Du bist Aji.
„Besser?“, fragt Allyster und wirft einen prüfenden Blick in dein Gesicht.
Du nickst und siehst zu, wie der Magier den frischen Verband mit einem Stoffstreifen festbindet. Du ziehst den Ärmel deines Hemdes über die Wunde am Oberarm. Der Verband blitzt durch den Riss in deinem Hemd.
Die Tannen über euch flüstern und rauschen. Dichter Nebel hält sich in den Wipfeln und lässt den Wald in grünem Zwielicht versinken. Du bewegst testweise den angeschossenen Arm, doch abgesehen von einem leichten Pochen merkst du nichts von der Wunde.
„Jetzt bist du ein Kriegsinvalide“, scherzt Brenna und reicht dir deine Schüssel mit Eintopf. Es ist der Morgen nach eurer Flucht und ihr habt im dichten Unterholz ein kleines Lager aufgeschlagen. Das Feuer prasselt in einem Ring aus Steinen, darüber brodelt der Eintopf in einem Kessel aus Allysters Vorrat. Die Pferde stehen ein Stück hügelaufwärts und grasen friedlich.
Während du den Löffel mit langsamen, konzentrierten Bewegungen zum Mund führst, beraten sich Brenna und Allyster leise. Offenbar wollen sie dich aus ihrem erwachsenen Gespräch heraushalten, doch sie unterschätzen dein Gehör.
„Wir müssen den Schöpferstein finden“, stellt Allyster fest.
Brenna nickt mit düsterem Gesichtsausdruck. „Wenn wir nicht diesen Zeitdruck hätten, würde ich sagen, wir warten, bis die Dunkelelfen sich beruhigt haben.“
„Das geht leider nicht.“ Allyster seufzt. „Du hast Hauptmann Falur gehört: Wir sollen keine Zeit verlieren.“
„Wir nützen niemandem, wenn wir direkt wieder gefangen werden“, brummt Brenna und beginnt, ihre Säbel zu schärfen. Der Wetzstein singt auf dem Stahl. Für dich hat der Klang etwas Beruhigendes. Du bist am Grund deiner Schale angekommen und kratzt mit dem Löffel den letzten Rest heißer Flüssigkeit auf.
„Also gut, planen wir“, sagt Allyster schließlich. Stumm sind die beiden Erwachsenen übereingekommen, dass sie keine andere Wahl haben, als das Risiko einzugehen. Brenna dreht an ihrer vergoldeten Anstecknadel und betrachtet die kleine Krone missmutig.
„Immerhin wissen wir nun, wo das Schloss der Dunkelelfen liegt. Wir können uns in ihre Stadt schleichen. Der Schöpferstein muss dort sein.“
„Wissen wir das mit Sicherheit?“, fragt Brenna.
Allyster nickt. „Schöpfersteine besitzen Macht, ich konnte ihn spüren. Ganz abgesehen davon: Wo würdest du ein Friedensunterpfand deiner ehemaligen Feinde aufbewahren? Etwa im Wald, vergraben unter einem Holunderbusch?“
Brenna zieht eine Grimasse. „Also schön, wir müssen in das Schloss. Wie?“
Allyster antwortet, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: „Durch einen der Kanäle im Baumstumpf, würde ich sagen. Vielleicht führt uns einer davon in den Thronsaal.“
„Vielleicht?“, wiederholt Brenna.
„Du darfst auch gerne durch die Vordertür spazieren!“ Allysters Stimme ist scharf und kalt geworden. Die begrenzte Geduld des Zauberers ist an ihrem Ende.
Brenna hört diese Veränderung genauso wie du. Die Söldnerin entwickelt plötzliches Interesse an einem kleinen Pflänzchen, das neben ihr wächst. Sie beginnt, die kleinen Blätter abzuzupfen.
Allyster atmet tief durch. „Zuerst werde ich allerdings einen Sud herstellen müssen, der uns diese Wölfe vom Leib hält.“
„Das kannst du?“, fragt Brenna erstaunt.
Allyster nickt und scheint wieder gnädiger gestimmt. „Ich werde euch die Pflanzen beschreiben, die ihr sammeln müsst.“
Brenna weist nicht darauf hin, dass sie sich überhaupt nicht freiwillig zum Helfen gemeldet hat. Du stellst deine Schüssel ab und stehst auf.
°°°
„Wolfsbann. Hundspetersilie. Eibe“, murmelst du leise vor dich hin, während du dich durch den Wald schlägst, über Dornenranken kletterst und dich unter tiefhängenden Tannenästen voller Spinnweben hindurchduckst. Du rufst dir die Bilder in Erinnerung, die Allyster für euch in den Waldboden gezeichnet hatte.
„Falls ihr auf irgendwas trefft, das bestialisch stinkt, nehmt das auch mit!“, hat euch der Zauberer noch angewiesen. Dann sind Brenna und du aufgebrochen. Im Wald habt ihr euch aufgeteilt, damit ihr schneller fertig seid.
Du musst dir eingestehen, dass der Wald unheimlich und bedrohlich ist. Im grünen Dämmerlicht verschwimmen alle Konturen in der Ferne zu blassen Schatten. Manchmal glaubst du, eine Gestalt zu sehen, die im Wald steht und dich beobachtet – dann stellt sich das fremde Wesen als entasteter Baum heraus.
Auch die Vögel und Tiere des Waldes machen fremdartige Geräusche. Du weißt nie, ob es sich um einen Angriffslaut, einen Todesschrei oder vielleicht doch nur um einen Balzruf handelt.
Du bist ein Stadtkind. Die Gassen und Winkel von Kaltmoor sind deine wahre Heimat, wo es voller Menschen ist und nach Fisch und Scheiße riecht. Wo die gefährlichsten Tiere streunende Hunde und Ratten sind – beide kannst du einschätzen, denn sie folgen den Gesetzen, denen auch ein Straßenjunge wie du folgt.
Die freie Natur mit ihren Sümpfen, giftigen Schlangen und Bären schüchtert dich ein.
Du suchst weiter, aber langsam verspürst du einen deutlichen Druck in der Blase. Du suchst dir schließlich einen Baum und öffnest deine Hose. Dann zielst du mit dem Strahl auf einen großen, schwarzen Käfer, der an der Borke emporzuklettern versucht.
Genau in dieser ungünstigen Position bist du, als plötzlich Geräusche in deinem Rücken erklingen. Panisch wirbelst du herum und sprenkelst den Waldboden dabei mit Tropfen. Im nächsten Moment springt ein großer, schwarzer Wolf aus dem Gebüsch. Ein Blick auf dessen Zähne und deine Blase entleert sich auf einem Schlag.
Der elfische Reiter guckt ebenso überrascht wie du, doch er reagiert schneller. Während der Wolf leicht zur Seite schwenkt und an dir vorbeirennt, beugt der Elf sich herunter und zieht dich auf sein Reittier, das kurz darauf zum Stehen kommt. Du zappelst, da spürst du eine Klinge an der Kehle. Das passiert dir in letzter Zeit entschieden zu häufig.
„Dein ... Freunde?“, fragt der Elf mit konzentriert gerunzelter Stirn. Es ist klar, dass er deine Sprache kaum spricht.
Du öffnest den Mund. ...
- „Allyster! Brenna! HILFE!“ Lies weiter bei Kapitel 16.
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- „Ich bin alleine.“ Lies weiter bei Kapitel 17.