https://www.deviantart.com/ifritnox/art/692495000
Der Eingang zur geheimen Bergstraße war ein großes, klaffendes Loch im Stein, eine tiefschwarze Wunde in der Seite der Berge. Der daraus erwachsende Tunnel war so breit, dass sogar Askook die Flügel aufspannen konnte.
Najaxis fühlte sich trotzdem unwohl. Er hasste es, sich nicht unter freiem Himmel bewegen zu können, er hasste das Wissen um Tonnen von Stein, die sich über seinem Kopf befanden. Zusätzlich zu der niederdrückenden Klaustrophobie fühlte er sich in dem großen Gang klein und unbedeutend. Die widersprüchlichen Eindrücke verwandelten die Reise vom ersten Schritt an in einen furchtbaren, irrealen Alptraum.
Da wusste er noch nicht, wie schlimm die Reise wirklich werden würde.
Nach wenigen Schritten in der Finsternis machte der Gang eine Kurve und führte in eine große Halle, die zu ihrem Glück verlassen war. Es gab drei breite Galerien, die sich an den Wänden der Höhle entlang zogen. Die Galerien waren aus dem festen Stein geschlagen, ebenso das Geländer. Geschickte Hände hatten den Steinen scheinbar unmögliche Formen abgetrotzt, fragile und filigrane Muster, Blätter und Blumen, tanzende Nymphen und majestätische Drachen. Hier und dort blitzten Edelsteine im flackernden Licht von geschlossenen Lampen.
Najaxis hatte einmal die Katakomben im Dunklen Land gesehen, die Höhlen der Orks und Trolle. Dort hatte es nach Verwesung gestunken, die Gänge waren grob in den Fels gehauen gewesen, erleuchtet nur von wenigen, stark rußenden Fackeln. Hier schien jeder Schritt liebevoll bearbeitet worden zu sein. Die Wände waren glatt, und durch den Stein zogen sich dünne Linien, die mal wie Wasser, mal wie wogendes Gras erschienen. In häufigen Abständen hingen Lampen an der Wand, aus weißen Metall und mit Fensterscheiben, die die leuchtende Flamme schützten.
»Was sind das für Lampen?«, fragte Iljan an Caryellê gewandt. Die wunderschöne Elfe lief wieder bei Naja. Er hatte ihren Arm ergriffen und ließ sie nicht aus den Augen.
»Sogenannte Kerzen«, sagte Cary bissig.
»Und wenn es Kerzen sind, muss jemand sie anzünden«, führte Iljan aus, ohne sich an dem spitzen Tonfall der Gefangenen zu stören. »Es gibt Lampenanzünder, nicht wahr? Kleine Spähtrupps, und du hoffst, dass wir ihnen blindlings in die Arme laufen.«
Najaxis spürte, wie Cary der Atem stockte, als sie den Sinn hinter Iljans Frage begriff. Sie erbleichte reizend. Ihr Gesicht nahm die Farbe eines frühen, nebelverhangenen Morgens an.
»Nein! Es sind langbrennende Kerzen. Sie werden … ich denke, einmal im Monat neu entzündet.«
Cary sah hilfesuchend zu Terziel herüber, doch der Engel schwieg und knirschte mit den Zähnen.
Iljans Blick blieb eine Weile an Cary hängen, dann nickte er Jackie zu.
Die Wölfin lief voraus, um ihren Weg auszukundschaften. Die anderen folgten schweigend, bis auf Cary, die immer noch zu Terziel herüber sah.
Najaxis drängte sich von hinten gegen die Elfe und atmete in ihren Nacken. »Weiter, Süße!«
Cary verfiel sofort in einen Laufschritt.
Sie fanden bald den Tunnel, der sie weit unter dem Berg hindurch führen sollte, unter Quellheim hindurch und bis zum Wald der Seen. Auch dieser Tunnel war verziert, Boden und Decke waren mit feinen Zeichnungen versehen. Der Tunnel führte gerade durch den Berg, vorbei an riesigen Höhlen voller Erze oder Tropfsteinen, vorbei an offenen Schluchten, auf deren Grund Mineralien wie Blumen wuchsen. Es ging auf geschwungenen Brücken über klaren Seen hinweg, und ein geschlängelter Weg führte sie mitten durch Felder von verschiedenfarbigen Pilzen. Und immer wieder gab es kleine Nischen, kleinere und größere Höhlen am Rand des Tunnels, wo man sitzen und sich ausruhen konnte, häufig mit einem kleinen See oder einem fließenden Wasserfall.
Überall konnte man Spuren von Leben erkennen. Die Pilzgärten waren gepflegt, die Erde geharkt und Unkraut gejätet. An den Rastplätzen lagen Kissen und Decken aus, manchmal entdeckten sie sogar Spuren von Mahlzeiten, die nicht allzu lange her sein konnten. Es gab Kammern mit Kohlebecken, über denen man auf einem Rost Fische braten konnte, und nicht weit davon wurden die Gräten auf einem Haufen gesammelt.
Ganz offensichtlich war der geheime Tunnel nicht so geheim, wie Cary behauptet hatte. Häufig kamen sie an schmaleren Tunneln vorbei, die in weite Ferne führten – vielleicht zu einzelnen Häusern, zu Siedlungen oder zu Minen.
Sie konnten nur hoffen, dass ihnen auf dem großen Tunnel niemand begegnen würde.
Sie machten eine Rast, als ihnen allen die Füße schmerzten. Sie wählten eine Nische, die etwas abseits gelegen war. Hier gab es einen kleinen Teich mit silbernen, blinden Fischen darin, eine Kohlegrube zum Braten und sogar einen Pilzgarten.
Zu der kleinen Kammer führte nur ein schmaler Eingang. Iljan platzierte Jackie dort als Wache, dann befahl er, Cary und Terziel die Fesseln zu lösen.
Najaxis ließ die Elfe trotzdem nicht in Ruhe. Er wusste, wie sehr sie ihn verabscheute. Er liebte es, sie zu necken.
Iljan kam zu ihnen. Der Blick des Vampirs war streng und ein wenig hochmütig. Die Reise im Sonnenland hatte Iljan bereits verändert, hatte ihn gezwungen, eine stoische und grausame Maske zu tragen.
»Die Kerzen werden also einmal im Monat gewechselt?«, fragte er Cary. Seine Stimme war ein gefährliches Zischen. Najaxis erschrak, als er die mühsam unterdrückte Wut seines Anführers hörte.
»Ich war noch nie hier«, sagte Cary schnell. »Ich dachte, dass die Zwerge eher in der Nähe von Stokiq wohnen. Ich wusste doch nicht, dass hier draußen so viele leben!«
Iljans Gesicht war angespannt, die Haut straffte sich über den Mundwinkeln, an den Schläfen. »Und das fällt dir jetzt ein?«
»Es tut mir leid«, sagte Cary. Sie hatte die Augen weit geöffnet und ein flehentlicher Unterton hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Sie wirkte jung. Jung und verängstigt.
Najaxis zog sich unauffällig zurück.
»Du hast uns alle in Gefahr gebracht«, warf er ihr an den Kopf. Caryellê zuckte zusammen und senkte den Blick. Iljan sah, wie sie sich auf die Unterlippe biss.
Er glaubte ihr die gespielte Reue nicht. Cary war eine Anführerin, eine Kriegerin. Dass sie sich jetzt wie ein Kind benahm, konnte nur ein Schauspiel sein.
»Hör zu … Iljan«, sagte sie leise. »Ich wusste wirklich nicht, was uns hier erwartet. Du hast Recht, es ist zu gefährlich. Vielleicht … vielleicht gibt es einen anderen Weg.«
»Was, noch einen geheimen Tunnel, von dem niemand weiß?«, fragte Iljan giftig.
Cary schüttelte den Kopf: »Eine Täuschung. Ich und Terziel als eure Gefangene, das fällt auf. Jeder wird Verdacht schöpfen. Andersherum dagegen …«
»Nein«, sagte Iljan so laut, dass er beinahe schrie. Die Kinder der Sonne, Gudrun und Stella sahen verwundert zu ihnen herüber. Iljan senkte seine Stimme: »Ich soll mich und alle, die mir folgen, gefesselt in deine Hände übergeben? Du bringst uns doch schnurstracks zur Weißen Feste!«
»Nein! Nein, ich … ich dachte …«, Cary verstummte. Iljan musste ihre schauspielerischen Fähigkeiten bewundern. Wenn er sie nicht kennen würde, hätte er ihr jedes Wort geglaubt, jeden verzweifelten Blick.
Er musste sich ständig in Erinnerung rufen, wie Cary ihn gefoltert hatte, wie sie seine Arme mit Knoblauch und heiligem Wasser übergossen hatte.
Er musste sich daran erinnern, dass er sie hasste, und sie ihn. Dass sie Todfeinde waren, dass Cary gegen seine Mission stand, die Mission, für die er sein Leben geben würde.
Er wollte sich abwenden und gehen, doch Carys Hand hielt ihn zurück. Sie hatte seinen Arm gefasst und sah ihn an, scheinbar jung, scheinbar verzweifelt.
»Hör mir doch zu! Ich kann euch eine Versicherung bieten. Ich würde nicht alle von euch fesseln. Stella bleibt frei, und … und Najaxis, jemand, der nicht nach dunklem Wesen aussieht. Jackie und Merkanto vielleicht auch. Ich … ich gebe mein Wort.«
»Dein Wort?«, fragte Iljan und zog nun doch eine Augenbraue hoch. »Was ist dein Plan, Elfe?«
Carys Augen schimmerten. »Ich will Stella retten. Und ich will Terziel hier heraus bringen. Wenn das nur geht, indem ich euch helfe … dann ist das eben der Preis.«
Jetzt hatte sie Iljans ungeteilte Aufmerksamkeit, obwohl sein Misstrauen immer noch blieb. »Woher dieser plötzliche Sinneswandel?«
»Das … das geht dich nichts an«, sagte Cary langsam. »Ich glaube noch immer nicht, dass ihr euch wirklich bessern werdet. Ich werde euch aufhalten, wenn ich kann – aber das Leben meiner Wächter geht vor. Ich weiß nicht, was ihr Stella angetan habt, aber ich werde sie retten. Und auch Terziel werde ich befreien. Ich werde dafür sorgen, dass man euch festsetzt und euer Plan vereitelt wird.«
»Gar nichts haben wir deinem Einhorn angetan!«, zischte Iljan durch die zusammengebissenen Zähne hervor. Denn das war allein Gudrun gewesen.
Cary hob den Kopf und ihr alter Hochmut war schlagartig zurück: »Ich kenne Stella, seit sie ein Fohlen war. Sie würde niemals einem dunklen Wesen helfen, nicht ohne unter einem bösen Zauber zu stehen.«
Iljan sah genau wie Cary über die Versammelten. Stella stand am See und trank das klare Wasser. Inzwischen war das Einhorn wieder so weiß wie frischer Schnee, vielleicht war ihre Verwandlung nur eine vorübergehende Erscheinung gewesen.
Über dem Kohlebecken brutzelte ein Fisch, den Merkanto geschickt wendete. Jackie war damit beschäftigt, Gudruns Vorräte nach Gewürzen zu durchsuchen. Abarax stand dicht bei dem Engel Terziel.
»Verdammt«, sagte Iljan. »Wo ist Gudrun?«
Sie lief zurück zum Haupttunnel und witterte, die Nase nah am Boden. Jackie lief leicht und federnd. Inzwischen war sie in ihrer Wolfsform wieder etwas größer geworden, und auch ihre Sinne wurden schärfer. Der Neumond war eine traurige Zeit für Werwölfe, denn ohne den Mond fühlten sie sich kraftlos und blind. Die Tage nach dem Neumond waren, als würde man neu geboren werden.
Sie konnte Gudruns Spur riechen, eine penetrante Mischung verschiedener Gewürze, die den niederträchtigen Geruch nach Verräterin überdeckten. Jackie folgte der Duftspur durch die Dunkelheit.
Nur war es für sie keine Dunkelheit mehr. Das vom Kerzenlicht erleuchtete Halbdunkel war einer wahren Explosion bunter Gerüche gewichen, blassen und verworrenen Duftspuren, die sich wie leuchtende Bänder durch das Dunkel zogen. Sogar der Fels roch ungewöhnlich intensiv, nach Stein, Feuchtigkeit, nach den Händen, die ihn berührt hatten. Jackie konnte lange zurückliegenden Rauch riechen, von einem Feuer, den Kerzen oder sogar noch vom Bau des Tunnels.
Unter der Erde, wo kein Wind wehte, waren Gerüche langlebig, geisterhaft konnte Jackie all die Zwerge riechen, die hier vorbeigekommen waren, den Staub, die Ausdünstungen der Pilze, die blinden Flecken von Wasser und Feuchtigkeit.
Unter anderen Umständen könnte sie Tage und Wochen damit verbringen, den Wirrwarr von Echos zu lesen, verschiedene Spuren zu verfolgen, die Zeiten zu entwirren.
Jetzt konzentrierte sie sich auf den Geruch von Gudrun. Die Hexe war geflohen, und sicherlich nicht ohne Grund. Alleine war man in diesen Landen gefährdet, allzu schnell konnte ein Unglück geschehen. Die wahrscheinlichste Vermutung war, dass Gudrun sich davon geschlichen hatte, um eine Fledermaus zu suchen, einen Boten, den sie an Iljans Vater schicken konnte.
Und das musste Jackie verhindern. Iljans Vater, Nepumuk Aramis Andreji Taidoni, würde sie aufhalten. Es spielte keine Rolle, dass der mächtige Vampir, Oberhaupt des Clans der Taidoni, im tiefsten Dunkel der Schattenlande saß, in einem Schloss aus Eis und Knochen. Es spielte keine Rolle, dass der Graf die Botschaft erst nach Tagen oder Wochen erhalten würde.
Er würde sie aufhalten. Er würde seine Leichenhände ins Sonnenreich ausstrecken, würde sie finden. Er würde Iljan zurück zu sich holen und alle töten, die bei ihm wären. Und Iljan würde er nicht aus väterlicher Zuneigung verschonen, sondern einzig, weil Iljan sein Erbe war. Und Nepumuk würde aus Iljan einen Erben nach seinem Vorbild machen, sollte er den Sohn jemals in die Klauen bekommen.
Jackie lief schneller, durch ihr Fell ging ein kalter Schauer. Gudrun durfte nicht entkommen. Zu viel stand auf dem Spiel. Zu groß war das Risiko.
»Wir haben nichts als Feinde«, dachte sie traurig. »Egal, wem wir begegnen, ob Wesen der Sonne oder des Mondes, sie alle sind unsere Feinde und wollen uns aufhalten. Wir haben nur uns, sechs Kinder, die von Zuhause geflohen sind. Sechs einsame, verirrte Kinder mit einem unerfüllbaren Traum. Wie sollen wir das schaffen?«
Gudruns Spur war deutlich, aber hier unter der Erde war das nicht von Bedeutung. Gudrun mochte vor wenigen Minuten oder vor Stunden hier gelaufen sein. Jackie wusste nicht, wie nah sie der Hexe möglicherweise war, als sie die Geräusche hörte.
Sie drehte sich um und spitzte die roten Wolfsohren. Sie hörte Schritte und das laute Klirren von Metall, immer näher und deutlicher.
Sie hob die Nase und konnte Schweiß riechen, vermischt mit Staub und Kohle.
Bergarbeiter – Zwerge!
Sie drehte um. Der Tunnel warf seltsame Echos, und ihre Sinne waren längst noch nicht so geschärft wie sie es bei Vollmond sein würden. Trotzdem ahnte sie, wo sich die Zwerge befanden: Sie gingen den Tunnel entlang und näherten sich der Nische, in der Iljan und alle anderen in der Falle saßen.
Dicht am Boden schnürte Jackie vorwärts, schnell wie eine Füchsin, deren Junge vor Angst rufen, die das Feuer im Bau schon riechen kann.
Bald roch sie wirklich Feuer und hörte das fauchende Brüllen, mit dem Askook Flammen spie. Sie hörte das Klirren von Stahl auf Stahl, hörte wilde Rufe, Fluchen, Schmerzensschreie.
Sie erreichte die Abzweigung und bog hinein, im Rücken der Zwerge. Am Rastplatz war ein heftiger Kampf zwischen den Zwergen und den eingekesselten Kindern der Sonne entbrannt. Keine von beiden Seiten zeigte Gnade.
Es sah ganz so aus, als müsste es Tote geben, damit die anderen überlebten. Es waren bestimmt zwanzig Zwerge, zwar erschöpft von der Tagesarbeit, aber schwer gepanzert. Sie waren zähe Gegner, wild und unberechenbar. Und sie kämpften in dem Glauben, ihre Heimat verteidigen zu müssen.
Die Kinder der Sonne dagegen – und auch Stella Cantici – kämpften, um ihr Leben zu retten, und etwas, was ihnen noch wichtiger war: Ihren Traum von einem besseren Leben.
Jackie stürzte sich von hinten auf die Zwerge und mischte sich ohne Zögern in den Kampf ein.