Du bist Brenna Sundergeer.
Du treibst deine Stute an und willst Arthrax hinter dir lassen.
„Hör mal, Brenna“, sagt dein Bruder. „Es tut mir leid.“
Du wendest dich im Sattel um, überrascht. Dein Bruder gehört nicht der Sorte Leute, die sich entschuldigen – oder überhaupt einen Fehler zugeben.
Mit einem kurzen Tritt der Ferse treibt Arthrax sein Pferd neben deines. „Ich hätte das nicht sagen sollen.“
„Das stimmt. Hättest du nicht“, sagst du, immer noch wütend. Arthrax reitet schweigend neben dir, eure Pferde folgen der gepflasterten Hauptstraße fort von der kleinen Siedlung, die im Grunde nur aus der Taverne, einer Poststation und drei kleinen Wohnhäusern besteht. Es regnet, aber es sieht aus, als würden sich die Wolken später noch verziehen. Die kalten Tropfen vertreiben den letzten Nachhall des Katers aus deinen Knochen.
Schließlich hält Arthrax an. Die Straße teilt sich auf, ein Weg führt nach Süden, der andere nach Westen.
„Ich wünsche euch viel Glück“, sagt Allyster, der Aji vor sich auf den Pferdehals gesetzt hat.
„Euch auch“, sagt Arthrax und wirft dir einen Blick zu. „Pass auf dich auf, Brenna.“
„Du auch, kleiner Bruder“, sagst du mit einem schiefen Lächeln. Jetzt, wo der Abschied gekommen ist, wird dir doch etwas mulmig. Du hast dich selten für länger als ein, zwei Tage von deinem Bruder getrennt, nun ist es fraglich, wann ihr euch wiedersehen werdet.
„Wir treffen uns bei der Taverne“, schlägst du vor. „Wenn alles vorbei ist.“
Arthrax nickt. „Wir werden sicherlich Neuigkeiten austauschen müssen.“
Du lächelst und bekämpfst den Drang, deinen Bruder ein letztes Mal zu umarmen. Mit einem unhörbaren Seufzer wendest du deine Tinkerstute und nimmst den Führstrick des Maultiers auf. Allysters Schimmel folgt dir. Arthrax und Elred schlagen die Straße nach Süden ein.
Der kleine Aji ist ungewöhnlich still. Immer wieder dreht er sich um und sieht zurück, selbst nachdem Arthrax und Elred längst außer Sicht sind.
„Wir werden sie bald wieder treffen“, tröstest du den kleinen Jungen.
Aji starrt dich an. „Und wenn sie sterben?“
Du bist entsetzt, aber du überspielst es geschickt. „Das wird nicht passieren, Aji. Arthrax und Elred sind gute Kämpfer – aber noch wichtiger, sie wissen, wann man nicht kämpfen muss!“
Bei Elred bist du dir in diesem Punkt sicher. Und wie sich gezeigt hat, kann dich auch dein hitzköpfiger Bruder noch überraschen.
Allysters Schimmel ist ein temperamentvolles Tier. Zu Beginn der Reise zügelt der Zauberer sein Reittier noch, doch im Laufe des Tages schließt er zu dir auf, dann überholt das weiße Pferd deine Stute. Immer wieder fällt das schlanke Tier in einen ungeduldigen Trab. Schließlich lenkt Allyster sein Reittier von der Straße und lässt die Stute in weiten Kreisen galoppieren. Aji jauchzt vor Freude.
Gegen Mittag legt ihr eine kurze Rast ein. Zum Glück hat der Regen nachgelassen und ihr könnt ein kleines Feuer entzünden, über dem ihr einige Streifen Fleisch bratet. Die Vorräte Hauptmann Falurs schmecken besser als alles, was du im Laufe deines Lebens gegessen hast. Der Schinken schmeckt rauchig und ist intensiv gewürzt, das Brot ist weich und süß, sogar das Wasser schmeckt wie aus einem Wildbach. Mit der ersten Mahlzeit dieses Tages und verflogenem Kater hebt sich deine Laune.
„Wie lange ist es noch zur Grenze?“, fragst du Allyster. „Ein halber Tagesritt?“
Der Magier nickt bedächtig. „Sogar weniger. Wir sind gut vorangekommen. Heute Abend werden wir die Wachtürme sehen. Aber dahinter erwartet uns die graue Zone, ehe wir wirklich in den Jenseitslanden sind. Und dann braucht es sechs, sieben Tagesritte, bis wir die Grenze der Dunkelelfenwälder erreicht haben.“
„Vorräte haben wir genug“, meinst du. „Warum also die düstere Miene, Zauberer?“
Allyster seufzt und zwirbelt den Oberlippenbart. „Du hast gehört, was Falur sagte – dass es Unruhen gibt, Spähtrupps, Wachen. Wir müssen schnell und unauffällig reisen.“
Du versuchst, dir die Laune nicht verderben zu lassen. „Wir schaffen das, Allyster. Wir sind schon durch stärker bewachte Gebiete gelangt.“
Allyster schüttelt den Kopf. „Hier geht es nicht um die Zwiste zweier Adeliger, Brenna. Wir haben es nicht mit Banden von wider Willen verpflichteten Bauern zu tun. Wir müssen vorsichtig sein.“
Du nickst zum Zeichen, dass du ihn durchaus verstanden hast. Dann packt ihr die Sachen zusammen und klettert zurück in die Sättel. Dir tut das nicht vorhandene Sitzfleisch weh. Es ist lange her, dass du ein Pferd besessen hast und lange Strecken geritten bist. Bei deiner Arbeit ist es meist lukrativer, zu Fuß zu reisen.
Du fragst dich, wo Arthrax und Elred nun sein mögen. Ob sie sich der südlicheren Grenze nähern? Und ob Arthrax es zustande bringt, sich nicht mit dem Elfen zu zerstreiten?
Die Grenze ist wenig mehr als ein schlammiger Graben, hin und wieder gesäumt von Wachtürmen aus modrigem Holz oder geborstenem Stein. Du weißt, dass die Grenzen anderswo besser befestigt sind – bei Südmark beispielsweise – doch hier rechnet man offenbar nicht mit Überfällen. Der Vilrexsumpf sollte die meisten Armeen abschrecken.
Euch ist den ganzen Tag keine Menschenseele begegnet, auch an der Grenze ist niemand zu sehen. Trotzdem lenkt Allyster seinen Schimmel in den Graben eines schlammigen Baches, der sich vor euch auftut. Deine Tinkerstute folgt brav, das Maultier klettert zögerlich hinterdrein. Die Hufe eurer Tiere klatschen laut im brackigen Wasser.
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Die Jenseitslande unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht von den Grenzgebieten Kalynors. Der Übergang zur Wildnis ist graduell. Zuerst trefft ihr noch gelegentlich auf Ruinen, alte Hütten, sogar Jagdkaten, die noch von Menschen genutzt werden. Doch wie im Südwesten Kalynors gibt es auch in den Jenseitslanden keinen Ackerbau, der Boden ist zu karg.
Nach drei Tagen schließlich seht ihr überhaupt keine Zeichen der Zivilisation mehr. Es gibt keinen Weg, dem ihr folgen könntet. Der Bachlauf führt euch durch Sumpfgebiete und Feuchtwiesen, vorbei an Wäldchen voller Unterholz und Brennnesseln. Nachts quaken Frösche und surren Mücken überall um euch herum, die Sterne leuchten. Ihr folgt dem tiefen Flussbett, das mehr und mehr verschlammt. Abends müsst ihr die Hufe der Pferde umständlich vom Dreck säubern, Beine, Bauch, sowie eure Stiefel und Steigbügel sind schwarz vom Schlamm.
Ihr schlagt eure Lager im Unterholz auf, verzichtet auf Feuer und Jagd. Du willst diese Landstriche so schnell wie möglich durchqueren und auch Allyster treibt euch jeden Tag bis spät in die Nacht vorwärts, damit ihr so viel Strecke wie möglich hinter euch bringt. Dein Hinterteil schreit stumm vor Schmerz.
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Die Reise ist ermüdend und monoton, deswegen braucht es eine Weile, bis die Wipfel der Tannen in dein Bewusstsein dringen, die schließlich am Horizont erschienen sind. Du hebst den Blick und erkennst einen dunklen Tannenwald, der sich vor euch aus dem sumpfigen Grasland erhebt.
„Allyster!“, rufst du aufgeregt. „Sieh doch!“
Der Magier, vor dem Aji im Sitzen eingeschlafen ist, hebt den Kopf und zügelt den Schimmel. Aus dunklen Augen betrachtet er den Wald.
„Ja. Das ist der Ewyân“, bescheinigt er dann. Unruhig sieht Allyster sich um.
Ihr habt den Bachlauf an diesem Morgen verlassen müssen, da er euch nicht weiter nach Westen führen konnte. Seitdem ist Allysters Stirn in besorgt gerunzelter Position erstarrt, denn ihr reist ohne jede Deckung durch die Wiesen, die hier und da von Büschen und Sträuchern durchbrochen werden, seltener von Erlenhölzern. Nun, zu den Abendstunden, liegt dichter Nebel über dem Land, die weißen Schwaden hüllen die Wiesen in geisterhaftes Licht. Du lässt dich von der Sorge des Zauberers anstecken und hältst in den Steigbügeln aufgerichtet nach Wachen Ausschau.
„Ich bin mir nicht sicher, was klüger wäre“, sagt Allyster bedächtig.
Aji richtet sich auf und streckt sich gähnend, offenbar davon geweckt, dass das sanfte Schaukeln des gehenden Pferdes aufgehört hat. „Sind wir da?“
Allyster nickt. „Aber nun kommt der schwierige Teil: Wir müssen Ewyân unbemerkt betreten. Wir könnten den Waldrand noch heute erreichen und dort einen geschützten Lagerplatz finden. Vielleicht sollten wir aber auch bis morgen früh warten. Denn falls sich dort Wachen verbergen, sehen wir sie erst, wenn wir ihnen bereits in die Arme gelaufen sind.“
Der Magier sieht dich fragend an. Dir ist es unangenehm, dass Allyster dich um Rat fragt – bisher lief es eigentlich immer andersherum.
Wieder siehst du zum Wald und versuchst, das Risiko einzuschätzen. Er könnte euch für die Nacht Deckung bieten und dich lockt die Vorstellung, endlich wieder ein Feuer anzünden zu können, ein Luxus, den ihr euch auf den Wiesen nicht leisten wolltet. Bei dem Gedanken an gebratenes Fleisch läuft dir das Wasser im Mund zusammen und deine Entscheidung ist schon halb gefällt.
Doch Allyster hat Recht, wenn er Wachen fürchtet. Du weißt nicht, welche Gefahren in den Elfenwäldern lauern, aber du glaubst, dass die Dunkelelfen ihre Grenze sicherlich bewachen werden. Es kann nicht schaden, die Grenze bei Tageslicht für einige Stunden zu beobachten, um sicherzugehen, dass die Luft rein ist.
Du wirfst einen Blick zu Aji herüber, der mit finsterem Gesichtsausdruck auf einem Daumennagel kaut und mit den Füßen neben dem Hals des Pferdes baumelt. Das Kind sieht nicht aus, als würde es sich auf eine weitere Nacht im feuchtkalten Gras freuen.
Du entscheidest dich …
- ... das Lager im Wald aufzuschlagen. Lies weiter bei Kapitel 5.
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- ... das Lager im Grasland aufzuschlagen. Lies weiter bei Kapitel 6.