Du bist Aji.
Du weißt, dass du besser deinen Freunden helfen solltest, doch der innere Drang ist übermächtig. Es ist, als würde der leuchtende Schöpferstein dich anziehen wie das Licht die Motte lockt.
Du springst auf und läufst der Elfe nach, die den Stein um den Hals trägt. Du musst ihn haben, musst ihn einfach berühren. Alle anderen Gedanken sind ausgeschaltet.
Die Elfe rechnet nicht mit einem Angriff von deiner Seite. Du kannst sie überraschen, indem du auf ihren Rücken springst. Schnell schließen sich deine Hände um die Kette und zerren daran. Die Elfe wehrt sich, doch du bist ein geübter Straßendieb. Dein halbes Leben lang hast du in Kaltmoor von dem gelebt, was die Menschen nicht rechtzeitig festhalten konnten.
Auch die Elfe ist zu langsam. Schon hast du die Kette in der Hand und spürst die kalte, glatte Oberfläche des Steins in der Handfläche. Du drehst dich um und willst zum Ausgang rennen. Die Elfe stößt einen schrillen, durchdringenden Schrei aus, mehrere Bewaffnete drehen sich nach dir um.
In Kaltmoor musstest du auch lernen, welche Gegenstände man besser nicht klaut, ja, nicht einmal ansieht. Der mächtige Schöpferstein gehört eindeutig dazu. Wäre nicht deine Mission und dazu dieser Drang, den Stein zu berühren, hättest du niemals auch nur darüber nachgedacht.
Jetzt ist es freilich zu spät. Du rennst durch die Halle, auf das Tor zu, doch von dort drehen sich mehrere Elfen mit gezogenen Waffen nach dir um. Der Kampf ist vergessen, nun hast du höchste Priorität. Von der Seite kommen weitere Feinde, hinter dir hat der König der Elfen ein langes Schwert gezogen und brüllt Befehle.
Du bist umzingelt. Gehetzt drehst du dich im Kreis. Mehrere Pfeile an der gespannten Bogensehne zeigen auf dich. Das Herz schlägt dir bis zum Hals.
In diesem Moment gibt es einen lauten Knall am Tor. Lichtblitze schleudern die Wachen und die provisorischen Holzbalken beiseite. Herein stürmen zwei Pferde: Ein braungescheckter Tinker und ein kleinerer, schlanker Schimmel. Allysters Augen sprühen Funken und Brennas Säbel sind zu zwei verschwommenen Blitzen zu ihren Seiten verschwommen. Deine Gefährten metzeln sich einen Weg durch die Menge, die den Fehler machte, sich nur auf dich zu konzentrieren.
Schon stehen die Pferde zu beiden Seiten von dir. Die Pfeile werden sirrend von den Sehnen gelassen. Du duckst dich hinter die Schulter des Tinkers.
Brenna schreit laut auf. Du siehst Blut spritzen und bist wie gelähmt, als Brenna aus dem Sattel kippt, genau auf dich zu. Du kannst dich nicht rühren.
Zwei kräftige, dunkle Hände packen Brenna. Allyster springt aus dem Sattel und zieht Brenna zu sich. Über ihre linke Seite strömt Blut. Mit der anderen Hand greift Allyster in die Zügel des Tinkers. Der Magier schleudert Brenna mit einiger Mühe zurück in den Sattel. Du siehst, dass sie ein Auge geöffnet hat. Sie hält sich fest, kann sich aber nicht aufsetzen. Mit einigen geschleuderten Blitzen verschafft Allyster euch etwas Zeit, dann springt er auf den Rücken des Tinkers.
„Aji! Auf Melréd, schnell!“, ruft er dir zu.
Du starrst den großen Schimmel an. Wie in Trance setzte du einen Fuß in den Steigbügel und kletterst auf den Rücken. Das Pferd ist viel zu groß für dich. Deine Füße reichen nicht bis an die Steigbügel, trotzdem nimmst du die Zügel auf.
„Los!“, ruft Allyster und wendet den Tinker. Melréd folgt dem Zauberer von alleine, du musst dich nur an den Sattel klammern. In gestrecktem Galopp preschen die Pferde durch das Tor, hinaus auf den Burghof. Elfen springen beiseite, Pfeile fliegen durch die Luft, Brenna verliert viel Blut. Du duckst dich über Melréd Hals und kneifst die Augen zusammen, als die Pferde rennen.
Ihr gelangt in die Stadt im Baumstumpf. Doch auch in den Straßen wimmelt es von Elfen auf ihren schwarzen Wölfen. Du musst die Zügel aufnehmen und versuchen, Melréd aus der Gefahr zu lenken. Der schnelle Schimmel überholt den Tinker mit dessen doppelter Last. Du merkst, dass du wild im Sattel rutscht und nimmst die Zügel in eine Hand, um dich mit der anderen festzuhalten.
Plötzlich sind Brenna und Allyster nicht mehr hinter dir.
Du siehst dich um. Da! Hinter einem Haus taucht Allysters dunkler Schädel auf. Du zerrst an den Zügeln.
„Steh, Melréd!“
Deine Stimme ist hoch und dünn, doch die Stute gehorcht trotzdem. Du fällst beinahe aus dem Sattel, als sie auf der Hinterhand wendet, die Vorderhufe wirbeln durch die Luft.
Keuchend sitzt du auf dem schnaubenden Tier. Allyster lenkt den Tinker in einiger Entfernung über eine Treppe auf ein Hausdach, er wird von mehreren Elfen auf Wölfen verfolgt. Und nun reitet er in eine Sackgasse!
Doch auch auf dich halten mehrere Elfen zu, treiben ihre Wölfe zu einem blutrünstigen Galopp.
Den Schöpferstein hältst du immer noch in der Hand. Jetzt wird der Stein plötzlich heiß. So, wie du es aus Allysters Lehren über praktische Magie kennst, reißt du den Arm hoch und schreist ein einziges Wort: „Rette!“
Violettes Licht explodiert aus dem Stein über dir. Erschreckt bäumt sich die große Schimmelstute auf. Du hältst dich am Sattel fest, streckst mit der anderen Hand immer noch den Stein in den Himmel. Das Glühen hüllt dich ein und verschluckt die Welt in gleißender Helligkeit.
Als das Licht wieder weicht, sind die Straßen voller als zuvor. Aus den Eingängen der verlassenen Häuser treten Dunkelelfen: Bleich und rothaarig, mit steifen, ungelenken Bewegungen. Ihre Haut ist vermodert. Maden winden sich in klaffenden, blutleeren Wunden. Anstelle von Augen haben sie zwei violette, leuchtende Steine im Gesicht.
Ihr unheimlicher Anblick lähmt dich. Die Schimmelstute von Allyster wiehert schrill und angsterfüllt, während die stumme Armee um euch herum strömt. Doch die Kreaturen nehmen keine Notiz von euch.
Eine unnatürliche Kälte erfasst deinen Arm und kriecht weiter, durch deinen Oberkörper und Kopf bis in die Beine. Vor deinen Augen dreht sich die Welt. Mühsam ziehst du die Hand nach unten. Die Bewegung geht schwer, als würdest du die Hand nicht etwa herab, sondern herauf ziehen, einen schweren Korb und nicht nur einen kleinen Edelstein im Griff.
Du presst die Hand gegen die Brust. Die Dunkelelfen mit den Steinaugen beginnen, die Häuser der Stadt auseinanderzunehmen.
Verständnislos siehst du zu. Die normalen Dunkelelfen ergreifen entsetzt die Flucht. Ihre Wölfe sprengen davon, zurück zum Schloss. Schreckensschreie und Wehklagen vermengen sich mit ängstlichem Winseln. Lautes Knirschen ertönt – die Steinaugen zerreißen die in das steinerne Holz geschlagenen Hütten. Sie zerreißen den Baumstumpf!
„Aji!“, brüllt Allyster. Wie aus dem Nichts ist der Tinker aufgetaucht. Allyster führt die Zügel, Brenna hängt quer über dem Sattel. Sie rührt sich nicht. Das Kaltblut donnert an dir vorbei. Du wendest den Schimmel und schreist ihm ins Ohr: „Galopp!“
Melréd folgt Brennas namenlosem Braunschecken. Die Pferde rennen über die Baumwurzeln und hinein in den Tannenwald. Allyster hält nur einmal an. Das Maultier steht im Unterholz, dort, wo euer Lager war, nur locker an einen Baum gebunden, die Vorräte auf den Rücken geladen. Deine Gefährten müssen dir bei deiner Gefangennahme unverzüglich gefolgt sein.
Allyster nimmt den Führstrick auf, dann wickelt er eilig einen Mantel um Brenna. Schon reitet ihr weiter. Ihr galoppiert, bis die Pferde nass vom Schweiß sind, dann trabt ihr und fallt schließlich in den Schritt. Ihr reitet die ganze Nacht hindurch. Am frühen Morgen macht ihr eine Pause in einer geschützten Erdkuhle.
°°°
Du fällst aus dem Sattel und willst eigentlich nur noch schlafen. Den ganzen Ritt über pochen bereits heftige Kopfschmerzen in deinem Schädel. Dir ist übel und deine Hände zittern. Die meiste Zeit hast du mit geschlossenen Augen im Sattel gesessen und gehofft, dass deine Schimmelstute einfach dem Tinker und dem Packtier folgen wird.
Doch Allyster macht keine Anstalten, die Schlafsäcke bereit zu machen. Er legt Brenna auf den Boden und überprüft ihre Atmung, dann sieht er dich an.
„Aji?“
„Ja“, sagst du, eingeschüchtert von dem Tonfall des Magiers. Allyster klingt … unsicher. Zögerlich. So hast du ihn noch nie erlebt.
„Du bist es also wirklich.“
Du weißt nicht, was der Magier damit sagen will. Allyster bemerkt deine Verwirrung und greift in eine seiner beiden Taschen, um einen kleinen Handspiegel herauszuholen. Mit einer schlechten Vorahnung ergreifst du den Spiegel und siehst hinein.
Das graue Morgenlicht reicht aus, um die unheimliche Veränderung zu begutachten: Deine Haare sind nicht länger schwarz, sondern schimmern in einem unnatürlichen, grellen Rosaton. Und deine Augen sind leuchtend purpurfarben, fast wie Waldbeeren. Du starrst in den Spiegel und fühlst dich, als wärst du dem Blick eines Dämons ausgesetzt. Unwillkürlich streichst du über deine Haare und reibst dir die Augen – sie fühlen sich nicht anders an als sonst.
„Was … was ist mit mir?“, fragst du mit zitternder Stimme.
„Ich weiß es nicht“, sagt Allyster. Er klingt müde. „Du hast den Schöpferstein, nicht wahr?“
Zögerlich zeigst du den violetten Ametrin an seiner Kette und willst ihn Allyster reichen. Der Magier zieht seine Hand schnell zurück.
„Behalte ihn. Du hast den Stein erkämpft – und eingesetzt.“
Du betrachtest den violetten Stein und streichst über die kühle, glatte Oberfläche. „Das war echte Magie, nicht wahr?“
„Echte, alte Magie“, bestätigt Allyster. „Möglicherweise hat sie dich so verändert. Nur aus Interesse – was hast du gerufen, um die Toten zu erwecken?“
„Die Toten?“, piepst du. „Das waren Tote?“
„Tote Dunkelelfen.“ Der Zauberer nickt. „Die Toten, die in ihren letzten Atemzügen den Stein gesehen oder berührt haben, sind für immer an ihn gebunden. Sie gehorchen nun dir.“
Diese Verantwortung und Macht behagt dir nicht. Du streifst die Kette über und hängst dir den Stein um den Hals, wie ihn die Elfe getragen hatte. Dann siehst du Allyster an. „Ich habe ‚rette‘ gerufen. Ich wollte, dass er euch rettet.“
Allyster lacht leise. „In der Gemeinsprache? Für echte Magie braucht man die alte Sprache, du Dummkopf! Und eindeutige Befehle. Habe ich dir denn nichts beigebracht?“ Mit plötzlichem Ernst sieht der Magier durch den Wald in die Richtung, in der die Elfenstadt liegt. „Wahrscheinlich hat der Stein ‚Jekket‘ verstanden. Das bedeutet Baumeister oder Zimmermann. Die Toten tun also, was sie wohl als Zimmermänner tun würden – sie bauen etwas.“
„U-und was?“, stammelst du.
Der Zauberer zuckt mit den Schultern und lächelt ein säuerliches, ironisches Lächeln. „Einfach irgendwas. Zu unserem Glück! Das sollte die Dunkelelfen aufhalten. Aber du wirst die alte Sprache lernen müssen, damit du den Toten nicht aus Versehen befiehlst, uns umzubringen.“
Du streichst über den Stein. „Ich will ihn lieber nie wieder benutzen!“
Allyster nickt. „Verständlich. Die Kraft der Nekromantie ist unheimlich und gefährlich. Aber du bist nun der Träger dieses Steins. Für den Zweifelsfall solltest du ihn einzusetzen wissen. Und jetzt – reich mir einen Wasserschlauch. Wir müssen uns um Brenna kümmern. Verdammt, hättest du mir nur früher gesagt, dass uns die Dunkelelfen nicht verfolgen können! Hier, das Hemd ist förmlich mit der Kruste verwachsen!“
Du wendest den Blick ab und suchst eine Wasserflasche. Im Gegensatz zu Allyster findest du Wunden und Eiter nicht faszinierend, sondern ekelig.
Herzlichen Glückwunsch!
Dies ist das Canon-Ende von Ajis Part.
Lies weiter in Kapitel 20.