Ich war außerdem Vorsitzender des Astronomie Clubs und im Vorstand der Schülerzeitung.“
Xander zieht eine Augenbraue in die Höhe.
„Vorsitzender des Astronomie Clubs?“
Jesse lacht und fragt, ob das in Xanders Ohren langweilig klingt. Er verneint das. Nicht langweilig nur eben wieder unerwartet. Aus reiner Neugier fragt er den Älteren, wie er zum Astronomie Club gekommen ist. Ist ja nicht gerade der beliebteste Club. Muss man erst mal drauf kommen.
Und ausgerechnet diese Frage bringt Jesse dazu erstmals etwas wirklich Persönliches von sich zu erzählen. Verdrehte Welt. Diesmal hört Xander aufmerksam zu. Wirklich aufmerksam. Und er beginnt zu begreifen: Nicht alles was glänzt ist Gold. Es ist nicht so, dass Jesse es wirklich aussprechen würde, aber er merkt, unter welchem Druck der andere steht. Dem Druck es immer allen recht machen zu wollen. Das wird Xander nach den ersten Ausführungen klar. Denn als es um die Clubs geht, die Jesse zu Beginn seiner High School Zeit gewählt hat, geht es erst einmal um all die Clubs die Jesses Vater sich für ihn gewünscht hätte. Vom Basketballclub, zum Schwimmclub – Sport ist auf jeden Fall hoch im Kurs gewesen – bis hin zum Key Club. Xander kann sich Jesse in keinem davon vorstellen. Doch, im Key Club vielleicht, aber das ist auch schon der wahrscheinlichste aus der langen Liste von Clubs, die Jesses Vater vorschwebten.
Schlussendlich hat Jesse sich aber doch durchgesetzt und ist den Clubs beigetreten, die ihm gefallen haben. Auch wenn das ein Kampf war. Ebenso wie letztendlich Medizin, statt BWL zu studieren, wie Xander aus den Erzählungen heraushört. Unglaublich. Seinem Vater wäre Besseres eingefallen, als sich darüber aufzuregen, dass Xander Medizin studieren will. Da ist er sich sicher. Nicht, dass es jemals so weit gekommen wäre, aber darüber hätte es immerhin keinen Streit gegeben. Die Liebe zur Astronomie kommt übrigens von Jesses Großvater, wie er erfährt. Und es ist wirklich Liebe. Allein daran, wie Jesses Stimmenlage sich verändert, wenn er von den verschiedensten Sternenkonstellationen spricht, macht das deutlich.
Grandpa Earl hat Jesse schon als kleines Kind immer auf die Sterne am Himmel aufmerksam gemacht – dabei lacht Jesse, er sagt wenn seine Mutter gewusst hätte, das Jesse und sein Großvater immer bis spät in die Nacht hinein aufgeblieben sind, um Sterne zu betrachten, hätte er wohl nicht so oft bei seinem Opa übernachten dürfen - und ihm mit vier Jahren das erste Teleskop zu Weihnachten geschenkt. Zu jedem weiteren Geburtstag und Weihnachten folgten verschiedenste Linsen und anderes Zubehör. Bis heute liebt Jesse es, ab und zu die Sterne zu betrachten. Und er liebt seinen Opa mindestens genauso sehr, schießt es Xander durch den Kopf. Aber er kommt nicht mehr oft dazu den Sternenhimmel zu betrachten.
„Wieso?“, rutscht es Xander automatisch heraus.
Jesse zieht die Augenbrauen zusammen.
„Es geht nicht. Wegen der ganzen Lichter. Hast du schon mal einen klaren Sternenhimmel über New York gesehen? Das liegt an den ganzen Leuchtreklamen. Sie überstrahlen das Licht der Sterne, deshalb sind sie am Himmel fast nie zu sehen.“
Autsch. Das hat er eigentlich auch gewusst. Er hat nur nicht darüber nachgedacht, als er gefragt hat. Aber man muss Jesse zu Gute halten, dass es auch keineswegs überheblich klang. Nur erläuternd. Hätte Xander aber auch nur ein paar Sekunden nachgedacht, wäre er auch selbst darauf gekommen. Deshalb nickt er nur.
„Deswegen steht das Teleskop in deinem Schlafzimmer, oder? Hier kann man die Sterne betrachten.“, stellt er fest. Denn jetzt kommt ihm das Teleskop in den Sinn, dass ihm gestern Morgen mehr unbewusst ins Auge gesprungen ist.
Jesse gibt ein zustimmendes Brummen von sich.
„Ja, aber siehst du wie die Sterne heute Abend leuchten? Die Wolken, die den ganzen Tag am Himmel standen, haben sich verzogen. Jetzt braucht man kein Teleskop. So strahlen sie.“
Bei diesen Worten blickt Jesse verträumt in den Himmel und für einen Augenblick könnte Xander schwören, dass Jesses Augen mindestens genauso leuchten wie die Sterne. Als er selbst nach oben blickt, sieht er jedoch nicht viel. Er hat keine Ahnung von Astronomie. Und er erkennt kein einziges Sternenbild. Unsicher beißt er sich auf die Lippe. Er sieht dort oben nichts als weiß leuchtende Punkte. Als er etwas beschämt den Blick abwendet, stellt er fest, dass Jesse ihn beobachtet hat. Augenblicklich wird ihm unbehaglich zumute. Doch Jesse schaut ihn nur stumm von der Seite aus an und legt den Kopf schief, als er fragt:
„Soll ich dir ein paar Sternenbilder zeigen? Es ist eigentlich ganz leicht sie zu erkennen.“
Die Stimme des Älteren klingt dabei so weich und ermunternd, dass Xander zögerlich nickt. Wieso auch nicht?
So stehen sie also wenig später auf der Veranda. Xander ans Geländer gelehnt, Jesse direkt hinter ihm. Es ist ungewohnt, ja. Aber in keiner Weise unangenehm. Der Medizinstudent hält Xanders Arm lang ausgestreckt, mit einem Fingerzeig weist er vage die Richtung zur ersten Sternenkonstellation. Dabei überragt Jesses Arm seinen um deutlich mehr als eine Handlänge. Dennoch gelingt es Xander so besser, der Richtung zu folgen, die Jesse ihm zeigen will.
„Siehst du die drei leuchtenden Sterne, die dort in einer Reihe stehen?“, Jesse lässt ihre Finger eine imaginäre Linie in der Luft entlang wandern „Das ist der Gürtel des Orion.“
Xander folgt der Linie und tatsächlich sieht er, worauf Jesse zeigt. Der wandert noch ein Stück höher, verweist auf zwei besonders kräftig leuchtende Sterne, welche die Schulterblätter Orions darstellen. Und umso mehr Jesse redet, desto klarer wird das Sternenbild. Bald sieht Xander von ganz alleine Pfeil und Bogen, die Orion hält. Und auch als ihr Blick den Himmel weiter entlang gleitet, erkennt Xander nach einigen Anläufen das Sternenbild des großen Hundes. Dessen Hauptstern heller als die anderen zu strahlen scheint, und wie er von Jesse erfährt Sirius heißt. Nur das Sternenbild des kleinen Hundes kann Xander beim besten Willen nicht erkennen. Die zwei Sterne, die einen Hund ergeben sollen, wirken für Xander eher willkürlich und egal wie sehr Jesse ihn davon zu überzeugen versucht, einen Hund darin zu sehen, Xander sträubt sich. Jesse erklärt munter weiter, es scheint ihn nicht sonderlich zu stören. Er hat Xander das Winterdreieck gezeigt, jenes Sternenbild, dass zu dieser Jahreszeit am aller deutlichsten hervortritt. Es stimmt. Alle Sternenbilder gemeinsam ergeben anhand ihrer Standpunkte ein gleichschenkliges Dreieck. Das räumt Xander nun doch bereitwillig ein. Und wieder ertönt Jesses ansteckendes Lachen.
„Okay“, grinst er. „Noch ein einziges Sternenbild, ja? Dann hören wir auch wieder auf mit dem Astronomie Kurs für Anfänger.“
„Okay, Galileo. Eines noch“, gibt Xander sich geschlagen. Denn so Interessant das Ganze auch sein mag und so sehr er es genießt Jesses überschwängliches Gerede zu hören, – der Grünäugige wirkt mit einem Mal wieder unbekümmert und befreit – so müde ist er auch.
Jesse reckt seinen und somit auch Xanders Arm noch einmal ein Stück weiter in die Höhe. Der Fingerzeig weist nun auf zwei nebeneinander stehende Sterne, ähnlich denen des kleinen Hundes. Nur deutlich heller.
„Das sind Castor und Pollux.“
Jesse macht eine kurze Pause, bevor er fortfährt:
„Gemeinsam bilden sie das Sternenbild Zwilling.“
Und während Jesse das erzählt, fährt sein Finger abermals nicht vorhandene Linien in der Luft nach. Zu seinem Erstaunen muss Xander auch hier wieder feststellen, dass sich doch glatt wirklich ein Bild ergibt. Zwei Menschen, die sich bei den Händen halten. Pollux und Castor also. Die Zwillinge. Die beiden hell leuchtenden Sterne sind ihre Köpfe. Gesichter, die dort hoch oben am Himmel thronen und auf die Erde nieder zu blicken scheinen. Xander beschließt, dass es von den bisher kennen gelernten Sternenbildern sein liebstes ist.
Langsam lässt Jesse ihre Arme sinken. Xander dreht sich automatisch um, und so kommt es, dass er sich fast in einer Umarmung wiederfindet. Verlegen räuspert er sich. Jesse schaut plötzlich betont in eine andere Richtung und ist mindestens genauso verlegen. Xander will sich der Situation entziehen und versucht an Jesse vorbei ins Haus zu kommen, doch weil Jesse im selben Augenblick einen Schritt zur Seite tritt, vermutlich weil er Xander eigentlich Platz machen will, stolpert der über dessen Füße. Noch nach Halt suchend dreht Xander sich und bekommt auch Jesses Arm zu fassen, doch statt sich so einen sicheren Stand zu sichern, zieht er den überrumpelten Studenten mit sich zu Boden. Das Resultat ist eine neue Bekanntschaft für Xanders Rücken, nämlich der harte Verandaboden. Und würde Jesse nicht im letzten Moment noch genug Geistesgegenwart beweisen und sich mit seinen Händen ein wenig abfedern, wäre das alles noch deutlich schmerzhafte für Xander ausgegangen. Zwar landet er immer noch direkt auf ihm, so aber zumindest nur mit einem Teil seines Gewichts.
Als Jesse langsam leicht den Kopf hebt – man merkt ihn an, das er noch etwas benommen vom Sturz ist – sind ihre Gesichter mit einem Mal auf einer Höhe. Für den Moment steht die Welt still. Xander blickt in tief grüne Augen, deren Farbe er viel zu intensiv wahrnimmt, dafür dass es so dunkel ist. Tief grüne Augen blicken zurück. Regungslos. Gebannt. Schonungslos. Und dann passiert es. Nur für den Bruchteil einer Sekunde spürt er Jesses Lippen auf seinen eigenen.