Du bist Allyster der Sehende.
Die Tage auf See reihen sich endlos aneinander. Während die ersten Tage in deiner Erinnerung zu einem Alptraum verschwimmen, in dem jede Welle deinen geplagten Magen umdreht, gewöhnst du dich mit der Zeit an die Routine an Deck.
Beim ersten Licht des Morgens schlägt die Nachtwache eine Glocke, die euch alle aus euren Betten reißt. Wer zu spät auf Deck antritt, muss seinerseits mit einem Fußtritt von Karja rechnen.
Es gibt für jeden ein Stück Brot und gleich darauf beginnt die Arbeit.
Für dich, einen Gelehrten und Meister von Schrift und Sprache, Alchemie und Magie, heißt das: Schrubben, bis die Finger bluten, während die erfahrenen Seemänner durch die Takelage klettern.
Brenna wenigstens teilt dein Leid, aber Aji, dem förmlich verboten wurde, zu arbeiten, tanzt fröhlich zwischen euren Eimern herum und geht euch auf die Nerven. Statt dankbar zu sein, dass ihr eure Überfahrt erarbeitet, macht sich der Junge über euch lustig.
Du kannst ihm nicht wirklich böse sein.
Später am Tag gibt es ein kleines Mittagessen, um euch auf den Beinen zu halten, dann wird weiter gearbeitet. Das Deck zu schrubben ist eine undankbare Aufgabe, denn wann immer ihr bis vorne zum Bug gekommen seid, ist es am Heck bereits wieder dreckig. Wenn ihr Abends zum großen Essen trottet, sieht das Deck nicht viel besser aus als am Morgen, als ihr angefangen habt.
Die Tage vergehen ereignislos. Einige Piraten murren über das Ausbleiben der Beute, dir ist bei dem Gedanken jedoch recht wohl. Seitdem Karja eure Mission kennt, hat sie einen direkten Kurs zur Mittsee befohlen und lässt mögliche Beuteschiffe außer Acht. Die Mannschaft ahnt vielleicht, was vor sich geht, doch Karja lässt sie für den Moment im Dunkeln.
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Schließlich, eines schönen Tages an See, ertönt plötzlich ein Ruf aus dem Krähennest: „Segel in Sicht!“
„Gefechtsposition!“, bellt Karja. Die meisten Segel, denen man begegnet, gehören Piratenschiffen. Schon mehrfach seid ihr welchen begegnet, die wie neugierige, hölzerner Tiere näher kamen und dann abdrehten, als ihnen klar wurde, dass Karjas Schiff die größere Feuerkraft hat.
Doch diese Segel wachsen breit und hoch vor euch aus dem Meer. Sie erstrecken sich bald quer entlang des Horizontes. Schließlich wird dir klar, dass es nicht ein riesiges Schiff ist, sondern etwas noch größeres.
Gemeinsam mit Brenna und Aji stehst du im Bug und bestaunst die riesige Insel aus Holz, die vor euch im Wasser treibt.
Es handelt sich um ein Gewirr verschiedener Holzplattformen, die mit dicken Tauen oder Ketten aneinander gebunden sind. Auf manchen der Plattformen stehen Häuser und große Gebäude, andere sind gerade groß genug, als dass eine Person darauf stehen könnte – ihre Funktion ist wohl eher, den Seegang auszugleichen.
Die größeren Plattformen sind mit riesigen Segeln ausgestattet, außerdem ankern einige Schiffe an der beweglichen Insel, und dazwischen fahren kleinere Boote. Ein Geruch nach Zivilisation, Fisch und Seetang begrüßt euch.
„Ankern!“, ruft Karja zum Erstaunen ihrer gesamten Mannschaft, lange, bevor sie Land erreichen.
Verwirrt befolgen die Piraten ihren Befehl. Glied um Glied der langen Kette fährt in die See, scheinbar endlos, bis der Anker endlich auf Widerstand trifft. Du schätzt, dass der Ozean bei Mittsee viele Meilen tief ist. Dass die Ankerkette überhaupt lang genug war!
Karja lässt eine andere Flagge hissen, die immer noch ihr Piratensymbol zeigt, jedoch sehr viel förmlicher wirkt. Diese Flagge ist kein zerfetztes Tuch, sondern besitzt einen silberbeschlagenen Rand, kurze Fransen und feines Stickwerk.
Dann muss die Mannschaft antreten und Karja winkt euch zu sich.
„Leute!“, bellt sie über die Köpfe der Versammelten hinweg. „Ich habe euch etwas zu sagen. Ihr habt euch über zu wenig Beute beschwert – nun, wir werden bald große Beute machen, größer, als ihr es euch erträumen könnt.“
Erstauntes Raunen geht durch die Menge. Du richtest dich auf. Dies ist also der Moment, in dem Karja ihrer Mannschaft die Wahrheit sagt!
„Aber diese Beute ist mit großem Risiko verbunden. Ich sage euch die Wahrheit: Wir werden die Piratenkönige selbst bestehlen!“
Das Raunen legt sich schlagartig.
Karja deutet auf euch. „Unsere Gäste brauchen etwas aus diesem legendären Schatz. Wir werden ihnen helfen. Doch zuerst bleibt euch die Wahl offen, ob ihr uns ebenfalls helfen wollt. Jeder von euch kann frei entscheiden, ob er oder sie dieses Risiko eingehen will!“ Karja blickt ernst in die Runde. „Wer mit mir kommt, hebt seine Waffe. Wer nicht geht, gibt seine Waffe bei mir ab – ich muss euer Verhalten unseren Gesetzen nach als Meuterei ansehen und euch von Bord werfen – nun, die Mittsee ist nah, ihr werdet gerettet werden. Da draußen fahren genügend Fischer umher. Nur eines muss ich von euch verlangen, wenn ihr jetzt geht: Kein Wort. Kein einziges Wort über unsere Unternehmung!“
Eine kurze Stille schließt sich an. Eine kleine Gruppe tritt schließlich nach vorne und überreicht ihre Waffen.
„Du weißt, ich habe Kinder in Mittsee“, sagt eine Frau, und ein Mann murmelt: „Ich möchte das Piratenleben noch nicht aufgeben, und dein Vorschlag würde einen vorzeitigen Ruhestand bedeuten.“
Insgesamt wirkt deine erste Meuterei ausgesprochen geordnet und höflich. Die Meuternden bedanken sich bei Karja, erhalten jeder noch etwas Gold für ihre Arbeit und dann verabschieden sie sich und springen über eine Planke von Bord.
Fast sofort ändern einige Fischerboote die Richtung und kommen wie Haie auf die strampelnden Seemänner zugeschossen. Karja überwacht, dass auch wirklich jeder gerettet wird.
Dann wendet sich sich jenen zu, die geblieben sind: „Auf!“
Brüllend und jubelnd recken die Piraten ihre Waffen in die Luft.
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Mit knarzenden Segeln und Tauen fährt Karjas Schiff, die Seeteufel, im Hafen von Mittsee ein.
Auf den Holzstegen zu beiden Seiten laufen Menschen auf und ab – manche in der bunten, teuren Kleidung von Kapitänen, andere in den heruntergekommenen Hemden und Hosen von Matrosen, manche ärmlich gekleidet wie Schiffsjungen. Die Sklaven tragen Fetzen und Fußfesseln, die Huren auffällige, bunte Farben oder Leder. Fremde Gerüche und Düfte erfüllen die Luft, nicht viele davon angenehm.
Du musst anerkennen, dass zu mindestens das Problem des Abwassers, das andere Städte bereits unbewohnbar gemacht hat, bei dem Netz schwimmender Plattformen gelöst ist.
Die Seeteufel geht vor Anker – diesmal werdet ihr direkt am Holz vertäut.
Eine Planke wird zu den Stegen geschoben. Eine ganze Gruppe Hafenarbeiter sammelt sich sofort am Steg und hofft wohl auf Arbeit, doch Karja scheucht sie unfreundlich weg. Sie tritt zuerst an Land (wenn man von Land reden kann), du folgst mit Brenna und Aji an deiner Seite. Aji hat sich wieder in seine Kapuze verkrochen.
Auch die restlichen Piraten der Mannschaft verlassen das Schiff, doch sie zerstreuen sich bald, während ihr Karja folgt. Die führt euch durch ein Gewirr von engen Gassen, über schmale Brücken oder dicke Taue, Planken und Stege, bis selbst du jede Orientierung verloren hast. Dir fällt allerdings auf, dass ihr in immer bessere Gegenden kommt: Die Häuser wachsen in die Höhe, offizielle Gebäude wie Tavernen oder Hurenhäuser bleiben zurück, die Wege werden breiter.
Schließlich bleibt Karja vor einem doppelstöckigen Holzhaus stehen, das zwischen seinen riesigen Nachbarn dann doch eher bescheiden aussieht. Die Front ist mit Schnitzereien von Muscheln und Meeresbewohnern verziert, es gibt sogar einen kleinen, verwilderten Vorgarten.
„Immer herein.“ Karja öffnet die Tür mit einem Schlüssel, den sie an einer langen Kette um den Hals trägt, und lässt euch dann den Vortritt.
„Ist das … dein Haus?“, fragt Brenna, die sich mit offenem Mund umsieht.
„Klar.“ Karja amüsiert sich über die Bewunderung.
Auch du musst anerkennend nicken. Ihr steht in einer kleinen Halle, eine Wendeltreppe in deren Mitte führt nach oben in den zweiten Stock, von dem eine Galerie in die Halle hinein ragt. Es gibt in einer Ecke ein Sofa und eine (nicht zusammenpassende) Sammlung von Liegen und Sesseln, die um einen Kamin angeordnet stehen. Auf der anderen Seite steht ein Esstisch.
Von der Halle führen mehrere Türen zu anderen Räumen, vier davon liegen im Erdgeschoss, im Obergeschoss liegen zwei weitere Räume. Alles in allem ist die Einrichtung wohl eher auf Zweckmäßigkeit als auf gutes Aussehen ausgelegt.
Karja führt euch durch das Haus, das ein wenig verlassen riecht – sie war lange nicht mehr hier, Staub hat sich angesammelt.
Die Räume im Erdgeschoss stellen sich als ein Schlafzimmer, eine Abstellkammer, eine Küche und ein Bad heraus, letzteres mit einem Loch im Boden statt einer Toilette. Du kannst das Meer in der Tiefe schwappen hören und erhältst auch einen kurzen Blick auf das Innere der Holzpaletten, die die Stadt tragen. Nur die oberste Schicht ist aus Holz, darunter erstreckt sich Stein, vermutlich mit großen, eingeschlossenen Lufträumen, die der schwimmenden Stadt den richtigen Auftrieb geben.
Die Räume im Obergeschoss stehen voller Bücher, aber Karja zerrt dich aus dem Raum und gibt euch drei Matratzen, die ihr nur über die Wendeltreppe nach oben kriegen müsst: Schon habt ihr zwei nette Zimmerchen.
„Das ist ungemein freundlich“, sagst du überrascht, als dir Karjas Absicht klar wird. „Wir hätten uns auch ein Zimmer in einem Gasthaus nehmen können!“
„Das hättet ihr tun können, ja.“ Karja lächelt. „Diese Lösung ist allerdings preiswerter und sicherer. Hier könnt ihr niemandem als Fremdlinge auffallen und ich muss mir keine Sorgen machen.“
Du hältst das Ganze für nicht sonderlich professionell, doch Brenna und Aji sind beide so begeistert, dass du nur zustimmen kannst.
Daraufhin helft ihr Karja, das Haus etwas auf Vordermann zu bringen. Während du mit Aji noch Staub in den kleinsten Ecken suchst, ziehen sich Brenna und Karja unauffällig zurück und werkeln in der Küche herum.
Am Abend gibt es ein wahres Festmahl, verglichen mit dem Essen an Bord, mit frischem Fleisch und süßen Beeren. Mit Bedauern isst du nur kleine, vorsichtige Portionen. Es schmeckt ungemein gut, aber der neue Seegang auf der schwimmenden Stadt hat deine mühsam aufgebaute Toleranz gegen schwankende Untergründe ins wortwörtliche Wanken gebracht.
„Okay, meine Mitverschwörer“, sagt Karja schließlich. „Wir werden uns auf einen Plan einigen müssen, um den Schöpferstein zu stehlen. Mir fallen spontan zwei Möglichkeiten ein: Wir können den Stein direkt stehlen oder einen hochrangigen Piraten als Geisel nehmen und den Stein erpressen. Beides birgt hohe Risiken. Die Schatzkammer ist verständlicherweise das Herzstück von Mittsee. Ich habe keine Ahnung, wie wir eindringen können. Ein Tauschgeschäft ist sehr viel einfacher. Andererseits verlieren wir damit jeden Vorteil der Heimlichkeit.“
Du lehnst dich zurück. In eine unbekannte, möglicherweise stark gesicherte Schatzkammer eindringen? Oder zum Geiselnehmer werden?
Du rätst der Gruppe …
- … einen Einbruch zu versuchen. Lies weiter bei Kapitel 20.
[https://belletristica.com/de/books/20829/chapter/22920]
- … eine Geisel zu nehmen. Lies weiter bei Kapitel 21.