https://www.deviantart.com/ifritnox/art/705732967
Aus dem Schlaf riss sie ein dumpfes, unangenehmes Pochen. Jackie drehte, mit geschlossenen Augen, den Kopf hin und her und versuchte, das Geräusch zu orten. Es gelang ihr nicht. Außerdem stellte sie fest, dass ihre Augenlider verklebt waren. Mit einiger Mühe konnte sie ein Auge öffnen und kniff es sofort wieder zu, als ein greller Sonnenstrahl in ihr Auge stach.
Sie stöhnte.
Dann rollte sie sich auf die Seite und würgte unter einer plötzlichen Welle von Übelkeit. Sie schaffte es, ihren Mageninhalt bei sich zu behalten und schluckte ein paar Mal. Das Dröhnen erklang immer noch, hämmerte ihr alles Denken aus dem Kopf.
Jackie blinzelte und sah ihre Hände in ihrem eigenen Schatten unter sich. Sie schmatzte, ihre Zunge fühlte sich pelzig an.
Ihr Blick wanderte zur Seite, wo eine Gestalt lag und schnarchte. Es war Najaxis, der im Gras ausgestreckt lag, eine Hand auf dem Bauch, die andere im Moos über seinem Kopf. Ein Bein hing in einen kleinen Tümpel hinein.
Außerdem trug er keine Kleidung, was Jackie erst nach einer Weile auffiel. Sie sah an sich herunter.
»Kobolddreck!«
Auch ihre Kleidung war fort. Sie rappelte sich unsicher auf und taumelte durch das dichte Gebüsch. Äste zerkratzten ihre Arme. Jackie stolperte auf eine große Lichtung hinaus, in deren Mitte die erkaltete Feuerstelle war. Merkanto schlief, an einen Stein gelehnt, am Rand der Lichtung. Jackie fand ihre Hose und ihr Hemd zwischen leeren Flaschen und Gläsern und streifte beides über. Ihr Herz raste und das dröhnende Pochen wurde lauter. Seufzend hielt sie sich den Kopf. Langsam kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Die schlimmsten Episoden waren offenbar dem Vergessen anheim gefallen, trotzdem wusste sie, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Für einen Werwolf also eigentlich ein ganz normaler Abend. Sie setzte sich an die Kohlen und stocherte mit einem Stock in der Glut. Es war kalt, Nebel hielt sich zwischen den Baumstämmen und eine Gänsehaut kroch über ihre Arme und Beine.
Nach einer Weile kam Iljan aus dem Wald. Der Vampir wirkte kein bisschen verkatert, ganz im Gegenteil schien der Alkohol ihm eine gesündere Hautfarbe verschafft zu haben. Er bemerkte Jackie und hob eine Augenbraue.
»Schon wach?«
»Red leiser«, stöhne Jackie und hielt sich den Kopf. »Ja, ich bin wach.«
»Und werde wohl nie wieder schlafen können«, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie schüttelte sich. Schnell wie ein Windzug war Iljan neben ihr. »Warum sitzt du auch hier rum? Komm, wir zünden das Feuer wieder an.«
Jackie brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass Iljan ihre Regung missdeutet hatte. Sprachlos sah sie zu, wie der Vampir das Feuer mühevoll entzündete und sich dann ihr gegenüber in das hohe Gras setzte. Es war fast wie früher, schoss es ihr durch den Kopf, damals in den Eiswüsten im dunklen Land, wenn sie sich heimlich getroffen hatten.
»Danke«, sagte sie, schlang die Arme um die vor die Brust gezogenen Beine und rückte näher ans Feuer, als sei ihr wirklich kalt gewesen. Sie wandte den Blick ab, aber sie spürte, dass Iljan sie beobachtete.
»Geht es dir gut?«, fragte der Vampir leise.
»Ja«, gab Jackie zurück.
Iljan schwieg eine Weile. Dann begann er zögerlich zu reden. »Diese Sache im Tempel … ich, ähm.«
»Vergeben und vergessen«, sagte Jackie und winkte ab. »Hatten wir das nicht geklärt?«
»Ich mache mir immer noch Vorwürfe«, platzte Iljan heraus.
»Du konntest nichts dafür«, sagte Jackie. »Terziel hatte dich gereizt.«
Iljan sah auf die Erde vor seinen unterschlagenen Beinen. »Ich hatte gedacht … dass ich mich immer beherrschen könnte. Insbesondere, wenn es um dich geht.«
Der Vampir sah auf. Der Ausdruck in seinen dunklen Augen erinnerte Jackie an einen Hund.
Sie musste lachen. »Das ist naiv, Iljan, und du weißt es. Du bist, was du bist. Das kannst du nicht ändern.«
Iljan senkte den Blick. »Ich dachte … «
»Was?«, fragte Jackie, als er nicht weitersprach. »Was dachtest du? Dass du vielleicht eines Tages ganz ohne Blut leben könntest?«
Iljan sah auf und nickte.
Jackie schüttelte den Kopf, aber sie spürte, wie eine Welle von Mitleid sie überspülte. »Du bist ein Vampir, Iljan. Dafür gibt es keine Heilung.«
Er wich ihrem Blick aus. Jackie fühlte sich schlecht, also stand sie auf. Ihr Kopf schmerzte noch immer und sie wollte diesen Zustand nicht an Iljan und seiner Weltanschauung auslassen. Immerhin war er ihr engster Freund, seit Jahren, und hatte sie endlich aus dem Schattenreich heraus gebracht.
Am Rand der Lichtung blieb sie noch einmal stehen. »Iljan? Auch wenn du immer noch Blut trinken musst, können wir hier trotzdem ein schönes Leben führen. Ein besseres Leben.«
Der Vampir sah nicht auf und Jackie schlug sich in den Wald.
Gudrun streckte sich, bis ihr Rücken knackte und gähnte herzhaft. Sie fühlte sich verjüngt, ihre Finger und Zehenspitzen kribbelten voller Energie. Sie sprang auf und sah sich in dem kleinen, mit Seen gesprenkelten Wäldchen um. Tief zog sie die frische Morgenluft ein – zu frisch für eine Hexe wie sie, aber sie fühlte sich bereit, alle Bäume des Sonnenlandes auszureißen.
Der Rest der Gruppe saß bereits um ein kleines Feuer herum. Auf den ersten Blick stellte Gudrun fest, dass sie alle verkatert waren. Sie grinste breit. Man musste eben eine Hexe sein, um Gifte wie Alkohol zu vertragen.
Sie ließ sich dreist zwischen Iljan und Jackie ins Gras fallen und streckte die Füße in ihren spitzen Schuhen zum Feuer.
»Du bist also auch wach«, sagte Iljan wenig geistreich.
»Ja. Hab ich was verpasst?«, Gudrun fühlte sich ausgezeichnet und lächelte in die Runde.
»Wir überlegen, wie wir weiter vorgehen«, sagte Cary mit säuerlichem Unterton. »In Anbetracht der Tatsache, dass man uns offenbar zu Vogelfreien erklärt hat.«
»Also, für mich ändert sich da nichts«, fühlte sich Gudrun bemüßigt zu sagen. Dann beugte sie sich vor. »Was habt ihr vor?«
»Wir gehen zum Schloss«, sagte Iljan, was keine große Überraschung war. »So schnell wie möglich.«
»Und ohne, dass man uns sieht«, fügte Cary hinzu und deutete auf den Boden. »Das ist unsere Route.«
Gudrun stand auf und erkannte, dass man in das lockere Erdreich eine Karte des Sonnenlandes gezeichnet hatte. Der Wald der Seen befand sich noch in der oberen Mitte der Karte. Trotzdem lag bereits ein schönes Stück Weg zwischen ihnen und der Pforte von Umira.
»Der direkte Weg wäre am Regenbogenfeuer vorbei, dann die Klippen herab und durch die Elfenwälder«, Cary zeigte den Weg beim Sprechen mit einem Stock an. »Doch der Weg wird stark bewacht. Sicherer wäre es, nach Westen durch die Dschungel von Wisan zu gehen und dann entweder über Antordia segeln oder an den Hobbithügeln vorbei zu ziehen. So oder so wird es eine lange und gefährliche Reise.«
»Ein paar neue Informationen wären nett«, brummte Abarax halblaut im Hintergrund und Gudrun musste ihm im Stillen zustimmen. Die Pläne der Gruppe waren immer noch nicht mehr als Vermutungen und Hoffnungen. Von Iljan erwartete Gudrun nichts anderes, aber Caryellê hatte sie intelligenter eingeschätzt.
»Sehr nett. Zuerst müssen wir aber durch den Wald der Seen«, sagte sie. »Das Gelände ist offen und bietet wenig Deckung, dafür umso mehr Hindernisse, falls wir die Flucht ergreifen müssen.«
»Ganz meine Rede«, Merkanto stimmte ihr unerwartet zu. »Caryellê, kannst du uns sagen, was uns in diesen Wäldern erwartet?«
»Nymphen«, antwortete Cary wie eine Schülerin ihrem strengen Meister antworten würde. »Wassergeister, Feen, Kobolde. Aber die meisten Bewohner sind Nymphen. Es gibt eine größere Stadt, Crisayn, im Westen.«
»Wir sollten versuchen, diese Stadt zu umgehen«, Merkanto stand auf, umrundete das Feuer und hockte sich neben die Karte, die Fingerspitzen dabei aneinander gelegt.
»Wo genau liegt Crisayn?«
»Das weiß niemand«, Cary klang etwas weniger stolz als zuvor. »Es ist ein Geheimnis, das die Dryaden eifersüchtig hüten.«
Merkanto sah sie zweifelnd an. »Schön. Dann müssen wir uns an den Waldrand halten.«
»Warum ziehen wir nicht gleich über die Wiesen?«, knurrte Jackie. »Eben hieß es noch, der Waldrand sei zu unsicher, weil es dort zu viele Händler geben könnte.«
»Wir dürfen nicht entdeckt werden«, fügte Iljan hinzu.
Merkanto seufzte. »Wenn wir plötzlich in der Hauptstadt der Nymphen stehen würden, wäre das unserer Mission auch nicht zuträglich. Wir ziehen am Waldrand entlang und halten die Augen offen. Wir werden wachsam bleiben müssen – Ausschweifungen wie die gestern Abend sind nicht mehr erlaubt.«
Gudrun gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie brauchte das gelegentliche Gift, um sich wirklich glücklich zu fühlen; nicht umsonst hieß es, dass böse Hexen aus Fäulnis und Krankheit gediehen. Außerdem war es wundervoll, das einzige nicht verkaterte Wesen in der Runde zu sein.
»Natürlich«, sagte Iljan jedoch und Gudrun bereute, dass sie eine genauere Betrachtung ihrer Route bewirkt hatte. Wäre sie doch nur mit weniger zufrieden gewesen!
Merkanto erhob sich und streckte sich. »Gibt es weitere Überraschungen?«
Cary legte den Kopf schief. »Wenn ich das sage, sind es ja keine Überraschungen mehr, oder?«, dann wurde sie ernst, »Die Nymphen bewegen sich viel durch die Wälder, sie leben als Nomaden und die Stadt ist wenig mehr als eine Art Zentrum der Bewegung. Uns könnte eine Gruppe von ihnen über den Weg laufen.«
»Dieses verdammte Land, ich schwöre … «, flüsterte Jackie, beendete den Fluch aber nicht.
Merkanto streckte sich und schüttelte ein Bein. »Wunderbar. Packt eure Sachen, ich will aus diesem Wald raus!«
Am Lagerfeuer erhob sich ein leiser Chor von Gemurre, doch niemand schien noch viel Zeit am Feuer verbringen zu wollen. Nach und nach standen alle auf und suchten ihre verstreuten Bündel und Habseligkeiten zusammen. Sie hatten im Wald kein großes Lager aufgeschlagen und waren durch die Tage des Wanderns geübt darin, ihre Sachen schnell zu packen. Vieles war nicht einmal ausgepackt worden.
Kurzum, es dauerte nicht lange, bis sich die Kinder der Sonne samt Gepäck auf der Lichtung versammelten und dann Richtung Westen losgingen.
Mit einem letzten wehmütigen Blick nahm Gudrun Abschied von dem Lagerplatz. Sie fragte sich, ob sie in nächster Zeit die Gelegenheit bekommen würde, Nepumuk zu kontaktieren. Vielleicht sollte sie eine Weile abwarten, damit Iljan nicht misstrauisch wurde. Zur Zeit schienen die Wogen aus irgendeinem Grund geglättet.
Sie zuckte zusammen, als sie in die weiche Flanke von Stella rannte.
»Tschuldigung!«
Das Einhorn sah sie ungerührt an, nur ein Ohr zuckte.
Gudrun legte den Kopf schief. »Willst du nicht weiter gehen? Stella? Übrigens, du riechst nach Schnaps. Hast du etwa eigene Vorräte?«
»Nein«, entgegnete das Einhorn langsam. »Du bist ein furchtbarer Mensch, Gudrun. Wie kannst du nur Schadenfreude empfinden, wenn alle anderen leiden?«
»Du verstehst das nicht. Ich empfinde Schadenfreude, weil alle anderen leiden«, erklärte Gudrun. »Da besteht ein Kausalzusammenhang.«
»Ist mir egal, was da besteht«, das Einhorn schlug mit dem Schweif. »Ach, tut mir leid. Ich fühl mich nur nicht besonders. Ich glaube, ich verwandele mich schon wieder.«
Gudrun seufzte und versuchte, einen Rest Mitleid aus den Untiefen ihres schwarzen Herzens zusammenzukratzen. Sie tätschelte Stellas Rücken. »Du wirst es überleben.«
Caryellê lief am Rand der kleinen Marschkolonne auf und ab, wie sie es früher bei den Weißen Wächtern gehalten hatte – nur waren sie damals alle beritten gewesen. Sie wurde mal schneller, ließ sich dann zurückfallen und sondierte die Stimmung in der Gruppe. Momentan waren die Kinder der Sonne vor allem vom Kater gekennzeichnet und liefen mit großen Abständen hintereinander her. Cary hatte sich den Rucksack mit den Wasserschläuchen aufgesetzt und verteilte das kühle Nass, nach dem ein ungewöhnlich hoher Bedarf bestand.
Sie merkte auch, dass sich Terziel immer weiter zurückfallen ließ, also wartete sie auf ihn.
»Alles in Ordnung?«
Terziel hatte eine Hand auf die Stirn gelegt. »Ich vertrage wohl keinen Alkohol. Wie kommt ihr anderen damit zurecht?«
»Übung«, meinte Cary. Sie bot Terziel Wasser an und er trank dankbar. Dann gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her.
»Cary … «, begann Terziel langsam. »Was tun wir hier?«
»Wir … ich unterstütze Iljan«, sagte sie, von seiner Frage nicht so überrascht, wie sie vielleicht vorspielen mochte.
Terziel sah nach vorne. »Du glaubst ihm?«
»Ich denke schon. Oder ich will jedenfalls wissen, wie die Geschichte ausgeht. Ob es wirklich die Wahrheit ist oder ein verrückter Plan – ich will es einfach wissen, denke ich.«
Terziel nickte. »Das ist mein Problem. Ich habe keinen solchen Grund. Stella ist Gudrun gegenüber zu Dankbarkeit verpflichtet und du bist neugierig oder was auch immer. Aber ich frage mich, warum ich mitkommen.«
Cary sah den blonden Engel von der Seite an. »Ich glaube, weil du das Pech hattest, nach der Schlacht gefangen genommen worden zu sein. Wenn du gehen willst, werde ich dich nicht aufhalten, ehrlich nicht. Ich kann verstehen, wenn du zurück zu den Wächtern willst.«
»Nein«, unterbrach Terziel sie heftig. »Das ist es ja gerade! Ich will nicht zurück. Ich will Iljan folgen, bis zum Schloss der Sonne. Ich weiß nur nicht, warum.«
»Vielleicht, weil du ihm glaubst?«, rief Cary mit einem Lächeln. »Er kann ganz überzeugend sein für einen Vampir.«
»Nein«, meinte Terziel nachdenklich. »Ich habe eher das Gefühl … als würde ich ein Rätsel lösen müssen. Oder als wäre mein Platz hier. Ach, ich rede wirr, das muss der Kater sein. Entschuldige, Caryellê.«
Terziel beschleunigte seine Schritte und ließ Cary hinter sich. Sie hob die Augenbrauen und steckte den nun leeren Trinkschlauch in den Rucksack, bevor sie sich daran machte, die Gruppe einzuholen.
Immerhin teilweise konnte sie den Engel verstehen: Auch Cary wollte das Rätsel um die Kinder der Sonne lösen – wollten sie wirklich ein friedliches Leben beginnen oder waren sie Teil eines ausgeklügelten Angriffsplans? Und würde Iljans Traum sich überhaupt verwirklichen lassen?