Von einem lauten Geräusch werde ich aus dem Schlaf gerissen. Langsam öffne ich die vom Schlafen noch ganz verklebten Augen und versuche wach zu werden. Ich balle meine kleinen Hände zu Fäusten und reibe mir damit die Augen.
Nach kurzer Zeit bin ich dann halbwegs wach und erhebe mich langsam aus dem Bett. Mit einer Hand schlage ich die samtig weiche Decke zur Seite und steige mit den Füßen in meine Hausschuhe, da ich am Morgen echt ungern kalte Füße habe. Dann eile ich zum Schrank und schnappe mir einen Morgenmantel, den ich über mein flauschiges Nachthemd ziehe. Die ganzen Sachen gehören Hilley und ich bin ihr echt dankbar, dass sie mir diese leiht.
Nachdem ich mir also etwas Vernünftiges angezogen habe, öffne ich leise die Tür, da ich noch nicht weiß, ob die Anderen im Haus bereits wach sind und steige die Stufen Stück für Stück hinab.
Auf der letzten Stufe bleibe ich stehen und schaue nach, ob schon jemand anderes hier unten ist, doch so scheint es nicht zu sein. Merkwürdig! Schlafen sie etwa alle noch? Ich hätte nicht gedacht, dass sie alle solche Langschläfer sind. Es ist doch bestimmt schon total spät.
Schnell bemerke ich dann aber auch was oder wohl eher wer, die lauten Geräusche erzeugt. Es sind nämlich die Geräusche, die entstehen, wenn man etwas härter gegen Holz klopft.
Ich springe die letzten Treppenstufen hinab und laufe zur Tür, während ich mich frage, weshalb ich heute so schrecklich gut gelaunt bin. Das ist für mich total untypisch.
Mit einer schnellen Handbewegung reiße ich die Tür auf und hätte sie beim Anblick der Person auf der anderen Seite der Holzbarriere am liebsten auch sofort wieder zugeschlagen, doch das ist nicht möglich, da diese ihren Fuß blitzschnell in den Türrahmen gestellt hat. In diesem Moment schießen mir mehrere Fragen gleichzeitig durch den Kopf. Wer ist das? Ist er ein Nexus? Was will er hier?
Wieso ich so reagiere? Na ja, sein Aussehen gleich dem des netten Nachbarn nicht gerade. Auf der Nase trägt er eine Brille mit verdunkelten Gläsern und seine rabenschwarzen Haare hat er streng nach hinten gekämmt. Seine Augenfarbe kann ich leider nicht erkennen. Ich vermute aber aus einem Instinkt heraus eine dunkle Augenfarbe. Wenn er jetzt noch einen Kugelschreiber rausholt mit dem er mein Gedächtnis zu löschen versucht, renne ich wirklich schreiend weg.
"Ähm ...was ...kann ich für sie tun?", meine Stimme zittert und ich klinge noch unsicherer als erwartet. Mist, so macht er sicher keinen Halt davor mich aus dem Weg zu schaffen, wenn er einer der Nexus ist. "Ist Hilley zu Hause?", fragt er. Seine Stimme ist hart und eisig. Sie erweckt in meinem Kopf das Bild einer kalten Wand aus Eis, die man unmöglich durchdringen kann. Es jagt mir einen Schauer über den Rücken und mein Stottern wird nur noch schlimmer: "Ja, ich ...denke schon. Ich ...weiß, aber ...nicht, ob sie noch...schläft." Innerlich gebe ich mir eine Ohrfeige dafür, dass ich mich so leicht einschüchtern lasse. Das schafft doch sonst auch niemand.
"Mach dir keine Sorgen! Ich bin wach", die Stimme von Hilley ertönt klar und so gar nicht verschlafen hinter mir. Ich fahre herum: "Oh, du bist wach. Das wusste ich nicht." "Ich bin genau wie du, gerade erst aufgestanden", sagt sie zu mir, bevor sie sich an den gruseligen Mann wendet: "Und jetzt mal zu dir, Vincent. Wieso siehst du so aus, als wärst du gerade auf einer geheimen Mission?"
Er hebt den Kopf und schiebt sich einfach an mir vorbei, sodass er nun neben Hilley im Flur steht. Instinktiv schließe ich die Tür und wende mich wieder der mehr als merkwürdigen Szene zu.
"Weil es so ist", erklärt der Mann, der allem Anschein nach Vincent heißt, mit einem vielsagenden Blick, den Hilley jedoch trotzdem nicht zu verstehen scheint, was mir ihr Blick und ihre darauffolgende Frage deutlich machen: "Wie meinst du das?" "Ich wurde vom Rat geschickt, um dir und auch den Erbinnen mitzuteilen, dass ihr alle morgen eine Vorladung erhalten habt", er klingt nach wie vor kalt. Gehört es etwa auch zu seiner Aufgabe so zu tun, als wäre er ein gefühlloser Roboter? Wenn ja, ist er darin ein Naturtalent. Dann realisiere ich jedoch auch, dass wir vorgeladen wurden. Was hat das zu bedeuten? Haben wir etwas falsch gemacht oder sogar verbrochen? Mein Atem geht plötzlich merklich schneller, mein Herz beginnt leicht zu rasen und ich beginne zu schwitzen.
"Ihr habt meinen Brief also erhalten?", fragt Hilley. Auf ihrem Gesicht erscheint jedoch, im Gegensatz zu meinem, ein zufriedener Ausdruck. Der Anzugträger nicht kaum merklich: "Natürlich!"
Dann kramt er ein helles Papier und einen Kugelschreiber aus seiner Tasche. Diese Schreibutensilien hält er Hilley dann vor die Nase: "Ich weiß, dass du es hasst, aber du musst auf diesem Blatt unterschreiben, dass du über die Vorladung in Kenntnis gesetzt wurdest."
Ich schaffe es mit viel Mühe einen Blick auf das Papier zu erhaschen. Darauf stehen viele Wörter aneinander gedrückt, wie in die Häuser in einer der Großstädte auf der Erde und am unteren Ende befindet sich eine lange schwarze Linie, auf der man wahrscheinlich unterschreiben muss. Diese Vermutung bestätigt sich, als Hilley den Stift zückt und ihre Unterschrift ruhig auf der Linie postiert. Das geschieht jedoch erst, nachdem sie mit einem Augenverdrehen ihre Position nahe gelegt hat.
Bei dem Anblick kann ich mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Mittlerweile habe ich mich glücklicherweise auch wieder beruhigt und will nicht mehr weglaufen, sobald der Mann in Schwarz seinen Mund aufmacht.
"Wirst du morgen da sein?", fragt das männliche Lebewesen neben mir nun doch etwas Einfühlsamer. Die Brünette nickt sofort: "Natürlich! Es geht schließlich um etwas ungeheuer Wichtiges. Außerdem lernen die Mädchen dann auch mal den Rat kennen. Ich darf sie doch mitbringen, oder?" "Gerne. Der Rat möchte auch explizit mit den Dreien reden", erklärt er. Mit einem Zwinkern fügt er dann auch noch etwas hinzu: "Besonders Katherine interessiert sich für deine Mädchen!" "War ja klar", lacht Hilley, doch ich finde diese Information gar nicht lustig. Wieso wollen diese Leute mit uns reden? Haben wir etwas falsch gemacht? Habe ich etwas falsch gemacht? Bekomme ich ärger, weil ich weggelaufen bin?
Als Hilley meinen Blick bemerkt, wird ihr Lachen noch lauter und herzlicher:"Genauso habe ich auch beim ersten Mal reagiert. Erinnerst du dich noch daran, Vincent?" Der Mann nickt und ein kleines Lächeln schleicht sich auf seine Lippen: "Wie kann ich das jemals vergessen?" Dann blinzelt er jedoch und seine ganze Erscheinung ist wieder der Inbegriff von Gefühlskälte: "Na gut, es war schön dich wieder zu sehen, Hilley. Trotzdem muss ich jetzt aber auch meine anderen Aufträge beenden gehen." Die Frau nickt niedergeschlagen und für einen Moment sehe ich einen Wettstreit der Gefühle in den Augen des Mannes, doch dann blinzelt er schnell und geht zur Tür.
Mit einer schnellen Handbewegung öffnet er sie und tritt in die kalte Morgenluft hinaus: "Tschüss Hilley!" "Tschüss Vincent", erwidert mit ein bisschen Wehmut in der Stimme, den ich aber gerade nicht zu deuten vermag.
Dann ist die Tür wieder geschlossen und wir sind mit unseren Gedanken und Fragen wieder allein.
Nach einigen stillen Sekunden frage ich leise: "Warum wurden wir vorgeladen?" Hilley dreht sich mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht um und steigt die Treppe wieder hinauf: "Das wirst du morgen schon noch erfahren."