https://www.deviantart.com/ifritnox/art/717856068
Jackie stand starr in dem Schutz eines wilden Rhododendron und lauschte. Die kalten Blätter strichen über ihre nackte Haut, der Wind trug ihr die nächtlichen Geräusche des Waldes zu. Ihre Wolfssinne waren noch geschärft, und so konnte sie Iljans Anwesenheit einen Steinwurf tiefer im Gebüsch wahrnehmen und hören, wie Stella mit Gudruns Hilfe das Feuer aus ihrem Fell löschte und die anderen ihre Vorräte zusammenpackten.
Doch Jackie hörte auch noch etwas anderes: Ferne Stimmen, die wild durcheinander schrien, sie konnte Rauch im Wind riechen, der nicht von Stella stammte.
Die Bewohner von Crisayn folgten ihnen.
Wenig später trabte sie federnd durch das Gebüsch und auf die kleine Lichtung, auf der sich die anderen versammelt hatten. Stellas Fell war reinweiß, das Einhorn mit Vorräten beladen. Abarax hatte sich zurückverwandelt und hatte nun wieder menschliche Form, allerdings wirkte er in Jackies Augen blasser als zuvor. Die gelungene Flucht forderte ihren Preis, Abarax' beeindruckende Tornadoform verlangte ihm viel Kraft ab.
Die Kinder der Sonne waren direkt zu dem kleinen Lager gelaufen, nachdem sie Cary, Terziel, Najaxis und Merkanto befreit hatten. Die Taschen waren bereits gepackt gewesen und so hatten sie nur wenige Minuten gebracht, um sich zur Weiterreise vorzubereiten.
Jackie trottete zu Iljan, der soeben von Najaxis seinen Degen überreicht bekam. Der Vampir nahm die Waffe an und gürtete sie sich um.
Jackie bellte einmal und Iljan sah zu ihr: »Sie verfolgen uns?«
Jackie wedelte bestätigend mit dem Schwanz.
»Ich denke nicht, dass sie jemals damit aufhören werden!«, meldete sich Cary zu Wort, die auf Stella herübergeritten kam. »Haryna wird uns wohl kaum verzeihen, dass wir Crisayn gesehen und entkommen sind!«
»Dann auf«, meinte Iljan und wandte sich zum Gehen. Die anderen folgten ihm schweigend, müde und angespannt.
Der Effekt von Gudruns Trank war noch nicht vollständig verflogen. Caryellê zitterte vor Kälte, während Stella durch den Wald trabte, die Elfe wie früher auf ihrem Rücken.
Doch es war nicht wie früher und würde wohl auch nie wieder so sein. Cary befand sich in Begleitung von feindlichen Kräften, sie hatte die Weißen Wächter im Stich gelassen, hatte für die Kinder der Sonne gemordet und sich nun auch noch öffentlich auf ihre Seite gestellt. Ihre Worte zu Haryna – Wir sind die Kinder der Sonne – würden nicht vergessen werden. Cary hatte sich für eine Seite entschieden und würde diese Entscheidung niemals zurücknehmen können.
So beugte sie sich tiefer über Stellas Hals, während das Einhorn Jackie folgte. Die Werwölfin, mit dem zunehmenden Mond gewachsen, trug Iljan durch den Wald der Seen. Doch immer wieder musste Stella ihren scharfen Galopp bremsen. Abarax besaß nicht mehr die Kraft, seine gewaltige Dämonenform beizubehalten, und so rannten der Nachtmahr, Najaxis, Gudrun und Merkanto, teilweise auch Terziel, zu Fuß hinter den anderen her. Sie waren nicht schnell und bald konnten sie hinter sich die Geräusche ihrer Verfolger hören. Die Nymphen – Dryaden würden sich wohl kaum so schnell bewegen können – folgten den nur allzu offensichtlichen Spuren der Kinder der Sonne. In ihrem jetzigen Tempo würden sie bald eingeholt sein.
Cary ertappte sich dabei, wie sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute und die Hände wieder und wieder über ihre Waffen gleiten ließ: Die gefiederten Schafte ihrer Pfeile, über das glatte Bogenholz und die scharfe Schneide ihres Messers. Vielleicht würde sie alles bald einsetzen müssen. Sie war bereit dazu. Die wenigen Wochen an der Seite Iljans hatten sie ihre ganze Kindheit im Reich der Sonne vergessen lassen.
Sie sah auf und bemerkte, dass Iljans Blick auf ihr ruhte, da der Vampir nach hinten sah. Er sah weg, als er ihrem Blick begegnete. Cary spürte ein Kribbeln im Rücken.
Dann hielt Jackie an und auch Stella bremste, als sie Seite an Seite mit der Wölfin stand. Iljan sah nach hinten und wich Carys Blick aus: »So schaffen wir es niemals, ihnen zu entkommen.«
Cary sah nun ebenfalls nach hinten. Es sah nicht gut aus: Die Fackeln der Nymphen waren bereits nah heran gekommen, unzählige Lichtpunkte in der Dunkelheit.
»Kann Jackie mehr Reiter tragen?«, fragte Cary an Iljan gewandt.
Der Vampir verstand. »Zwei zusätzliche Personen sollten kein Problem sein, doch wir werden das Tempo dann nicht lange durchhalten. Sie werden uns dann nur schneller einfangen.«
»Es muss nicht weit sein«, versprach Cary. »Sie sollen sehen, dass wir zu dritt aufsteigen. Vielleicht können die anderen in einem günstigen Moment abspringen und sich im Gebüsch verstecken, während die Nymphen uns weiter verfolgen.«
»Und wenn sie sehen, dass Jackie und Stella wieder nur einen Reiter haben?«, fragte Iljan zweifelnd.
»Dann haben wir ein Problem«, gestand Cary.
»Ein ernstes, denn die Anderen werden nur zu fünft sein, falls Terziel bei ihnen bleibt.«
Cary atmete tief durch und versuchte, sich zu konzentrieren. Inzwischen waren die Läufer herangekommen und ohne Zögern reichte sie Gudrun eine Hand, um sie hinter sich auf Stellas Rücken zu ziehen. »Versuchen wir es«, sagte sie zu Iljan. »Vielleicht kommt uns noch eine bessere Idee.«
Abarax, Gudrun, Najaxis und Merkanto stiegen verwirrt, aber dankbar, auf die Reittiere. Terziel seufzte und streckte seine Flügel in der kurzen Atempause, die ihm verblieb, während Merkanto und Abarax hinter Iljan, Gudrun und Najaxis hinter Cary aufsaßen.
»Was habt ihr vor? Zu dritt sind wir zu schwer!«, fragte Merkanto.
»Cary plant ein Ablenkungsmanöver«, meinte Iljan. »Ihr müsst abspringen und euch irgendwo verstecken. Vielleicht fallen die Nymphen darauf herein.«
»Und wenn nicht?«, kreischte Gudrun entsetzt. »Cary soll abspringen, ich reite weiter!«
»Wenn ihr in Gefahr seid, kommen wir wieder und retten euch!«, zischte Iljan. »Du kannst gerne reiten, Gudrun, wenn du unbedingt weiterhin verfolgt werden möchtest, statt die Chance wahrzunehmen, dein unwürdiges Hinterteil in Sicherheit zu bringen.«
Wenn Cary es nicht schon gewohnt gewesen wäre, hätte Iljans Tonfall gegenüber der Hexe sie entsetzt. Aber inzwischen wusste sie, dass Iljan Gudrun aus irgendwelchen Gründen hasste und Gudrun schien sich wenig daraus zu machen. Auch jetzt spuckte die Hexe nur aus: »Du hast natürlich recht, verdammt. Gut, ich springe ab. Aber wenn ich sterbe, werde ich es euch heimzahlen!«
»Abgemacht«, meinte Iljan und wendete Jackie, denn die wütenden Schreie der Verfolger waren nun schon bedrohlich nach gekommen, die ersten vor Wut verzerrten Gesichter waren zwischen den Baumstämmen zu erkennen. Es war entsetzlich, das so zarte und filigrane Wesen wie Nymphen zu solchen Ausdrücken fähig sein sollten. Cary trieb Stella vorwärts.
Zu dritt auf dem Rücken des Einhorns mussten sie notgedrungen zusammenrücken, ein Umstand, den Najaxis sehr begrüßt hätte, wenn sie sich doch nur nicht auf einer Flucht befänden. Deutlicher und deutlicher wurde ihm vor Augen geführt, dass er für solche Abenteuer nicht geschaffen war. Es hätte ein Vergnügen sein können, mit der hübschen Caryellê den Sattel zu teilen. Doch so, wie die Dinge standen, empfand er lediglich nackte Todesangst. Wenn nun die Nymphen anhoben, ihre Pfeile zu verschießen?
Das Einhorn sprang leichtfüßig vorwärts, der Wind pfiff laut an den Reitern vorbei. Najaxis klammerte sich an den groben Stoff von Gudruns Kleidung – denn zu allem Überfluss saß er nicht einmal direkt hinter Cary – und betete im Stummen, dass dieser Ritt bald enden möge.
»Jetzt!«, rief Iljan irgendwann und Naja spürte, wie ein Ruck durch Gudruns Körper verlief. Im nächsten Moment fiel die Hexe zur Seite, und Najaxis, der sich ja an sie klammerte wie ein Fäulnisjungtier an die Mutter, wurde mitgerissen. Der stampfende Körper des Einhorns glitt zwischen seinen Schenkeln hinfort, dann folgte ein kurzer Moment des freien Falls, währenddessen Naja nur Gudruns Kleidung in den Händen spürte. Dann traf er auf den Boden auf, rollte durch Schmutz und Blattwerk. Er hörte das Krachen von Ästen unter sich, etwas stieß in seine Seite wie ein Speer, sein Ellbogen landete auf einem Stein. Sein Griff um Gudruns Jacke löste sich, doch nicht bevor ihm das Handgelenk schmerzhaft verdreht wurde.
Jaulend rollte Najaxis sich auf den Rücken und hob die Hand vor das Gesicht. Selbst im verdunkelten Wald konnte er Blut über seine Finger sprudeln sehen, von einem Fingernagel, der ihm von dem unsanften Aufprall ausgehebelt worden war.
»Hör auf zu heulen!«, sagte eine unbarmherzige Stimme und kleine, harte, kräftige Hände zerrten ihn auf die Füße. Es war Gudrun, die Najaxis hinter sich her zerrte. Sie rutschten einen im Dunkel halb verborgenen Hang herunter in ein stacheliges Gebüsch.
»Au! Aua!«, schimpfte Najaxis, bevor sich unvermittelt Gudruns Hand auf seinen Mund presste.
»Halt endlich die Klappe!«, fluchte eine andere Stimme, die Merkanto gehörte. Der Magier und Abarax befanden sich ebenfalls im dem Gebüsch, ebenso zerschlagen und zerschunden, zerzaust und zerkratzt wie Najaxis. Doch nun duckten sie sich zwischen die Zweige.
»Mein Nagel«, wimmerte Najaxis und Gudrun verstärkte augenblicklich ihren Griff.
Mit raschelnden, leisen Schritten kamen die Nymphen. Ihr Lauf war nicht lauter als fallender Schnee, doch waren es so viele, dass ihre Armee noch über dem Brausen des aufziehenden Sturms zu hören war. Najaxis vergaß alle Schmerzen und presste sich zitternd vor Angst auf den Boden, zwischen Würmer und nasse Blätter. Nein, er war absolut kein Abenteurer, und Iljan hierher zu folgen war der größte Fehler seines gesamten Lebens gewesen.
Im Schattenlicht konnte er das Weiße von Merkantos Augen sehen, der mit gespanntem Blick verfolgte, wie die Feinde vorüber glitten. Najaxis schloss die Augen und betete – zu wem, das vermochte er nicht zu sagen.
»Bitte lass sie uns nicht finden. Bitte lass sie uns nicht finden. Bitte … bitte!«
Unvermittelt ertönte ein schriller Warnruf, der an das Trillern eines Vogels erinnerte. Naja riss die Augen auf und konnte die Anspannung in den Gesichtern von Merkanto und Abarax sehen. Die Luft um beide begann zu flackern, als Merkanto Blitze und Abarax die Schatten zu Hilfe rief. Najaxis spürte auch, wie Gudrun nach etwas an ihrem Gürtel griff: Es war eine kleine, bauchige Phiole mit einer milchig-gräulichen Flüssigkeit darin.
Noch verharrten sie stumm, doch das Getrappel der Füße um sie her verstummte. Naja hielt die Luft an. Er wollte weiter beten, doch mit einem Mal fehlten ihm dazu die Worte. Als dunkles Wesen war er gewöhnt, an die Dunkle Königin und ihre Schatten, an die Nacht und die Finsternis zu beten, doch im Lichtreich sollte er seine Bitten vielleicht besser an die Königin der Sonne richten. Doch kannte er sie nicht und wusste auch nicht, wie ihre Diener hießen, ob er das Sonnenlicht oder besser ihre Strahlen anrufen sollte. So verstummte er auch in Gedanken.
Ein schriller, vielstimmiger Schrei ertönte, lauter und wilder als der Warnruf. Mit Flüchen fuhren Abarax und Merkanto auf – Blitze zuckten und schwarze, unförmige Schatten sprangen vorwärts. Gudrun sprang ebenfalls auf und warf mit einem »Verdammte Scheißeeeee!« das Gefäß. Die Phiole zersprang auf dem Boden und blauer Rauch kräuselte sich in die Höhe, um die vier einzuschließen. Najaxis hustete und wünschte sich erneut, in seiner Heimat im Schattenreich zu sein.
Viele Schritt hoch kräuselte sich die Wolke über dem Rauch, zuerst eine gerade, djinnblaue Säule, dann wurde sie vom Wind verzerrt und stürzte ein.
Terziel verschwendete keine Zeit damit, dem Spiel der Winde zuzusehen. Er spannte seine schmerzenden Schwingen an und schoss auf die Stelle zu.
»Cary! Iljan!«, rief er im Flug. »Sie sind in Gefahr!«
Denn die Nymphen waren wohl kaum für dieses Hexenwerk einer Säule verantwortlich. Terziel tauchte mit angelegten Flügeln in den Rauch ein und zückte sein Schwert. Er konnte nichts sehen, hörte jedoch wilde Nymphenschreie, die mehr zu wilden Tiere zu passen schienen, und die verzweifelten Rufe seiner Verbündeten.
Es gab vielleicht einmal eine Zeit, da er gezögert hätte, den Dunklen zu Hilfe zu eilen. Er hätte nachgedacht, überlegt, sich vielleicht zurückgezogen. Er hätte seine Engelsmacht gebraucht.
Doch nun stürzte er sich mitten in den Kampf und schwang sein Schwert reuelos gegen eine Nymphe, die ihn mit einem Messer ansprang. Schnell hatte er im Kampf die anderen ausgemacht. Merkanto schoss verzweifelt Blitze aus seinen Händen ab, die mit jedem Stoß schwächer zu werden schienen. Gudrun hatte die Fäuste erhoben und in diesen Fäusten hielt sie Fläschchen und Tränke, die sie auf ihre Gegner schleuderte. Najaxis kauerte neben einem Baumstamm und Abarax kniete neben dem Inkubus. Der Nachtmahr war erschöpft, blässliche, kränkliche Schatten kräuselten sich um seine Gestalt. Terziel schlug kurz mit den Flügeln, überbrückte den Abstand und ging vor dem Nachtmahr in Kampfposition. Mit schnellen Streichen wehrte er drei Nymphen ab, ein Kinderspiel, da die Waldbewohner ihn im ersten Moment für ihren Verbündeten hielten. Sie wurden schnell eines Besseren belehrt.
»Terziel … «, keuchte Abarax. Als der Engel sich umwandte, starrte der Nachtmahr ihn an wie einen Geist.
Terziel grinste: »Eine Hand wäscht die andere, wie wir im Sonnenland sagen.«
Sie kämpften mit dem Mut der letzten Stunde. Cary und Iljan kamen bald herangeritten und stürzten in den Kampf, doch die Kinder der Sonne waren hoffnungslos in der Unterzahl. Terziel wich immer weiter zurück. Und selbst, als Abarax sich aufraffte und mühevoll weitere Schatten rief, wurde es nicht hoffnungsvoller. Für jeden niedergestreckten Gegner erschienen zwei oder drei neue aus dem umliegenden Wald. Auch Pfeile wurden geschossen, ununterbrochen, doch war Merkanto von dem Gewitter so mächtig geworden, dass er die Kinder der Sonne in einen Kokon aus Blitzen hüllte, der jeden Schaden aus der Luft von ihnen abhielt. Eines war klar: Sollte der Kokon brechen oder auch nur zu viele Nymphen hindurch kommen, so wären sie verloren. Es war nur eine Frage der Zeit. Terziel hörte, wie Najaxis schluchzte.
Und dann, aus dem Nichts, ertönte Hufschlag. Etwas Weißes sprang über Terziel hinweg, landete zwischen den Nymphen und war im nächsten Moment verschwunden – nur eine Spur toter Gegner bewies, dass es keine Einbildung gewesen war.
Nun ertönten überraschte Laute von überallher. Die Nymphen zogen sich plötzlich zurück, als von allen Seiten weiße Wesen durch ihre Reihen huschten. Terziel konnte keinen genauen Blick auf sie richten und schließlich machte er es dem Rest der Gruppe gleich und kauerte sich auf den Boden, während die hellen Schatten ein Blutbad unter ihren Gegnern anrichteten.
Dann kehrte Stille ein, selbst der Sturm war verstummt, und in dieser Stille schälte sich eine helle Gestalt aus der Nacht, um vor sie zu treten. Es war ein schlankes, vierbeiniges Wesen, mit den Hufen und dem Schweif einer Ziege, jedoch etwas größer, und mit einem einzelnen, gewundenen Horn auf der Stirn.
Es war ein Einhorn, doch glich es Stella Cantici nicht im geringsten.
»Eindringlinge«, sagte das Wesen, ohne die weichen Nüstern zu bewegen. »Folgt mir.«