https://www.deviantart.com/ifritnox/art/691007069
Die Sonne ging auf. Ihre Strahlen zeichneten sich in dem weißen Nebel deutlich ab, der über den Wiesen wallte. Das Gras war feucht vom Tau, die Luft klar und frisch. Die letzten Sterne und ein blasser Mond waren noch am Himmel zu sehen, als Iljan eine Pause befahl.
Die einsame Eiche lag weit hinter ihnen, also konnten die Kinder der Sonne ihre Gefangenen nirgendwo festbinden. Cary und Terziel mussten sich auf den Boden setzen, Rücken an Rücken, wo ihre Hände zusammengebunden wurden. Außerdem schlang ihnen Najaxis Seile um die Beine, wobei er nicht an zweideutigen Bemerkungen und scheinbar zufälligen Berührungen geizte.
Cary schenkte dem Inkubus einen tödlichen Blick, aber sie reagierte nicht weiter, in der Hoffnung, dass Najaxis irgendwann die Freude an seinen Spielchen verlieren konnte.
Die Dunklen suchten sich Plätze im hohen Gras. Sie waren nicht einmal vor einem flüchtigen Blick geschützt. Cary hoffte inständig, dass sich eine Patrouille von Quelltal hierher verirren würde. Die Zentauren würden den roten Drachen Askook sofort entdecken, Caryellê und Terziel wären wieder frei.
Doch das Dorf lag weit hinter ihnen, ebenso unerreichbar wie auch der Tempel von Quellheim. Die Leishebene war groß, leer und verlassen unter dem hellen Himmel, über den die ersten Wolken zogen. Sie hatten die Grenze von Querak erreicht, einem unwirtlichen, lebensleeren Sumpfland, das bis an die Grenze der Schmiedeberge ging, jener Gebirgskette, die die äußerste Grenze der bekannten Welt bildete.
Schon hier konnte man es spüren. Das Gras war hart und kurz, rötlich. Es gab immer mehr dürre Sträucher und fleischige Pflanzen, wie sie im Sumpfgebiet vorkamen. Ab und zu zeigte sich ein zäher, dürrer Strauch.
Caryellê ließ den Blick über die weiten, ebenen Wiesen gleiten. Und sie kämpfte gegen die Verzweiflung an. Schon wieder war sie eine Gefangene, diesmal standen ihre Chancen noch schlechter. Die naiven Kinder der Sonne hatten gelernt, in den Landen des Lichts Vorsicht walten zu lassen. Gudrun hatte irgendwie das Vertrauen der Dunklen erschlichen und war nicht länger gefesselt, und Stella, obwohl sie schon beinahe wieder wie früher aussah, hatte sich auf die Seite des Bösen gestellt.
Das Einhorn war gefallen. Jetzt vertraute es der bösen Hexe. Dass Stella sie befreien könnte, war ein Wunschtraum.
Caryellê zog die Knie nah an die Brust. Bei ihrer ersten Begegnung, so erinnerte sie sich, hatte Iljan ihre Fesseln gelöst, mit dem Hinweis, dass es nicht gerade bequem war, die Hände ständig auf dem Rücken zu tragen.
Inzwischen konnte sie das bestätigen. Ihre Schultergelenke schmerzten, die Knochen fühlten sich verdreht an. Sie war müde, weil sie keinen Schlaf mehr fand, und sie hatte Hunger. Sie zog die Knie noch weiter heran und legte den Kopf darauf ab. Hinter sich fühlte sie Terziel, der verzweifelt nach einer besseren Sitzposition suchte.
Nach einem halben Tag stand Iljan wieder auf. Die Sonne war hoch geklettert und brannte nun unbarmherzig auf das Land. Er ging zu ihrem Gepäck und holte Holz, das er zu einem kleinen Kegel aufschichtete. Von dieser Aktivität geweckt, standen nach und nach die anderen auf. Gudrun schnappte sich einen Kessel aus Gusseisen und begann, lauthals nach den Zutaten für einen Eintopf zu verlangen. Die rehabilitierte Hexe brachte die Gruppe schnell auf Trab: Jackie ging mit der großen Wasserflasche los, einen Bach oder See zu suchen, Najaxis saß bald im Schneidersitz neben Gudrun und schälte Gemüse. Askook entzündete das Lagerfeuer mit einem leisen Husten.
Iljan sah über die kleine Gruppe und beobachtete den Rauch des Feuers, der in den Himmel stieg. Er hoffte, dass der Qualm keine Verfolger auf ihre Spur bringen würde.
Er bemerkte, wie die Gefangenen ihre Vorbereitungen aufmerksam verfolgten und insbesondere Najaxis – beziehungsweise das Gemüse – mit hungrigem Blick beobachteten.
Iljan ging zu der Elfe und dem Engel. Schweigend überprüfte er den Sitz der Fesseln. Er hatte ein schlechtes Gewissen, als er sah, wie tief die Stricke den beiden in die Beine schnitten. Aber Cary und Terziel hatten deutlich gemacht, dass sie ihm nicht zuhören würden. Sie waren bereit, die Kinder der Sonne umzubringen. So lange das ihr Ziel war, konnte Iljan sich keinen Fehler leisten.
Jackie kam mit Wasser wieder. Iljan wartete, bis der Eintopf über dem Feuer kochte. Merkanto verteilte Schüsseln und Löffel. Zwei stellte er an die Seite und warf Iljan nur einen kurzen Blick zu.
Sie aßen schweigend und hastig. Der Eintopf bestand überwiegend aus Wasser, selbst mit Stella und Askook, die sich beide allein ernährten, waren ihre Vorräte knapp. Iljan aß nur wenig, gerade genug, um den quälenden Durst einige Stunden zu betäuben. Nach dem Essen füllte er zwei Schalen für Cary und Terziel.
Das Gesicht der Elfe verwandelte sich zu Stein, als sie ihn mit der Schüssel näher kommen sah und erriet, dass man ihre Hände nicht losbinden würde. Aber sie war hungrig, das konnte Iljan sogar riechen. Hungrige Elfen rochen mehr nach Tier und weniger nach vernunftbegabtem Wesen. Sie hatten mehr Ähnlichkeit mit einem Vampir, als Caryellê vielleicht lieb war.
Als er den vollen Löffel vor ihre Lippen hielt, sah sie ihm eine ganze Weile nur in die Augen. Dann versickerte ihr Stolz. Sie öffnete den Mund und ließ sich füttern.
Iljan hatte damit gerechnet, dass Merkanto den Engel übernehmen würde. Doch es war Abarax, der sich neben Terziel hockte und dem Engel ein äußerst spöttisches Grinsen zeigte. Eine Weile riss Terziel an seinen Fesseln und hätte Cary beinahe umgeworfen. Abarax packte den Engel am Kinn und hielt ihn fest.
»Tu ihm nicht weh«, sagte Iljan ruhig, ohne den Blick zu heben.
»Käme mir nicht in den Sinn«, feixte Abarax.
Sowohl Cary als auch Terziel wirkten erleichtert, als die demütigende Prozedur vorbei war. Ihre Schüsseln gehörten zu dem Letzten, was noch eingepackt wurde – die anderen Kinder der Sonne hatten die Zwischenzeit genutzt, um ihr Lager abzubrechen und alle Spuren sorgsam zu verwischen.
Iljan löste persönlich die Fußfesseln von Cary und Terziel. Diesmal überließ er die Elfe nicht Najaxis, sondern bewachte sie selbst.
Sie zogen weiter. Einer unbegründeten Hoffnung auf ein besseres Leben entgegen.
Eine Tagesreise später, am späten Morgen des nächsten Tages, hatten sie den Sumpf erreicht. Askook merkte es als Erster: Der rote Drache sackte unvermittelt in einer Pfütze ab, die sich als tiefer erwies, als sie ausgesehen hatte. Fluchend sprangen die anderen herbei, um den Drachen und ihre Vorräte aus dem Sumpf zu retten.
Dann standen sie auf einem der letzten Flecken trockenen Bodens.
»Sie hat uns in einen Sumpf geführt, einen verdammten Sumpf!«, schimpfte Askook und funkelte Caryellê dabei an. »Sie will uns umbringen!«
Iljan zog Cary hinter sich. »Natürlich will sie das nicht. Wir wussten, dass hier ein Sumpf kommt.«
Dann drehte er sich zu der Elfe um: »Wohin jetzt?«
»Nach Südosten«, erklärte sie leise. »Immer am Rand des Sumpfes vorbei, bis wir die Berge sehen können.«
Askook grummelte unzufrieden. »Warum gehen wir nicht gleich zu den Bergen?«
»Weil es auf dem Phönixberg von Wachposten nur so wimmelt«, erklärte Merkanto an Carys Statt. Der Magier war früher im Kriegsrat gewesen, zu der Zeit, als eine aussichtsreiche Offensive an genau diesem Berg gescheitert war: Dem Phönixberg, einem entfernten Außenposten der Zwergenstadt Stoqik.
Askook schnaubte und wandte sich der steigenden Sonne zu. »Also los.«
Die Luft war erfüllt vom Sirren der Mücken. Caryellê war bereits bis auf die Knochen zerstochen, und immer noch kreisten Wolken von schwarzen Insekten um ihren Kopf.
Anfangs hatte eine Art Euphorie die Kinder der Sonne erfasst. Vielleicht, weil die Dunklen ihrem Ziel endlich etwas näher kamen. Zuerst hatte Jackie auch noch über die Mücken gescherzt: »Das sind ja schlimmere Blutsauger als du, Iljan!«
Inzwischen war die Freude verflogen.
Cary ging neben Terziel, aber der Engel beachtete sie nicht. Er sprach kein Wort und sah sie nicht einmal an. Hinter ihnen ging Najaxis. Obwohl der Inkubus schwieg, konnte Cary förmlich seinen Blick auf sich spüren, ein ständiges Brennen und Kribbeln. Es machte sie wütend, aber sie konnte nichts tun.
Sie liefen Tag und Nacht, bis sie vor Müdigkeit zu stolpern begannen. Dann machten sie ihre Rast, wo sie gerade standen, umringt vom Blubbern und Gurgeln des nahen Sumpfes, den sirrenden Mücken und dem Trällern unbekannter Sumpfwesen. Sie nahmen eine große Mahlzeit ein, sobald sie aufbrachen, zu welcher Tageszeit das auch sein mochte. Und Iljan gab nach mehreren Stunden Marsch Brot und Wasser aus, eine beinahe rituelle Erholungspause, die die Hälfte ihrer diestägigen Reise markierte.
Längst hatte Cary jedes Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht mehr genau, vor wie vielen Tagen sie von Quellheim aufgebrochen waren. Der Neumond kam und ging, die Sterne zogen über den Himmel, gefolgt von der heißen Sonne.
Nach jeder Pause fühlte sie sich weniger erholt. Mit jedem Tag machten ihr die Fesseln deutlicher zu schaffen.
Sie war kurz davor, einfach aufzugeben, als endlich etwas geschah.
Iljan, der wie so häufig an der Spitze ging, stieß plötzlich einen Ruf aus.
»Seht!«, rief er seinen Begleitern zu und deutete nach vorne. »Seht, die Berge!«
Cary hob den Blick und kniff die Augen gegen das Licht der aufgehenden Sonne zusammen. Und tatsächlich, am Horizont zeigte sich eine gezackte, blaue Linie.
Das war das graue Gebirge, die Felsen, die Quellheim umrahmten wie die liebende Umarmung einer Mutter, die Berge, die im Osten in die Schmiedeberge übergingen. Irgendwo im Westen musste der berühmte Phönixsberg liegen, und noch weiter westlich erst Quellheim und dann die Weiße Feste auf Greifenfels, die Heimat der Wächter.
Wieder wurde die Hoffnung spürbar. Die Kinder der Sonne wurden schneller.
Das Ende der ersten Etappe war in Sicht.
Diesmal ging es beim Abendessen lauter zu. Jackie machte Scherze, Merkanto und der sonst so schweigsame Abarax maßen sich im Armdrücken, lauthals befeuert von Najaxis und Gudrun. Überhaupt war zwischen der Hexe und dem Inkubus eine ungewöhnliche Freundschaft entstanden, oder er die verschworene Verbrüderung von Zweien, die Schalk und Schabernack zu schätzen wussten. Stella, inzwischen wieder weiß wie Schnee, betrachtete den spielerischen Wettkampf mit belustigtem Schnauben.
Iljan hatte sich heute großzügig gezeigt. Er hatte erlaubt, mehr Vorräte als üblich für die Mahlzeit zu benutzen, und außerdem hatte er angeordnet, den Gefangenen die Fesseln für einige Stunden zu lösen.
Simultan hatte er damit Jackie den Spaß verdorben, denn sie war es gewesen, der er die Bewachung von Terziel und Cary übertrug.
Also stand sie neben der Elfe und dem Engel, etwas abseits von dem fröhlichen Treiben, das man beinahe als Feier bezeichnen konnte. Caryellê machte ein paar Dehnübungen, die bewiesen, dass sie in Sachen Beweglichkeit niemandem nachstand. Terziel öffnete und schloss die Flügel in einem meditativen Tempo.
Jackie ließ beide nicht eine Sekunde aus den Augen.
»Ihr seid ja ziemlich ausgelassen«, meinte Cary plötzlich.
»Wieso nicht?«, entgegnete Jackie, erfreut, dass die Elfe ein Gespräch suchte. »Wir haben die Ebene endlich hinter uns. Von jetzt an wird es einfacher.«
Caryellê lachte trocken. »Einfacher? Wo wird es denn einfacher?«
Jackie war verwirrt. »Wir haben die offene Ebene hinter uns gelassen. Wir begeben uns in einen geheimen Tunnel, und dann sind wir im Hinterland, wo uns niemand sucht.«
»Wo allerdings hunderte von Lichtwesen leben, die euch sofort bemerken werden«, gab Cary zurück. »Wo ihr keine Meile weit kommen werdet. Im Hinterland ist es für euch genauso gefährlich wie hier, wenn nicht gefährlicher. Hat dir das dein geliebter Vampir etwa nicht verraten?«
Jackie ballte die Fäuste und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, wie ihr Körper sich verändern wollte. Sie funkelte Cary an, doch die fuhr unbekümmert fort. »Er hat dich angelogen, kleine Hündin. Er vertraut dir die Wahrheit nicht an.«
»Halt die Klappe!«, schrie Jackie und wollte sich auf Caryellê stürzen.
Da hörte sie ein Flattern.
Sie wirbelte herum und sah einen Wirbel weißer Federn an der Stelle, wo Terziel sich soeben in den Himmel schwang. Auf einen Schlag wurde ihr alles klar: Elfe und Engel hatten sich wortlos abgesprochen, Caryellê hatte sie abgelenkt, damit Terziel fliehen konnte.
»Iljan!«, schrie Jackie laut und ließ die Verwandlung zu. Sie stürzte auf vier Pfoten, schüttelte die Kleidung ab und jagte los, hinter dem flüchtigen Engel her. Sie hörte ein Rauschen und spürte als einen Schauder im Fell, dass Iljan heran gekommen war, schnell wie ein Gedanke. Der Vampir hielt Caryellê fest und brüllte Befehle. Askook und Merkanto schlossen sich der Jagd auf den Engel an, Abarax folgte aus eigenem Antrieb.
Noch während Askook Anlauf nahm und die Flügel ausbreitete, um abzuheben, sprang Merkanto auf den Rücken des Drachen. Abarax folgte, ein pechschwarzer, geflügelter Dämon. Jackie rannte am Boden, platschte durch das hohe Sumpfwasser, Iljans Warnrufe im Ohr.
Sie wurde langsamer. Mücken flogen um sie herum, angelockt von ihrem erhitzten Körper. Der Sumpf lag schwarz und tückisch vor ihr.
Sie musste umkehren. Zu Pfoten konnte sie den Sumpf nicht durchqueren, nicht bei Nacht. Es war zu riskant.
Ein letztes Mal fletschte sie die Zähne in Richtung des Engels, dann trottete sie zu Iljan zurück.
Als Iljan aus dem Nichts neben ihr erschien, leistete Cary nicht einmal Widerstand. Der Vampir packte sie im Nacken wie ein Wolf, der ein Lamm riss und stieß sie auf den Boden.
Sie blieb liegen, das Gesicht im Dreck, bis Iljan aufhörte zu schreien.
Erst dann verlagerte er vorsichtig sein Gewicht, damit sie wieder atmen konnte.
Cary holte keuchend Luft und rührte keinen Muskel.
Es war still. Nur die Mücken sirrten durch die Luft.
Dann spürte sie, wie Iljan sich anspannte, wie er den Kopf schief legte und lauschte.
»Sie haben ihn«, erklärte er dann und Carys letzter Widerstand zerbrach. Terziel war gefangen, ihre Chance vertan. Sie schloss die Augen.
Zu ihrem Erstaunen redete Iljan weiter.
»Ich würde ihn gehen lassen, wenn ich nicht sicher wäre, dass er alle unsere Pläne sofort deinen Freunden mitteilen würde. Ich würde ihn gehen lassen, und dich auch. Ich hasse es, andere meine Kämpfe ausfechten zu lassen, andere für mich leiden zu sehen. Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich würde euch freilassen – wenn es nur ginge! Aber ich habe die Verantwortung für alle, die mir hierher gefolgt sind. Ich kann sie nicht dem Tod überlassen. Verstehst du das, Caryellê? Du bist doch auch Anführerin. Warum hast du uns denn von dem Geheimgang verraten, entgegen den Wünschen deines Engels? Um ihn zu retten. Manchmal müssen die Prinzipien zurückstehen, denn es geht um ein Leben.«
Iljan ließ sie los und half ihr, auf die Beine zu kommen. Er sah sie an. »Wir sind nicht die Bösen, Cary. In diesem Kampf seid ihr das Böse. Ich wünschte, es wäre anders, aber ich muss dafür sorgen, dass ihr keine Gefahr für uns seid.«
Cary sah den Vampir schweigend an. Lange. Selbst, als Terziel in das Lager geschleppt wurde, wandte sie den Blick nicht ab.
Zu ihrem Entsetzen merkte sie, dass sie dem Vampir zu glauben begann.