Du bist Allyster der Sehende.
Als du die Bar betrittst, rümpfst du unwillkürlich die Nase.
In deinem Leben bist du viel herumgekommen und hast viele Schenken von innen gesehen. In deinem Söldnerdienst gab es viele ruhmlose Zeiten, Friedenszeiten, in denen für euch keine Arbeit zu finden war. Du bist vertraut mit den schlimmsten Spelunken Kalynors, doch nichts konnte dich auf dieses Drecksloch vorbereiten.
Die Decke besteht aus einem Strohdach, dass mit Schlamm geflickt wurde, doch diese Maßnahmen hat der Besitzer offenbar eines Tages aufgegeben. Es regnet herein. Der Boden ist feucht, das Holz verbogen und morsch. Durch Lücken im Fußboden dringt Meerwasser herein; an diesen Stellen haben sich Algen und Muscheln angesiedelt. Es riecht nach faulem Wasser und Schweinen, schalem Bier, Erbrochenem, Urin, Schimmel und Schweiß.
Trotzdem ist das Lokal gut besucht und an den wackeligen Holztischen tummeln sich unzählige unrasierte Piraten, die den Lohn ihres Beutezugs versaufen oder verhuren. Oh ja, unzählige Frauen in schillernden, luftigen Gewändern wandeln durch den Raum, zeigen ihre Haut, die übersät ist mit Narben, Tattoos oder Ausschlag, und lassen sich von den grölenden Massen betatschen. Ein rascher Blick zu Brenna verrät dir ihren Unmut. Ihr solltet die Taverne besser schnell verlassen, bevor noch ein Unglück geschieht.
Molith Don'avel, euer Mann, sitzt in der hinteren Ecke dieser Kneipe, die nicht einmal einen Namen hat. Sie ist einfach ‚die schlechte Kneipe im Äußeren Ring‘, dich überrascht es fast, dass der Name nicht über der Tür steht – dann wiederum kann der Besitzer dieser schlechten Entschuldigung eines Ausschanks wohl kaum lesen und schreiben.
Euer zukünftiges Opfer trägt auffällige, bunte Kleidung, wie sie auch am Königshof von Kalynor getragen werden könnte – oder eher vor einigen Jahrzehnten getragen wurde: Pluderhosen über die Knie, flache Schuhe und hohe Strumpfhosen, ein Hemd mit so aufgebauschten Schultern, dass es den Mann in eine Strohpuppe für Schwertkampftraining zu verwandeln scheint, denn der Körper wirkt zu groß für die dürren Beinchen. Die Hose ist grün mit weißen Akzenten, die Schuhe lila, das Hemd dunkelrot mit weißen Ärmeln und goldenen Akzenten. All das rundet ein übergroßer, knallroter Hut mit drei langen Fasanenfedern ab.
Der Tisch, an dem der Mann sitzt, ist leer. Andere Gäste des überfüllten Lokals werden vielleicht von den Bergen leerer Flaschen abgeschreckt, die Tischplatte und Stühle begraben haben.
Obwohl er dir als Lebemann beschrieben wurde, scheint dir Don’avel nah an der Schwelle des Todes zu sein: Sein Gesicht ist grau, Wangen und Nasen gerötet und geschwollen, die Augen von einem Ring geplatzter Äderchen umgeben. Er liegt auf der Tischplatte, so kraftlos und schlaff wie ein Sack Kartoffeln.
Karja räumt einige Flaschen geräuschvoll zur Seite und setzt sich dem Mann gegenüber. „Molith Don’avel?“
„‘enau der, Ssssä…schätte… Schätteken.“
Du ziehst die Luft leicht durch die Zähne ein. Jeder Mann, der versucht hätte, Brenna als „Schätzchen“ zu bezeichnen, hätte sich inzwischen von seinem Kopf verabschiedet. Doch obwohl Karja und Brenna einander sehr ähnlich scheinen, bleibt die Kapitänin gelassen. Sie wirkt sogar, als würde sie sich köstlich amüsieren. „Lust auf einen Spaziergang?“
„Nee“, stöhnt Don’avel und stößt auf – den säuerlichen Atem kannst du sogar noch hier riechen, zwei Meter weiter, wo du mit Aji angehalten hast.
„Dann auf!“ Karja schnappt sich einen Arm des Mannes, Brenna springt ihr zur Seite und nimmt den anderen. Die beiden Frauen schleifen den stolpernden und brabbelnden Mann zwischen den eng stehenden Tischen hindurch zur Tür. Du gehst voran und ebnest ihnen einen Weg durch das Gedränge. Niemand hält euch auf, ganz im Gegenteil, eure Entführung erhält kaum Beachtung.
°°°
Es schließt sich eine langsame Reise durch die Gassen von Mittsee an, beginnend mit der wagemutigen Überquerung eines langen Stegs. Der Steg hat kein Gelände. Brenna und Karja, die den Betrunkenen stützen, landen mehr als einmal beinahe im Meer.
Dann sucht ihr euch einen Weg durch die weniger belebten Straßen, unterbrochen von mehreren Malen, da Don’avel sich geräuschvoll und ohne Vorwarnung übergibt. Seine Hosen sind braun und gelb verschmiert, doch auch Brenna und Karja haben Stückchen abbekommen. Wäre Don’avel nicht eure Chance auf den Schöpferstein, hätte er den Weg vermutlich nicht überlebt.
Als ihr endlich bei Karjas Haus ankommt, sperrt sie die Geisel kurzerhand auf das Klosett. Dann reicht sie Aji einen Brief, den du bereits vorbereitet hast: Euer Erpresserschreiben, das dem Leser erklärt, dass ihr Don’avel habt und ihn nur im Umtausch gegen den Schöpferstein lebend gehen lasst. Details zur Übergabe gibt es auch. Alles ist bereit.
„Bring das zu den Wachen am Tor“, weist Karja Aji an. „Und dann komm sofort zurück und bleib nicht stehen. Pass aber auf, dass niemand dir folgt!“
Aji rollt mit den Augen. „Kriege ich hin.“
Du siehst ihm durch das Fenster hinterher, als er in der aufziehenden Nacht abtaucht.
„Er war ein Dieb“, sagt Brenna leise, die hinter dich getreten ist. „Er wird sich nicht fangen lassen.“
„Ich habe keine Angst um Aji“, sagst du, obwohl das eine Lüge ist. „Ich mache mir Sorgen, dass dieser Trunkenbold keinen Schöpferstein wert ist.“
°°°
Aji kommt unversehrt zurück. Einen Tag später seid ihr erneut in einer Spelunke unterwegs. Obwohl diese direkt am Hafen liegt und damit der Anlaufpunkt für sämtliche durstigen Seeleute ist, riecht es hier noch um Welten besser als in der namenlosen Kneipe.
Diese Bar trägt den Namen ‚Zum seligen Meeresgrund‘, der laut Karja in Mittsee das ist, was ihr in Kalynor den Himmel nennen würde. Es riecht hier zwar besser, aber nicht derartig gut, dass du an Himmel und Seligkeit denken müsstest.
Diesmal hast du Aji direkt ein Bier mitbestellt, wenn auch ein billiges, das zu einem hohen Prozentsatz aus Wasser besteht. Du wolltest verhindern, dass er sich einen Rum kauft, der hier literweise über die Theke fließt. Glückselig sitzt der Junge vor seinem Krug und scheint eure Sorge nicht zu teilen.
Ihr wartet auf euren Kontaktmann, der jederzeit vor dem Flaggschiff von Don’avel auftauchen müsste, um euch den Schöpferstein zu übergeben. Das Schiff, eine heruntergekommene Fregatte, die mehr aus Flicken denn aus Schiff zu bestehen scheint, ist von eurem Platz aus gut zu sehen.
„Da“, sagt Karja plötzlich leise.
Ein Mann ist auf den Pier getreten und hält dort, wo das Schiff vertäut ist, an. Dann sieht er sich suchend um.
„Das muss er sein.“ Du erhebst dich mit diesem angespannten Flüstern. Brenna und Karja lockern ihre Waffen. Aji zögert einen Moment und stürzt dann sein verwässertes Bier herunter, als wäre es das letzte, was er jemals trinken würde.
Wie es euer Plan ist, verlässt du die Kneipe alleine und gehst auf den Mann zu. Deine Begleiter halten sich im Hintergrund.
Du trägst einen dunkelblauen Kapuzenmantel aus schwerem, wasserabweisenden Stoff, dessen Kapuze du dir vorsorglich tief in die Stirn gezogen hast. Der Mann erblickt dich in der Menge und wartet, dass du näherkommst.
Du suchst die Umgebung nach verdächtigen Personen ab, die vielleicht eine Falle vorbereiten. Du kannst nichts entdecken, doch das beruhigt dich keineswegs.
„Hast du den Stein?“, fragst du.
„Ich will zuerst Don’avel sehen“, gibt der Mann zurück. Damit hast du gerechnet und nickst in Richtung des Schiffes. „Sieh ins Krähennest.“
Die Augen des gebräunten Mannes weiten sich leicht, als er eine schlaffe Gestalt erkennt, die im Krähennest an den Mast gebunden ist. Er streicht sich einige Haare nach hinten, um seine Überraschung zu verbergen. Dann reicht er dir ein Päckchen, das in braunes Papier eingeschlagen ist.
Das Paket ist vielversprechend schwer, doch du schlägst trotzdem den Umschlag zurück. Dein Rücken kribbelt nervös – jetzt wäre der perfekte Moment, um einen Hinterhalt auf dich auszuführen.
In deiner Hand hältst du einen beigen, hellen Stein, dessen Form an ein faustgroßes Schneckenhaus erinnert. Der Ammonit – der Schöpferstein der Mondsee. Du kannst seine Macht fühlen, also ist es der echte Stein.
Du packst ihn wieder ein, nickst deinem Verhandlungspartner zu und gehst zurück, während der Mann auf das geflickte Schiff zueilt, um den Kapitän zu retten.
Wortlos passierst du Brenna, Karja und Aji, als würdet ihr einander nicht kennen. Du weißt, dass die drei dir in einigem Abstand folgen werden.
Immer noch ist kein Angriff erfolgt. Geben die Piratenkönige ihren Schatz so einfach auf?
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Du kannst erst aufatmen, als ihr auf Karjas Schiff angekommen seid und die Segel setzt. Mittsee bleibt schnell hinter euch zurück, die Mannschaft war abfahrtbereit.
Die Wellen tragen euch langsam fort aus der Stadt der Piraten. Im Bug beugst du dich mit Brenna, Karja und Aji über den Schöpferstein.
Vorsichtig streicht Aji über die Rundungen. Du hältst den Atem an, voller Angst, dass sich der Junge erneut verändert, doch nichts geschieht.
„Wir haben es geschafft“, flüstert Brenna. „Ich kann es kaum glauben!“
Du nimmst den Schöpferstein auf. Dabei rutscht ein Pergamentstück aus der Verpackung und segelt auf die Planken. Du hebst es auf.
Es ist eine handschriftliche Notiz: ‚Die Piraten wollen keinen Krieg. Unsere Königin ist die See, die Drachenkaiser besitzen unsere Herzen nicht.‘
„Das ist wohl die Lösung des Rätsels“, murmelst du, nachdem du deinen Begleitern die kurze Notiz vorgelesen hast.
„Die Piratenkönige waren gezwungen, dieses Bündnis einzugehen!“, staunt Karja. „Don’avels Geiselnahme war ihnen wohl ein willkommener Grund, den Schöpferstein loszuwerden!“
Du musst grinsen. „Vielleicht hätten wir einfach zur Schatzkammer marschieren und darum bitten sollen!“
Die anderen lachen bei dem Gedanken, doch du hast ein flaues Gefühl im Magen. Nun habt ihr eure Prinzipien geopfert und seid zu Geiselnehmern geworden ... und wofür?
Dies ist kein Canon-Ende, deswegen gibt es hierzu keine Fortsetzung.
Um das richtige Ende zu erreichen, musst du dich für den Einbruch entscheiden.
Vielen Dank für's Lesen und viel Spaß beim Weiterspielen!