Unter unzähligen Kicheranfällen und mehreren gerissenen Kondomen, die die Selbstüberschätzung ihrer Probanden nicht überstanden hatten, neigte sich der Vortrag dem Ende zu.
Die Tutoren, die hinten im Raum saßen und alles überblickt hatten, sahen beruhigt aus und zeigten sich zufrieden mit der Mitarbeit ihrer Schüler, die die Fragen des Redners oftmals nicht nur mit Brummen und Drucksen beantwortet hatten, sondern mit Wissen glänzen konnten.
Sah man von dem albernen Gelächter ab, das bei Jugendlichen in dem Alter wohl unvermeidbar war, war es besser als mit dem Jahrgang davor verlaufen, die lieber Papierflieger umhergeworfen hatten als mitzuarbeiten. Das Interesse war nach den ersten paar Minuten gekommen. Der fade Stoff wurde durch das Zeigen von Bildern aufgelockert und jeder hatte ein Kondom zum Üben bekommen, was die Stimmung gelöst hatte.
Ralf musste sich das Gelächter seiner Kumpels gefallen lassen, als ihm das Gummi beim Drüberziehen über eine Banane riss.
»Oooh, gar nicht gut«, jaulte Marius vor Lachen, »na, Alter, wie nennst du deinen Nachwuchs?«
»Pissnelke. Mach’ es besser«, schnappte Ralf und sein bester Freund zeigte ihm, wie es richtig ging.
»Hast du nicht aufgepasst? Auf jeder Packung steht drauf, dass man die Tütchen nicht mit den Zähnen aufreißen darf, Mann.«
»Hast heimlich geübt, huh?« Die Jungs grinsten einander an. Natürlich hatte jeder von ihnen das bereits einmal getan. Sie alle hatten, irgendwo versteckt oder offen herumliegend, Kondome daheim, um für den Ernstfall gerüstet zu sein oder einfach zu üben, damit beim ersten Mal nichts schiefgehen konnte.
Franziska verhielt sich sehr zu Marius’ Erleichterung während der ganzen Gummispielerei ruhig, obwohl sie ihn die ganze Zeit über argwöhnisch und schnippisch die Lippen verziehend beobachtete. Er rechnete in jeder Sekunde damit, dass sie einen blöden Spruch loslassen würde. Sie war nicht mehr einzuschätzen.
Die Augen des Jugendlichen huschten zwischendurch immer mal zu Daniel hinüber und ein Ziehen in seinem Bauch ließ ihn schlucken, als er ihn dabei beobachtete, wie gekonnt er den Umgang mit Gummi und Banane beherrschte. Er hatte offenkundig auch geübt.
Es kribbelte unter Marius’ Haut und er spürte, wie sein Hals trocken wurde. Der Jugendliche konnte nicht verhindern, dass sein Kopf ihm Bilder projizierte, die ihn in Aufruhr versetzten.
Umso erleichterter war Marius, als es schließlich klingelte und die Tutoren und der Redner die Veranstaltung für beendet erklärten.
Die Schüler, die eben noch Spaß hatten, schienen nun all das vergessen zu haben, sprangen geradezu von ihren Stühlen, grapschten nach den Taschen und warfen die kaputten Kondome vor dem Verlassen des Raumes in einen Mülleimer. Darin lag ein ganzes Vermögen.
Auch Marius und seine Freunde wollten sich den anderen anschließen, als der Jugendliche seinen offenen Rucksack falsch zu fassen bekam und der ganze Inhalt sich über den Boden verteilte.
»Fuck!«, fluchte Marius und hockte sich hin.
»Soll ich helfen?« Ralf stand unschlüssig da, doch der dunkelblonde Teenager schüttelte den Kopf.
»Neee, haltet mal draußen ’nen Platz frei. Ich mach das schnell und komm dann. Ich wollte eh noch mal pinkeln gehen.«
Die Clique nickte und verließ gemeinsam das Klassenzimmer, während Marius auf den Knien herumrutschte, um seine Stifte und Zettel wieder einzusammeln. So kam es, dass er der Letzte war, der noch in dem Raum war, abgesehen von dem Redner, der sein Pult aufräumte.
Unschlüssig richtete sich Marius wieder auf und trat einen Schritt an den Tisch mit den Broschüren heran. Seine Mitschüler hatten sie weitestgehend ignoriert. Er hatte nur einige der Mädchen gesehen, die sich Heftchen eingepackt hatten, die Proben von Clearasil enthielten und Tipps für die richtige Hautpflege.
Marius ließ den Blick über die Ratgeber wandern - Verhütung, Was tun bei einer ungewollten Schwangerschaft, Geschlechtskrankheiten, Hygiene, Tipps gegen Regelbeschwerden.
Der Jugendliche seufzte.
»Kann ich dir helfen? Suchst du etwas Bestimmtes?«
Der junge Mann, der den Vortrag gehalten hatte, war hinter Marius aufgetaucht und dieser fühlte sich derartig ertappt, dass er zusammenzuckte. Sein Gegenüber öffnete die Augen ein Stück weiter und hob entschuldigend die Hände. »Verzeihung. Also?«
Marius wandte den Blick wieder zu den Heftchen. »Also ... eigentlich ... ich glaube, so was haben Sie nicht hier ... ich seh’ zumindest nix.«
»Wenn du mir sagst, was du suchst, kann ich es dir besser beantworten. Ich hab eine ganze Menge hier.«
»Na, es ist zumindest nichts hiervon ...«
Der Wortführer sah Marius einen Moment lang an und lächelte dann. »Ich glaube, ich weiß schon ... ich habe hier ...«, er bewegte sich an den Rand des Tisches und zog einige Heftchen heraus, »auch ein paar Sachen für die Jungen, die ... nicht auf Mädchen stehen. Ist es das?«
Marius spürte, wie er feuerrot anlief, doch er nahm die dargebotenen Broschüren verstohlen entgegen. »Danke ...«
»Keine Ursache. Ich hab leider nicht so viele Abnehmer für diese Themen, deswegen liegen die Hefte immer weit hinten. Die meisten in deinem Alter trauen sich nicht, ernsthaft danach zu fragen.«
»Ist ja auch voll beschissen«, murmelte Marius und schob die Ratgeber zwischen seine Schulbücher, damit sie nicht durch Zufall entdeckt werden konnten.
»Keine leichte Zeit. Aber ich versprech’s, es wird besser. Alles.« Der junge Mann, der aussah, als wäre er selbst noch ein Student, lächelte noch einmal und ließ Marius wieder allein, um seinen Kram weiter zusammenzupacken.
Der Typ hatte leicht Reden - der hatte diese blöde Erwachsenwerden-Phase ja bereits hinter sich, dachte der Jugendliche spöttisch.
Mit einem Wort des Abschieds verließ er ebenfalls das Klassenzimmer, machte seinen Gang zur Toilette und gesellte sich dann zu seinen Freunden, die bereits wieder euphorisch waren, weil das Wetter super und es bereits Donnerstag war.
»Was machen wir heute?« Ralf schien mit der Frage nur auf Marius gewartet zu haben.
»Nix. Ich geh heim. Ich bin total erledigt. Die drei Tage im Bett haben mich weich werden lassen.«
»Echt? Party Pooper. Wir können nix ohne dich machen!«
Marius zog eine Augenbraue hoch. »Wer sagt das?« Er hatte heute ausnahmsweise mal keine Lust auf seine Freunde, er wollte sich in einer Ecke verkriechen und die Broschüren studieren, die er mitgenommen hatte. Außerdem spürte er wirklich die Auswirkungen des dreitägigen Fiebers. Er war noch nicht wieder so auf dem Damm wie gewöhnlich. Marius wollte sich hinlegen und die Schuhe ausziehen.
»Och Mann, ohne dich ist doch kacke.« Ralf schmollte.
»Das ist ja süß von dir, Alter. Aber nee. Der Arzt sagt, ich soll es langsam angehen lassen, sonst lieg ich gleich wieder um.«
»Süß? Du bist ein Penner.« Grölend und wiehernd wie immer schallte das Lachen von Marius’ bestem Freund über den Schulhof. Es war so merkwürdig, dass man automatisch mit einstimmen musste.
»Nehmt euch ein Zimmer. Aber pass auf, Ralf. Nicht, dass Marius dich auch noch umdreht.« Franziska lächelte honigsüß, doch der Angesprochene grinste nur und legte seinem Kumpel den Arm um die Schultern.
»Weißte, Süße, wahre Liebe gibt es nur unter Männern. Is’ nich so wie bei Weibern, die sich über einen Kerl verkrachen. ‚Bruder vor Luder’, oder sehe ich das falsch?«
Marius, Karsten und Dennis nickten. Selbst Jessica musste grinsen.
»Wenn du darauf stehst, dich in den Arsch vögeln zu lassen ...«, sagte Franzi gleichmütig.
Die Jungs zogen alle gleichzeitig die Augenbrauen hoch, was lustig gewesen wäre, wenn jemand darauf geachtet hätte.
Marius räusperte sich. »Das haben Kerle nich’ allein für sich gepachtet. Auch Frauen stehen drauf. Du hast es bestimmt auch schon probiert, gehen ja einige Storys über dich rum ...«
Franziska, die bereits den einen oder anderen Freund gehabt hatte, lief karmesinrot an und fauchte: »Du hast sie doch nicht mehr alle! Bin ich ne Schwuchtel, oder was?«
»Was hat das damit zu tun?«
»Du bist widerlich.«
»Glaub’ ich nicht. Sonst wärst du nich’ scharf auf mich. Jeder kennt deine Ansprüche.« Der Dunkelblonde musterte sie weiterhin.
Das Mädchen ballte wütend die Hände zu Fäusten, als Ralf wieder zu lachen begann: »Vielleicht hat sie sich dieses kleine Abenteuer für dich aufgehoben.«
»Ich passe«, entgegnete Marius trocken und Franziskas Beleidigung ging in der Hektik unter, in den Bus nach Hause zu steigen.
Der dunkelblonde Jugendliche ließ sich erschöpft neben seinen besten Freund auf einen der Sitze fallen. Die ewigen Spitzen und Zickereien des Mädchens gingen Marius allmählich an die Substanz. Er fragte sich, ob sie wohl auch so abgegangen wäre, wenn sie keinen Verdacht gegen ihn hätte. Wenn sie nicht glauben würde, er würde auf Daniel stehen und nur versuchen, das vor allen geheimzuhalten.
Marius hätte nie gedacht, dass sich eine seiner ältesten Freundinnen einmal zu so einem Besen entwickeln würde, nur weil er nicht mit ihr zusammen sein wollte. Was war aus dem kleinen Wörtchen ‚Nein’ geworden? Zählte das nicht mehr? Oder hieß ‚Nein’ nur ‚Nein’, wenn man weiblich war und sich einen aufdringlichen Kerl vom Leib halten wollte? Musste man als Mann akzeptieren, dass man unerwünscht war, doch eine Frau durfte ewig weiternerven, wenn sie abgewiesen wurde?
Lange würde der Jugendliche dieses Theater nicht mehr mitmachen. Wenn sie sich nicht einkriegen würde, würde er ihr die Freundschaft aufkündigen und er wusste, dass seine Kumpels mitziehen würden. Jessica vielleicht nicht, die würde weiterhin mit Franzi befreundet bleiben, aber dann außerhalb ihrer Gemeinschaft.
Doch das war der letzte Schritt, den Marius gehen wollte. Denn eigentlich lag ihm etwas an Franziska, daran, dass seine Clique, ihre ‚Bande’, wie sie es früher genannt hatten, intakt blieb. Er wollte nicht, dass blöde, verletzte Gefühle all das kaputt machten.
Doch er würde sicher nicht nachgeben und mit Franzi gehen, nur damit sie aufhörte, ihn zu terrorisieren. Und er würde sich auch nicht vordiktieren lassen, wen er zu mögen hatte und wen nicht. Selbst wenn er bis zum Schulabschluss Single bleiben würde, war das seine Sache. Er würde sich keine Freundin anlachen, damit die Leute nicht auf den Gedanken kamen, er würde verkehrt herum ticken.
Dass es so war, ging nur ihn allein etwas an. Nur er würde damit leben müssen. Alle anderen hatten es nur hinzunehmen, irgendwann, wenn er bereit war, es laut auszusprechen. Er hatte nicht mehr die Kraft, es vor sich selbst zu leugnen. Das tat er bereits seit Jahren, immerhin spürte er es nicht erst seit gestern.
»Also gehst du gleich heim dann?« Ralf riss Marius aus seinen Gedanken und dieser drehte ihm den Kopf zu.
»Ja. Sorry. Aber ich bin platt und müde.«
»Okay ...«
»Ihr könnt ja auch ohne mich was unternehmen. Ich brauch auch ne Pause von Franzi. Die geht mir so auf den Piss, ich wünschte fast, ich könnte noch drei Tage krank machen.«
»Das glaub’ ich gern. Und nicht nur dir ... die paar Tage, die du zuhause warst, hat sie ständig blöde Sprüche gemacht. Heinemännchen war Dienstag auch nicht da, da hat sie gleich wieder Mist gelabert, von wegen ihr hättet ein Date und solchen Mist. Das ist doch paranoid.«
Ralf sprach leise, doch das allgemeine Stimmengewirr im Bus und die schnatternde Schülerschar übertönte ihr leise geführtes Gespräch zur Genüge. Der Junge mit dem Überbiss hatte wenig Lust darauf, von dem blonden Mädchen angemacht zu werden, weil er angeblich hinter ihrem Rücken sprach. So, wie Franziska sich benahm, konnte man das nur so tun.
»Ich glaube, ihr wäre es egal, ob es n Mädel oder n Typ wäre, sie hasst kategorisch jeden in meiner Nähe. Und natürlich kann ich nur ein Homo sein, wenn ich nicht auf sie stehe. Es gibt da keine andere Erklärung - dass sie vielleicht nervt oder nicht mein Typ ist. Nein. Ich muss schwul sein, anders geht es nicht. Das ist ein Theater und darauf hab ich keine Lust.«
Ralf sah seinen besten Kumpel von der Seite an und man konnte sehen, wie die Rädchen hinter seiner Stirn arbeiteten. Marius bemerkte es und seufzte.
»Alter. Von dir brauch ich das jetzt nicht auch noch.«
»Nee, is’ schon gut. Und is’ ja auch deine Sache. Egal, was ist. Es wäre nur ... komisch, schätze ich.«
Der dunkelblonde Jugendliche nickte. Natürlich war es das. Es war seine Angelegenheit. Und es war merkwürdig. Und weil das so war, fürchtete er sich vor der Reaktion seiner Clique, wenn er sich ihnen anvertrauen sollte. Denn irgendwann würde er das sicher tun. Es war doch schäbig, etwas vor den besten Freunden geheimzuhalten.
»Hm«, machte Marius deswegen nur. Ein Teil von ihm sehnte sich spürbar danach, sich seinem besten Freund anzuvertrauen, denn dafür hatte man so jemanden doch. Doch Marius war sich nicht sicher, ob sein Kumpel auch halten konnte, was er sagte – ob er tatsächlich damit klarkommen würde. Denn etwas sagen, was nicht spruchreif ist und anschließend zu seinem Wort stehen, das waren zwei verschiedene Paar Schuhe.
»So weit hat sie uns gebracht, die Alte«, murrte Ralf und sank in seinem Sitz zusammen, die Knie an die Lehne des Vordermannes gestemmt. »Ein Wort, eine blöde Bemerkung und es geht nur noch um dieses dumme Thema. Als würde das irgendjemanden interessieren. Als wären wir auf einmal von Homos umzingelt und alle sind plötzlich schwul.«
Marius nagte auf der Innenseite seiner Unterlippe herum. Sie waren nicht umgeben. Es gab nur einen in Lengwede. Nämlich ihn selbst und er würde seinen linken Arm dafür geben, damit es anders wäre. Es würde ihm so viel Angst und Sorgen ersparen, wenn er ganz normal wäre, Franziska scharf finden und mit ihr gehen wollen würde.
»Würde es das Gerede zerstreuen, wenn ich ... also ...«, der Jugendliche schaute aus dem Fenster und Ralf wandte das Gesicht herum.
»Wenn du was? Ihr nachgibst?«, er grübelte einen Moment und schüttelte dann den Kopf, »nee, das würde, nach all ihrem Gequatsche und ihren Erpressungen eher so rüberkommen, als würdest du dir ein Alibi verschaffen wollen. Ich glaube, das würde ihre Paranoia noch verstärken. Lass’ sie einfach labern, Mann. Das machen wir auch. Sie ist nicht die Erste, die einen Kerl als Homo beschimpft, weil der keinen Bock auf eine bestimmte Tussi hat.«
Erschöpft nickte Marius. Er hoffte wirklich, dass es irgendwann im Sande verlaufen würde, wie so viele Dinge, die in ihrer Clique lange ein Thema gewesen und dann wieder verschwunden waren, wie ihre zeitweilige Vernarrtheit in Skateboards oder, als sie noch Kinder gewesen waren, das gemeinsame Hobby des Inline-Skatens, das heute von keinem von ihnen mehr betrieben wurde. Ebenso gab es populäre Gesprächsthemen, die lange beackert wurden und dann verschwanden.
Doch Marius befürchtete, dass es nicht besser werden würde, solange Franziska eine unglückliche Liebe für ihn empfand. Also würden sie alle es ertragen müssen, bis die Hellblonde sich ein neues Opfer suchen würde. Bis dahin musste Marius erdulden, dass ihre Augen ihn immer im Blick hatten und dass sie jeden vermeintlichen Fehltritt als Indiz für sein Schwulsein werten würde.
Und er würde sterben, wenn sie dahinter käme, wie Recht sie doch hatte!