Du bist Brenna Sundergeer.
„Wir gehen in den Wald“, entscheidest du nach einigem Abwägen.
Allyster furcht die Stirn etwas tiefer, doch er akzeptiert deine Wahl ohne das geringste Widerwort. Ihr treibt eure Reittiere an, deine Stute und Allysters Schimmel gehen Seite an Seite auf den Wald zu. Das Maultier scheut als erstes – es bleibt stehen und zerrt mit weit nach hinten gelegten Ohren an seinem Strick. Du packst die Leine fester und willst das Tier zu dir zerren. Von den Augen des Maultiers ist nur das Weiße zu sehen. Doch jetzt stampft auch deine Tinkerstute auf und weicht zurück. Allysters Schimmel steigt auf die Hinterhand. Aji schreit vor Angst, der dunkelhäutige Magier kann aber das Gleichgewicht halten.
„Ruhig! Ruhig, Melréd!“, sagt der Magier und zieht die Zügel an. „Steh! Jatre, Melréd, jatre!“
Die Schimmelstute schnaubt, wirft den Kopf hin und her. Du siehst, dass Allysters Reisetasche zu Boden gefallen ist. Dann musst du dich auf dein eigenes Pferd konzentrieren. Deine Stute wirft den Kopf in den Nacken und wiehert anhaltend. Sie stampft mit den Hufen auf die Erde, schlägt mit den Hinterbeinen aus.
„Es ist dieser Wald!“, schreit Allyster – euch heimlich voran zu schleichen, könnt ihr jetzt sowieso vergessen. „Er macht die Pferde scheu!“
Dir liegt ein bissiger Kommentar auf der Zunge. Als hättest du nicht selbst gemerkt, dass die Pferde scheu sind! Das Maultier zerrt so heftig an seinem Strick, dass er dir aus den Händen gerissen wird und nur eine brennende Schürfwunde auf deinen Handinnenflächen zurücklässt. Der Strick reißt auch vom Sattel, wo das Maultier zusätzlich festgebunden war. Mit einem Wiehern verschwindet das Packpferd im aufziehenden Nebel.
Deine Tinkerstute bäumt sich auf. Du schlingst die Arme um ihren Hals und hörst, wie deine Satteltaschen platschend im Sumpfwasser landen. Der Hals deines Pferdes schlägt dir gegen die Stirn. Du blinzelst, plötzlich tanzen Sterne vor deinen Augen.
Eine dunkle Hand greift deine Zügel.
„Jatre, jatre! Steh!“,ruft Allyster. Vor dem Magier sitzt Aji, die Augen verschreckt aufgerissen. Irgendwie hat der Zauberer den Schimmel unter Kontrolle bekommen. Nun bewirkt sein seltsamer Singsang in der Gemein- und der Elfensprache, dass deine Stute zu bocken aufhört.
Keuchend sitzt du im Sattel, dein bebendes Pferd unter dir. „Danke.“
Allyster tupft sich mit dem Ärmel Schweiß von der Stirn, dabei ist die Nacht sehr kühl. Er will etwas erwidern, als aus dem Wald plötzlich ein lautes, wahnsinniges Heulen erklingt.
Du fährst zusammen. Das ist kein Wolfsgeheul, Wölfe wären dir lieber. Aus dem Dunkel der Tannenstämme brechen mit einem Mal mehrere Reiter hervor: Dürre, schlanke Wesen, die auf gedrungenen, länglichen Reittieren sitzen. Die Augen der Reittiere leuchten gelb, sie sind über und über mit schwarzem Fell bedeckt.
Deine Stute bricht zur Seite aus und macht förmlich auf der Hinterhand Kehrt. Du rutscht beinahe aus dem Sattel, kannst dich aber gerade noch mit einer Hand in die Mähne klammern. Für deine Stute gibt es kein Halten mehr: Sie stürmt vorwärts, die Hufe donnern laut auf den weichen Boden. Du hängst seitlich im Sattel und kämpfst darum, nicht zu fallen und am Ende unter den schweren Hufen deines Reittiers zu landen. Du hörst, dass Allyster hinter dir etwas ruft – doch ob es dein Name ist, ein Zauberspruch oder ein Hilferuf, vermagst du nicht zu sagen. Du zerrst an den Zügeln, greifst nach dem Sattelknauf. Der Sattel rutscht zur Seite, von deinem Gewicht gezogen. Du willst das eine Bein strecken, um auf den Pferderücken zurückzukehren, doch bei jedem Galoppsprung knickt dein Bein wieder ein. Deine Arme schmerzen, dein Griff in der Mähne und um den Sattelknauf wird unsicherer.
°°°
Irgendwie schaffst du es, im Sattel zu bleiben.
Schließlich wird die Stute langsamer, verfällt in den Trab und lässt sich schließlich zum Schritt durchparieren. Du lässt dich erschöpft aus dem Sattel fallen und landest in einer Pfütze aus faulig riechendem Sumpfwasser. Die kalte Flüssigkeit dringt dir sofort in Hemd und Hose. Auf deiner erhitzten Haut fühlt es sich an wie kühles Bier für eine ausgetrocknete Kehle. Wäre da nicht der Gestank.
Du musst dich zwingen, wieder aufzustehen. Deine Muskeln brennen. Mit einer Hand wischt du dir die kurzen Haare aus der Stirn und siehst über den Sumpf.
Keine Spur von den Verfolgern. Keine Spur von Allyster und Aji. Die Stute schnaubt und stupst dich in die Seite, wahrscheinlich in der Hoffnung auf eine Karotte. Du fasst die Zügel und widerstehst dem Drang, deinen Frust an dem Tier auszulassen.
Wo sind deine Gefährten? Haben die unheimlichen Bewohner des Dunkelelfenwaldes sie getötet? Oder gefangen genommen?
Du stehst allein im Sumpfgebiet, ohne jede Ausrüstung, nur die Stute an deiner Seite.
„Scheiße.“
Das fasst es deiner Meinung nach zusammen, so alles in allem.
°°°
Missmutig stapfst du durch den strömenden Regen. Das Wasser rinnt dir in den Kragen und durchnässt deine Kleidung. Das ärmellose Hemd klebt an deinem Körper. Würde sich ein Mann in deiner Gesellschaft befinden, hätte dieser seine helle Freude.
Die Tinkerstute trottet hinterdrein. Du bist abgestiegen und führst sie, um weitere Überraschungen zu vermeiden. Inzwischen konntest du an den Waldrand zurückkehren, doch du findest die Stelle nicht wieder, an der ihr überrascht wurdet. Der Wald und das angrenzende Sumpfgebiet sehen überall gleich aus. Deine Säbel, die während des Angriffs vom Pferd gefallen sind, verrotten wohl in irgendeiner Pfütze. Dir ist nach Heulen zumute: Die Säbel waren alles, was von deinem Vater geblieben ist, zwei wunderschöne Kurzsäbel mit Rubinen im Knauf. Du fühlst dich klein und verloren, allein im Jenseitsland, ohne Gefährten oder Waffen.
Wie konntest du nur Vaters Säbel verlieren?
Wütend schiebst du die Selbstvorwürfe beiseite. Es gibt im Moment Wichtigeres. Du musst Allyster und Aji finden und zudem aufpassen, dass du nicht erneut an die unheimlichen Wächter des Dunkelelfenwaldes gerätst.
Du gibst die fruchtlose Suche am Waldrand auf und schlägst dich in das Unterholz. Deine Stute zerrt an den Zügeln, doch sie merkt schnell, dass sie keine Chance gegen dich hat. Mit roher Gewalt, in der sich deine ganze Angst und Wut ausdrückt, ziehst du das Tier in den Forst hinein.
Sobald die Baumgrenze überschritten ist, geht eine seltsame Verwandlung mit der braun-weißen Stute vor. Sie wieder ruhiger und so folgsam wie eine hungrige Ziege. Das große Kaltblut drängt sich gegen dich und weicht dir keinen Schritt von der Seite. Du musst aufpassen, dass die schweren Hufe nicht auf deinen Stiefeln landen. Dein Reittier ist still, der knarzende Sattel ist das einzige Geräusch, das im Wald erklingt.
Es gibt keinen Pfad. Du suchst dir vorsichtig einen Weg durch Brombeerranken und Brennnesseln, zwischen Weißdornsträucher und anderem Unterholz hindurch. So leise wie möglich kletterst du durch steile Gräben, Flussbetten und an großen, moosbewachsenen Findlingen vorbei.
Plötzlich hörst du ein Geräusch. Du duckst dich hinter einen großen Stein und spitzt die Ohren. Die Stute verharrt reglos an deiner Seite.
Kein Zweifel: Du hörst Schritte.
Panisch siehst du dich nach einem besseren Versteck um, denn die Schritte kommen genau auf dich zu. Deine Stute zerrt an den Zügeln. Sie hat Recht, denkst du, es ist die einzige Möglichkeit.
Schnell wie ein Eichhörnchen springst du in den Sattel und stößt dem Pferd die Fersen in die Flanken.
Du hörst einen Ruf hinter dir. Die Stimme ist nicht menschlich, sondern dünner und höher – wie das Zischeln einer Schlange.
Schnaubend galoppiert deine verängstigte Stute los, bricht durch die Büsche und setzt donnernd über einen Bachlauf hinweg.
Du siehst Bewegung vor dir und an den Seiten, schattenhafte Gestalten, die dich einkreisen. Schon springen dir zwei große, schwarze Wölfe in den Weg und schnappen nach den Beinen deines Pferdes. Die Stute bäumt sich auf, weicht zurück.
Ihr seid umzingelt. Die Wölfe, deren Rücken fast so hoch ist wie der deines Pferdes, tragen Reiter. Schlanke, bleiche Wesen mit feurigroten Haaren und eisblauen Augen. Mehrere Pfeilspitzen richten sich auf dich. Deine Stute scheut und zittert, dann steht sie ruhig. Schicksalsergeben. Die Wölfe knurren leise und beständig.
In Ermangelung einer Alternative hebst du beide Hände neben die Ohren. Die Dunkelelfen zischen untereinander in einer Sprache, die du nicht verstehst. Einer greift nach den Zügeln, dein Pferd scheut zurück. Der Dunkelelf sagt etwas in scharfem Ton und sieht dich dabei an, die Hand noch ausgestreckt.
Du kannst nur raten und reichst ihm die Zügel herüber. Mehrere aufgeschreckte Befehle und zuckende Pfeilspitzen weisen dich darauf hin, dass du dich langsam bewegen sollst. Die Elfen auf ihren zottigen Reittieren nehmen dich in die Mitte und führen dich durch den Wald.
Die Wölfe haben wenig Probleme mit dem dichten Unterholz. Auf unbekannte Weise finden die Dunkelelfen allerdings einen Pfad, dem auch deine Stute folgen kann. Das Kaltblut ist verängstigt, ihre Flanken zittern, du kannst sehen, dass die Nüstern weit aufgebläht sind. Aber das Tier unternimmt keinen einzigen Ausbruchsversuch, worüber du ziemlich froh bist. Immer noch richten die Dunkelelfen ihre gespannten Bögen auf dich. Es besteht kein Zweifel: Bei einer einzigen falschen Bewegung bist du tot.
Also bleibst du ruhig sitzen und hältst die Arme trotz schmerzender Schultern erhoben.
Schließlich schält sich aus dem graugrünen Zwielicht des Waldes eine massivere Gestalt. Im Näherkommen erkennst du einen gewaltigen Baumstamm, so breit, dass eine ganze Stadt in das verdorrte Holz geschlagen wurde. Die gesplitterten Borkenreste ragen hoch über die Tannen hinauf, wie ein Berg aus Holz.
Man führt dich über eine gewaltige Wurzeln nach oben. Das Geräusch der Pferdehufe auf dem Untergrund ist seltsam, als wäre kein Holz, sondern Stein unter euch. Dann erinnerst du dich, dass man in den schlammigen Sümpfen rund um Westland immer wieder versteinerte Holzstücke finden kann – vielleicht ist auch dieser Stumpf versteinert.
Den ganzen Weg bis zur Spitze, wo sich im gesplitterten Holz ein ganzes Schloss befindet, begegnen euch keine anderen Bewohner. Ihr reitet durch Gassen und gewundene Straße, an Häusern mit leeren, blicklosen Fenstern vorbei. Nichts rührt sich in den Gebäuden. Schließlich durchquert ihr einen schmalen und hohen Eingang und kommt auf einen großen, offenen Platz hinaus, der von einem Ring aus Borke geschützt wird. Türme und dünne Fenster blicken auf den Hof herab, in kleinen Erdanhäufungen wachsen fremdartige Blumen.
Du fühlst dich wie ein Käfer, der eine gefällte Eiche erkundet. So gefangen bist du von dem Anblick deiner Umgebung, dass du zuerst nicht reagierst, als die Dunkelelfen dir mit Handbewegungen befehlen, abzusitzen. Erst, als du unsanft gestoßen wirst, zuckst du zusammen und befolgst den Befehl. Dann nehmen drei die Zügel und führen deine Tinkerstute fort. Du beobachtest wehmütig, wie dein treues Reittier durch eine Öffnung fortgeführt wird.
Aus einer schmalen Türöffnung kommt euch ein weiterer Elf entgegen. Dieser trägt nicht die dunkle, braungrüne Jagdbekleidung deiner Bewacher, sondern ein langes, elegantes Gewand aus karmesinrotem Stoff. Seine Haare sind silbrig-grau, die Augen wachsam und hell. Er wechselt ein paar Worte mit denen, die dich gefangen haben, bevor er sich zu deiner Überraschung in der Gemeinsprache an dich wendet: „Was tust du hier, Fremde? Gehörst du zu diesem Magier und seinem Kind?“
Du antwortest:
- „Meine Gefährten sind hier? Bring mich auf der Stelle zu ihnen!“ Lies weiter bei Kapitel 7.
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- „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Lies weiter bei Kapitel 8.