Du bist Arthrax Sundergeer.
Die Orks zerren dich vorwärts. Wenn du stolperst, wirst du über den rauen, trockenen Boden geschleift, bis du wieder auf die Füße kommst. Wenn du zu langsam wirst, schubsen dich die Orks von hinten.
Ab und zu erhascht du einen kurzen Blick auf Elred. Der Elf befindet sich etwa fünf Meter vor dir in der Masse dreckiger Orks. Die meiste Zeit wirkt er stoisch und hält erhobenen Hauptes mit den Orks mit. Ab und zu siehst du, dass auch Elred durch den Staub geschleift wird.
Inzwischen sind deine Knie und Füße völlig zerkratzt und zerschlagen. Im ersten Moment bist du erleichtert, als die große Wehrmauer um Orkland in Sicht kommt – das Ende des Martyriums!
Gleichzeitig musst du daran denken, dass der Orkkönig euch nur versprochen hat, dass ihr sein Land lebend verlassen könnt.Ab der Grenze wird man euch jagen und zerfleischen. Du wirfst einen Blick über die Orkmenge, die dich umringt. Es sind hunderte, wenn nicht gar tausende. Immer mehr Orks haben sich dem Zug angeschlossen, der in Orkstadt losgezogen ist.
Wie sollst du dieser Menge an Gegnern entkommen? Schon jetzt bist du so erschöpft, als könntest du keinen Schritt mehr vorwärts gehen. Du bist erstaunt, dass deine Stiefel noch vorhanden sind, denn es fühlt sich an, als würdest du auf den blutigen Fußsohlen laufen.
„Halt!“, grunzt ein großer Ork kurz vor der Wehrmauer und hebt eine hässliche Axt, deren Blatt sich so wahnwitzig nach vorne beugt, dass sie schon fast an eine Sense erinnert. „Gebt der Beute ihre Waffen!“ befiehlt er. Wenig später drückt dir eine Klauenhand Elreds Bogen in die Hände.
Du bahnst dir einen Weg zu dem Elfen, der dir wortlos deine treue Axt reicht und seine Waffen in Empfang nimmt.
„Ihr geht zur Grenze“, grunzt euch der Ork mit der Sichelaxt zu. „Ihr habt zehn Meter Vorsprung.“
Elred wirft dem Ork einen Blick zu, starrt dann auf die Menge, die bluthungrig ihre Waffen schwenkt. „Das ist äußerst gerecht.“
Dem Ork entgeht der Spott in der Stimme des Elfen. „Wir sind keine Monster. Nun geht.“
Elred packt dich am Arm. „Halt bloß Schritt, Arthrax!“, zischt er dir zu.
Verwirrt rennst du neben dem Elfen her. Elred ist tatsächlich schneller als du. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung bringst du deine Beine dazu, im gleichen Rhythmus mit Elred zu laufen. Du keuchst hingebungsvoll.
„Wir müssen nur zu unseren Pferden“, flüstert der Elf im Rennen, während er gleichzeitig den Bogen spannt. Ihr durchquert ein großes Tor in der Mauer, hinter euch erklingt lautes Gebrüll.
„Du hast einen …“, mitten im Satz schnappst du nach Luft, „... Plan?“
„Keinen besonders guten“, sind Elreds ermutigende Worte. Dann wendet sich der Elf im Rennen um und schießt einen Pfeil ab. „Aber wir brauchen den Schöpferstein.“
„Scheiß auf … den Stein!“, bringst du heraus. Elred ist schon wieder ein paar Schritte vor dir. Nun zischen auch Armbrustbolzen durch die Luft.
Die Orks haben die Verfolgung aufgenommen. Das einzige, was euch für den Moment noch rettet, ist das Tor. Die Orks sind so begierig darauf, euch zu verfolgen, dass sie einander in ihrer Eile gegenseitig im Weg stehen. Ein paar beginnen, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, das Tor ist verstopft. Für die grünhäutigen Wesen ist die Jagd eine einzige, große Feier.
Elred hält zielsicher auf einen kleinen, bewachsenen Hügel zu, der für dich aussieht wie jeder andere. Als ihr den Hang empor klettert, versiegen deine Kräfte. Elred hängt dich ab, du mühst dich in einem viel langsameren Tempo weiter. Deine Rippen schmerzen. Du siehst den Hügel nur noch verschwommen. Das Bedürfnis, sich einfach ins Gras fallen zu lassen und zu schlafen, wird immer übermächtiger.
„Komm weiter, Arthrax!“, ruft Elred von oben.
Du zieht die Lippen zurück und fletscht die Zähne, aber die Luft zum Fluchen sparst du dir lieber. Mit bleischweren Beinen arbeitest du dich den Hügel hinauf. Als du zurück blickst, erreichen die ersten Orks soeben dessen Fuß. Die Angst verleiht dir ein wenig mehr Kraft und du springst vorwärts, um Elred vielleicht doch noch einzuholen.
Der Elf pfeift und ruft: „Coritas!“
Ein hohes Wiehern antwortet ihm. Dann, wie in einem Traum, taucht plötzlich Elreds falber Hengst aus einem Gesträuch auf. Er galoppiert mit wehender Mähne auf den Elfen zu, der zerrissene Strick flattert hinter ihm. Etwas später und deutlich weniger elegant bricht das rotbraune Kaltblut mit der blonden Mähne aus dem Gebüsch. Das Tier stampft schwerfällig über die Erde, ist dir aber viel sympathischer als der windige Falbe von Elred.
Ihr eilt euren Pferden entgegen, verfolgt von dem wütenden Geheul der Orks, als diese erkennen, wie nah ihr der Flucht steht. Elred schwingt sich elegant aus dem Laufen auf den Rücken des galoppierenden Pferdes. Du musst dein Kaltblut einfangen und starrst dann auf den breiten, hohen Rücken.
Wie sollst du da hoch kommen? Noch dazu schnell genug, um den Orks davonzureiten?
Die Erschöpfung und Atemnot machen sich bemerkbar, der Pferderücken verschwimmt vor deinem Blick. Du machst einen äußerst peinlichen Aufsprungversuch und willst dich mit den Armen nach oben ziehen, klatscht aber mit der Brust gegen die Flanke des Pferdes und landest wieder auf dem Boden. Das Kaltblut schnaubt. Du drehst dich um und sieht die Orks auf dich zuhalten.
Plötzlich spürst du eine Hand im Nacken, die an dir zieht.
„Rauf mit dir, Fettsack!“, knurrt Elred hinter dir. Du springst ein weiteres Mal hoch und der Elf wirft dich nach vorne. Du landest quer über dem ungesattelten Pferderücken. Elred treibt seinen Falben ab und dein Kaltblut läuft brav hinterher. Du greifst nach der Mähne, um dich irgendwie festzuhalten. Jeder Galoppsprung drückt sich dir in den Magen. Noch dazu laufen die Pferde auf die Orks zu, nicht von ihnen weg.
„Elred!“, keuchst du. Ein Wunder, dass du noch Luft zum Rufen hast. „Was hast du vor?“
„Ich hole mir diesen Schöpferstein! Und du könntest ruhig mal helfen!“
Knurrend packst du dein Kaltblut an der Mähne und zerrst, bis das Pferd stehen bleibt. Dann schaffst du es, dich aufzurichten, ohne herabzufallen, und je ein Bein auf eine Seite des Pferdes zu bringen. Du bist noch nie ohne Sattel geritten, also hältst du dein Ross zurück, während Elred auf seinem Falben durch die Gegner fliegt und seine Pfeile in Orks hineinjagt. Du packst deine Axt und näherst dich im Schritt den vordersten Orks. Sie bemerken dich und stürmen brüllend auf dich und dein Kaltblut zu. Du lässt die Axt kreisen und blockst den ersten Schlag. Dann trittst du dem Ork mit aller Kraft ins Gesicht. Blut schießt aus seiner schiefen Nase und er geht zu Boden. Der Schwung reißt dich allerdings auch vom Rücken deines Pferdes.
Du fällst mit einem dumpfen Geräusch auf den trockenen Boden. Das Kaltblut geht schnaubend durch und trampelt dabei ein paar Orks nieder. Das erkauft dir genug Zeit, um wieder auf die Füße zu kommen. Die nächsten Angreifer empfängst du mit deiner kreisenden Axt und einem wilden Grinsen.
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Schnell bist du von einer Übermacht umzingelt, doch du hast das Glück, dass in deinem Rücken das ausschlagende Pferd ist, dem sich kein Ork zu nähern wagt. Außerdem hattest du dein Leben lang eine Axt in der Hand, es bedeutet dir also keine Mühe, mehrere Angriffe abzublocken, Widerstände zu zerschlagen und Helme zu spalten. Nach den ersten Toten kannst du ihre Leichen als Deckung nutzen. Die stinkenden Leiber der Orks stapeln sich vor dir und die Lebenden weichen mit respektvollem Blick zurück. Hier und da entsteht Tumult, wenn die nachdrängenden Orks auf zurückweichende treffen. Deine Gegner brüllen sich Beleidigungen zu und schlagen aufeinander ein, was dir einen weiteren Vorteil verschafft.
Und wenn sich der Kreis um dich zu eng schließt, kommt Elred herbeigeritten, lässt ein paar Pfeile fliegen und jagt wieder davon, bevor die Orks auch ihn einkesseln können. Der flinke Elf mit seinem schnellen Pferd rauscht durch die Lücken der Orks, schneidet die Nachhut deiner Gegner ab und bringt die in Horden kämpfenden Orks gründlich aus dem Konzept. Es dauert vielleicht eine Stunde (oder jedenfalls kommt es dir so lange vor), da ergreifen die Orks die Flucht. Elred jagt ein paar Nachzüglern Pfeile in den Rücken, dann lässt er sein Pferd zu dir trotten.
„Ein begnadeter Reiter bist du ja nicht gerade.“
Du spuckst auf den Boden. „Nicht ohne Sattel, Spitzohr.“
Elred überhört die Beleidigung. „Bist du verletzt?“
Du siehst auf deine blutverschmierten Arme. Mehrere Kratzer bluten stark, aber deines Wissens nach besitzt du noch alle Gliedmaßen und inneren Organ. „Nee.“
„Sehr gut. Dann holen wir uns jetzt deinen Sattel. Ich kann nicht riskieren, dass du mir im Orkland vor die Meute kippst.“
„Du willst ehrlich zurück? Du bist doch bescheuert!“, rufst du aus.
„Ganz ehrlich? Ich will das Geld haben. Und pro Schöpferstein kriegen wir ein kleines Vermögen“, meint Elred schulterzuckend. „Los, beeil dich. Wir haben nicht viel Zeit, bis sie sich wieder organisiert haben. Jedenfalls zu dem, was sie hier Ordnung nennen.“
„Ist das dein bekackter Ernst? Du willst nochmal ins Orkland, nachdem wir gerade eben mit dem Leben davon gekommen sind?“ Du kannst nicht an dich halten. Elred hat doch vollkommen den Verstand verloren!
Der Elf grinst dich an. „Ja, aber diesmal machen wir es auf meine Art. Ist doch nur gerecht, oder nicht?“
Du zuckst mit den Schultern.
- „Klingt schon irgendwie logisch.“ Lies weiter in Kapitel 17.
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- „Vergiss es. Ohne mich!“ Lies weiter in Kapitel 18.