Hilflos und verwirrt irre ich durch Griechenland und spreche alle Tiere, die mir begegnen, ratsuchend an.
Die Straßenkatzen fauchen und flüchten, die Hunde knurren mich an und die Ratten spielen sich auf, als wären sie sonst wer.
Kurz gesagt, ich finde niemanden, der mir helfen will, bis ich mich schließlich mit einem frustrierten Knurren auf den Bürgersteig fallen lasse, diesen glatten Steinweg, der ein wenig höher als der glatte Asphaltweg ist. Soweit ich beobachten konnte, ist der Bordstein dazu da, dass die Fußgänger ihn verlassen und über die Straße laufen, damit die Autos nicht mehr so schnell vorwärts kommen.
Ich sehe entmutigt zum Himmel. Es wird bereits dunkel, wodurch zwar die elende Hitze nachlässt, doch das heißt auch, dass mir die Zeit davon rennt.
Ich spitze die Ohren, als etwas vorbeiflattert … das war doch …
Ich drehe mich um und sehe einen blaugrünen Papierflieger, der trotz des eher schwachen Windes munter durch die Gasse tanzt, ein paar Wirbel vollführt und schließlich nur eine Wolfslänge vor mir federleicht auf dem Boden aufsetzt.
Ich springe auf und will an dem Flieger schnuppern, doch der hebt erneut ab. Fliegt nach links, nach rechts, macht einen wilden Salto … das ist wie mit Lyssa zu sprechen.
Ich springe hinterher und versuche, der unberechenbaren Flugbahn zu folgen. Der Papierflieger saust aus der Gasse heraus, über die Straße und um ein paar Ecken – dann zurück, um ein paar andere Ecken, dann wieder zurück, und die Straße weiter geradeaus.
Irgendwann höre ich plötzlich eine Stimme fluchen, während ich den Flieger weiter verfolge.
„Mistding, elendes … hätte man da nicht eine Steuerung … Argh, verdammt!“
In diesem Moment klatscht der Flieger ungebremst gegen eine Hauswand und fällt mit geknickter Spitze auf den Boden.
Etwas tiefer an der Hauswand befindet sich ein Kellerfenster, und daraus kommt jetzt eine kleine, dunkle Hand, die in einen stark befellten Arm übergeht, schnappt sich den demolierten Flieger und zieht ihn in das Räumchen dahinter.
„He …“, protestiere ich enttäuscht. „Das war meine Beute!“
„Falsch, DU bist MEINE Beute!“, erklingt die gleiche Stimme wie schon zuvor.
Ich lege mich auf den Bauch und schiele durch das Fenster. „Ähm. Du weißt schon, dass du ein Waschbär bist?“
Mein Gegenüber funkelt mich aus schwarzen Knopfaugen an und faucht gereizt. „Was soll das denn heißen?“
„Waschbären … wie soll ich es sagen? Sie stehen in der Nahrungskette nicht so wirklich über Wölfen.“
„Du meinst also, ich kann dich gar nicht jagen, einfach, weil ich ein Waschbär bin? Dreckiger Speziist!“
„Das hat nichts mit Rassismus zu tun“, versuche ich mich zu erklären, „aber du kannst nun mal schlecht einen ausgewachsenen Wolf töten.“
„Ich kann es versuchen!“, knurrt der Waschbär. „Außerdem bist du doch auf meinen Köder angesprungen, oder nicht?“
Er wedelt mit dem Papierflieger in der einen Hand (oder Pfote?).
„Schon, aber wenn, sagen wir mal, ein Hai auf das Leuchten von einem Tiefseeanglerfisch reagiert, heißt das noch lange nicht, dass der Angler den Hai erjagt hat.“
„Du bist wohl ein ganz Schlauer“, faucht der Waschbär. „Predigst die große Jagd wie alle anderen Tiere.“
„Na ja …“
„Dann lass mich dir eines sagen: Ich habe die große Jagd besiegt! Ich bin stärker geworden, ich stehe höher in der Nahrungskette, weil ich nämlich ein magischer Waschbär bin!“
„Ein … magischer Waschbär?“
Überlegen nickt das Dickerchen mir zu. „Und, nur zu deiner Information, ich will dich nicht fressen.“
„Da bin ich aber erleichtert.“ Ups, das klang jetzt vielleicht ein bisschen spöttisch. Aber wurdet ihr jemals von einem überheblichen, kleinen, dicken Waschbären bedroht?
„Dafür will ich deine Seele!“, verlangt der Waschbär und winkt mit dem Papier. „Im Austauscht hierfür!“
„Im Austausch für einen kaputten Papierflieger?!“
„Nein, das ist ein Stadtplan! Du hast dich doch verlaufen, nicht wahr? Tja, das hier ist deine Möglichkeit, zurück zu finden. Wenn du mir dafür deine Seele gibst.“
„Aha. Jetzt verstehe ich die Kapitelüberschrift“, murmele ich.
„Wie bitte?“
„Ach, nichts. Ich soll also mit meiner Seele für den Stadtplan bezahlen? Die gibt’s doch sicherlich in jedem Touristikbüro umsonst. Was hält mich also davon ab, einfach eine von den Karten zu holen?“
Der Waschbär blinzelt. Holt tief Luft. „Zuerst einmal bist du ein Wolf! Wölfe können nicht einfach in den nächsten Touristen-Informationspunkt marschieren! Zweitens musst du so einen Infostand erst einmal finden, um an die Stadtpläne zu kommen. Und drittens wirst du sie nicht lesen können, weil es nämlich Menschenstadtpläne sind. Das hier“, wieder wedelt er mit dem Papierflieger, „ist ein Tierstadtplan, in Gerüchen geschrieben.“
„Wirklich?“ Ich staune. „Das glaube ich nicht!“
„Glaub es ruhig!“ Der Waschbär hält mir stolz seinen Plan vor die Nase. „Und es gibt nur fünf Exemplare davon!“
„Tut mir leid“, sage ich, springe vor und schnappe ihm den Plan aus den Pfoten.
„Hey!“, schreit der Waschbär auf, als ich auch schon Pfotengeld gebe und erneut durch die Gassen hetze, so schnell ich nur kann. Wütendes Schreien verfolgt mich, doch ich lege die Ohren an und werde schneller, bis auch dieses Wutgebrüll hinter mir verklingt.
Erschöpft atme ich tief durch. Das war eindeutig zu viel Sport für einen Tag! Wenigstens ist es mit Einbruch der Nacht schön kühl geworden.
Ich lege den Stadtplan vor mir auf den Boden und schnuppere ihn ab. Es dauert nicht lange, bis ich den Teil des Plans finde, der genauso riecht wie die Gasse, wo ich meinen mysteriösen Auftraggeber getroffen habe.
Ich schnuppere weiter, bis ich auch die Stelle finde, die genauso wie mein jetziger Aufenthaltsort riecht.
„Perfekt!“ Ich suche den schnellen Weg zwischen diesen beiden Punkten heraus. Zuerst schlammiger Gassengeruch, dann der Duft von blutigem Fleisch und schließlich ein penetranter Zwiebelgestank, das ist mein Weg.
Ich sehe mich suchend um und wähle den matschigen Erdweg zu meiner Linken. Ein paar Ecken weiter biege ich rechts ab und trotte vor einem Metzger über die Straße. Dann geht es an einem italienischen Restaurant vorbei, aus dem der Geruch nach Pasta mit vielen Zwiebeln dring.
Und schwupps, schon bin ich da!
Ich lasse den Plan fallen. Vielleicht findet der ja noch seinen Weg zurück zu seinem Meister, sodass ich ihn technisch nur entliehen hätte. Der Diebstahl tut mir nämlich sehr leid, obwohl der Waschbär kein wirklich freundlicher Zeitgenosse war. Er wirkte aber noch so unerfahren im Seelengeschäft.
Eine Tür öffnet sich knarzend. „Ah, Wolfchen! Du bist spät“, erklingt die Stimme mit dem fiesen Akzent.
„Tschuldigung“, murmele ich. „Ich wurde aufgehalten.“
„Nun, komm herein“, sagt mein Auftraggeber galant. „Du musst verzeihen, dass ich dem Gespräch nicht beiwohnen werde, ich habe einiges zu tun. Igor hier wird dir alles erklären.“
Neben dem schlanken, hochgewachsenen Schatten taucht der Glöckner von Notre Dame auf. Nun, nicht der echte Glöckner, Quasimodo wäre noch eine Schönheit im Vergleich zu dem buckligen, einäugigen Menschen, der mich mit einem sabbernden Grinsen begrüßt.
Ein seltsames Flattern ertönt und der schwarze Schatten ist plötzlich verschwunden. Dezente Matschpfotenabdrücke hinterlassend betrete ich den düsteren Raum und frage mich, ob das Ganze hier nicht ein großer Fehler ist.