https://www.deviantart.com/ifritnox/art/718899321
»Folgt mir. Schnell«, befahl das schlanke Einhorn und seine langen Ohren zuckten. Jackie verstand die Regung, denn auch an ihre empfindlichen Ohren drangen nun die Geräusche von Schritten und verwirrten Rufen. Die Nymphen waren zurückgeschlagen, doch es kamen bereits neue.
Die Kinder der Sonne rappelten sich auf und stolperten dem weißen Einhorn hinterher. Weitere Mitglieder der Herde nahmen sie in ihre Mitte. Stella, das einzige große Einhorn, hatte die Augen staunend aufgerissen.
Diese neuen Einhörner waren sehr viel kleiner und schlanker als Stella, sie hatten lange, unglaublich dünne Beinchen und schlanke Hälse. Nichts an ihnen kam der wilden Kraft gleich, mit der Stella vorwärts galoppierte, das große Einhorn wirkte plump neben seinen Verwandten.
Jackie war, wie auch alle anderen, verwirrt von dem plötzlichen Auftauchen der Herde. Sie konnte nur hoffen, dass die seltsamen Wesen ihnen helfen würden. Immerhin hatte man sie vor den Nymphen gerettet, doch zu welchem Zweck war Jackie ein Rätsel. Vielleicht wollten die kleinen Pferdchen sie retten, vielleicht gerieten sie auch nur vom Regen in die Traufe. Nach allem, was sie wusste, könnten sie auch die neuen Sklaven der kleinen Einhörner sein.
Doch es blieb ihnen keine andere Wahl, als mit der Herde zu laufen. Jackie, die an der Spitze ihrer kleinen Gruppe lief, merkte, wie die Herde sich auf verschlungenen Pfaden tiefer in den Wald führte, wo der Untergrund steinig und das Gebüsch dicht wurde. Bald hastete Jackie auf schmerzenden Pfoten über scharfkantige Felswege, über Moosflächen, durch die weiß schimmernde Steine brachen und vorbei an klaren Flüsschen mit vielen Wasserfällen. Es ging rauf und runter, doch insgesamt stiegen sie im Laufe der Nacht immer höher. Das Tempo wurde irgendwann weniger schnell, als die Einhörner mit melodischen Stimmchen verkündeten, dass man ihnen nicht länger folgte. Doch eine Rast wurde den Kindern der Sonne nicht gestattet. Keuchend und müde liefen sie also weiter. Jackie, immer noch in ihrer Wolfsform, trug hin und wieder einen ihrer Gefährten auf dem Rücken, desgleichen Stella Cantici.
Einige Male verlangten Iljan oder Cary zu wissen, wohin man sie brachte, doch die kleinen Einhörner antworteten nicht. Und so ergab sich die Gruppe vorerst in ihr Schicksal und folgte den Wegen, in düsteres, monddurchleuchtetes Strauchwerk unter großen und majestätischen Bäumen.
Die weißen Pferde huschten vor und hinter ihnen durch das Unterholz, überholten ihre Gefangenen, dann wieder blieben sie stehen und ließen die Kinder der Sonne vor. Auf diese verspielte, katzenartige Weise führten sie die Gruppe immer weiter, bis Jackie vor Müdigkeit die Augen im Laufen zufallen wollten.
Da erreichten sie eine große Lichtung, die angesichts des dichten Strauchwerks gewaltig war, jedenfalls hätte sie der Hälfte Crisayns Platz geboten. Hier und da wuchs eine Trauerweide neben stillen Tümpeln oder plätschernden Seen. Die Lichtung war bedeckt von langem, dunklem Schilfgras, dessen Fläche verwoben war mit schmalen, silbernen Wasserläufen. Grün und blau schimmerten die Trauerweiden und die Birken am Rand der Lichtung und weiße Insekten tanzten über den Seen. Leichtfüßig trabten die schlanken Einhörner über die Lichtung. Unzählige waren bereits hier, die nicht Teil der Gruppe gewesen waren, die sie hergeführt hatte – obwohl Jackie nicht zu sagen vermochte, wie groß genau die Herde gewesen war, deren schattengleiche Einhörner sie her geführt hatten.
Nun versammelten sich unzählige der schlanken Tiere und betrachteten die Kinder der Sonne aus großen, neugierigen Augen. Keines war so groß wie Stella oder besaß auch nur ihren robusten Pferdekörper, dafür hatten die kleineren Einhörner gelockte Mähnen, die sich wie Wasser im Licht kräuselten, und ebenso gelockt war die Behaarung ihrer Fesseln. Ihre Schweife waren fremdartig, zur Hälfte bestanden sie nur aus einer kurz behaarten Rute, diese endete jedoch bald in langen, lockigen Schweifhaaren. Viele der kleinen Einhörner trugen auch Haare unter dem Kinn, was Jackie schließlich dazu brachte, sie als einzeln gehörnte Ziegen zu betrachten. Auch waren ihre Hufe gespalten wie die einer Ziege und trugen die kleinen Einhörner mühelos über die Steine und Bäche der Lichtung.
Sie wurden vor eines der Einhörner geführt, das eine goldbraune Färbung aufwies. Die anderen Einhörner waren weiß oder silbrig, gischtfarben oder hellgrau, perlweiß oder muschelbeige. Es gab vier mit dunklerem Fell, in den Farben von schüchternem Herbstorange, weichem Sonnenbraun, dunklem Vollmondgelb und schließlich kupfernem Gold.
Dieses goldene Einhorn war ein Stückchen größer als alle anderen und schien – da ein Kinnbart fehlte und das Horn etwas kürzer war – ein Weibchen zu sein. Die Kinder der Sonne wurden vor dieses mystische Wesen geführt. Als Iljan sich auf ein Knie sinken ließ, taten es ihm die anderen nach – so sehr überwältigte sie der Anblick dieser zartem Schönheit im Rund der Lichtung.
»Erhebt euch«, sagte das kleine Einhorn mit sanfter Stimme.
Stella hatte bloß den Kopf gesenkt und hob ihn nun wieder. Obwohl sie sich bewusst war, dass sie unhöflich starrte, konnte sie doch den Blick nicht von den fremden Einhörnern wenden. Noch nie hatte sie von einer anderen Rasse von Einhörnern gehört, doch hatte es Geschichten gegeben, dass Einhörner nicht mit Pferden sondern mit Ziegen verwandt sein sollten. Hier also fand sich Stella dem Ursprung dieser Legenden gegenüber.
»Was seid ihr?«, fragte sie, bevor die Einhörner irgendetwas sagen konnten.
»Wir nennen uns Einhörner«, sprach das goldene Wesen, ohne sich über Stellas Unhöflichkeit erbost zu zeigen. Ganz im Gegenteil, das Tierchen wirkte amüsiert. »Doch da wir um eure Herden wissen, halten wir auch einen zweiten Namen bereit: Wir sind die Mondhörner, im Gegensatz zu eurer Art, die wir die Sternhörner nennen.«
»Mondhörner?«, wiederholte Stella.
»Also, eigentlich seid ihr doch die Kleineren, der Mond passt besser zu Stella!«, schnaubte Gudrun.
Das goldene Einhorn wieherte perlend – es lachte. »Und doch bedeutet das Wort `Stella´ Stern und nicht Mond. Ein ungewöhnlicher Zufall, dass du ausgerechnet diesen Namen trägst.«
Die letzten Worte waren an Stella gerichtet, die unwillkürlich den Kopf neigte: »Mein voller Name lautet Stella Cantici.«
»Sternenlied«, übersetzte das goldene Mondhorn sinnend. »Ein schöner Name. Doch es gibt noch einen tieferen Grund, warum wir uns Mondhörner nennen. Denn im Gegensatz zu dem, was deine Hexe glaubt, ist der Mond nicht größer und herrlicher als die Sterne – im Gegenteil, er ist weniger wert, jedenfalls in den Augen der meisten. Die Sterne leuchten in jeder Nacht und auch unsichtbar durch alle Tage, der Mond dagegen besitzt keine eigene Leuchtkraft. Wird er vom Licht angestrahlt, so leuchtet er, doch im Schatten wird er dunkel. Dies und nicht Hochmut ist der Ursprung unseres Namens, denn wir tragen ein düsteres Erbe.
Nun aber genug von solchen Dingen. Wir wissen um euch, Kinder der Sonne. Wir hörten euren Schlachtruf unlängst an der Grenze zu Crisayn und auch erreichte uns Botschaft von euch. Ihr seid weit herumgekommen und folgt einer Mission, die viele als unmöglich erachten.«
Stella und alle anderen tauschten beunruhigte Blicke. Wohin auch immer sie kamen, man schien bereits von ihnen zu wissen. Doch was stand ihnen nun bevor?
»Ihr braucht euch nicht zu fürchten«, sagte das goldene Mondhorn. »Wir haben euch nicht hergeholt, um euch Schaden zuzufügen. Wir sind euch zu Dank verpflichtet, dass ihr Haryna in ihre Schranken gewiesen habt. Außerdem schätzen wir die heilige Gastfreundschaft. Doch mehr noch als das ist es die Hoffnung, die ihr uns bedeutet. Es gibt einen Grund, warum wir in den Hellen Landen nicht bekannt sind – eure Mission lässt uns hoffen, dass auch wir eines Tages hier Anerkennung finden können.«
Nach ihrer Ansprache stellte sich das goldene Einhorn als Kea vor und verkündete dann, dass alle weiteren Besprechungen warten konnten, bis die Kinder der Sonne sich ausgeruht hätten. Selbst Iljan musste zugeben, dass er sich erschöpft fühlte und kaum noch auf die Worte des Einhorns konzentrieren konnte. Den anderen erging es schlimmer, teilweise taumelten sie vor Müdigkeit, obwohl der Morgen noch nicht angebrochen war. Also ließ Iljan zu, dass die kleinen Mondhörner ihnen Schlafplätze im Strauchwerk zuwiesen. Es handelte sich um kleine, in die Büsche gefressenen Höhlen, deren Böden mit weichem Stroh und Gras ausgekleidet waren. Es war keine große Verbesserung zu ihren üblichen Schlafplätzen im Wald, doch nach der Flucht erschienen die Höhlen Iljan wie der größte Luxus.
Nur eine Sache tat er noch, bevor er sich gemeinsam mit seinen Freunden schlafen legte, und zwar ging er zu der Höhle, die Cary, Terziel und Gudrun für sich beanspruchten – jede einzelne Höhle war zu klein, um ihrer ganzen Gruppe Raum zu bieten.
Caryellê wirkte ebenso erschöpft wie alle anderen, als Iljan neben sie trat.
»Geht es dir gut?«, fragte er vorsichtig.
Cary warf ihm einen überraschten Blick zu, ehe sich eine hochmütige Maske über ihre Augen legte: »Mir geht es nicht besser und nicht schlechter als dem Rest unserer Gruppe.«
Iljan, in der Kunst der Diplomatie bewandert, erkannte, dass sie seine Frage falsch gedeutet hatte. Sie glaubte anscheinend, dass er sie im Speziellen ansprach, weil er sie für schwach und anfällig hielt.
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass Haryna euch keinen bleibenden Schaden zufügen konnte«, stellte er richtig. »Ich wollte nur die anderen nicht stören.«
Carys Gesicht wurde weicher. »Tut mir leid. Ich bin wohl sehr müde. Nein, Schaden konnte sie keinem von uns zufügen.«
»Das erleichtert mich«, sagte Iljan ehrlich. »Wenn wir uns ausgeruht haben, musst du mir erzählen, was in der Stadt vorgefallen ist.«
Cary wies nicht darauf hin, dass Terziel oder Merkanto das ebenso gut erklären konnten. »Es gibt nicht viel zu erzählen. Sie wollten uns zu Dryaden machen, damit wir die Stadt nicht mehr verlassen können. Haryna hat wohl wirklich daran geglaubt, dass sie uns damit etwas Gutes tut. Die Königin war leider viel zu schwach, um sie aufzuhalten.«
»In Dryaden verwandeln?«, fragte Iljan. »Geht das?«
»Soweit ich weiß, gibt es einen speziellen Trank, den auch Elfen und Nymphen manchmal trinken, der einen dem Wald näher bringen soll. Doch in zu großen Mengen bewirkt er eine Verholzung des Körpers und des Geistes. In geringen Mengen verleiht er dir die Fähigkeit, die Sprachen von Tieren und Pflanzen zu sprechen.«
»Euer Land ist seltsam«, murmelte Iljan irritiert, was Cary ein fröhliches Kichern entlockte. Sie legte eine Hand auf seine Schulter.
»Ich bin froh, dass du rechtzeitig gekommen bist, Iljan. Danke.«
»Bitte …«, stotterte der Vampir etwas verspätet, denn Cary ging bereits in die Höhle und auch Iljan zog sich in den anderen Raum zurück, wo Jackie bereits laut schnarchte und Merkanto sich den Umhang um den Kopf gewickelt hatte.
Auch Iljan fiel bald in tiefen Schlaf. Als er erwachte, herrschte immer noch sternendurchleuchtetes Dämmerlicht. In der Höhle lag noch Jackie, inzwischen wieder in menschlicher Form zusammengerollt und mit einer von Merkantos Roben bedeckt. Der Magier war nicht zu sehen.
Iljan erhob sich lautlos und ging nach draußen, wo er zu seiner Überraschung bereits den Rest der Gruppe, Jackie ausgenommen, auf den Wiesen vorfand. Terziel, Merkanto und Najaxis hatten sich entkleidet und wuschen sich in einem der zahlreichen Wasserfälle, die anderen flickten ihre Kleidung oder ihre Körper. Nicht weit entfernt gab es einen großen Haufen mit Äpfel in verschiedenen Farben, von kräftigem Rot bis zu sanftem orange-gelb, manche waren auch grün, in den verschiedensten Größen und wohl auch Festigkeitsgraden. Gudrun saß neben dem Haufen und arbeitete daran, einen mindestens ebenso großen Haufen Apfelnürsel zu schaffen.
Iljan streckte sich und trat dann zu seinem Begleitern, die ihn freudig begrüßten.
»Ihr seid ja früh auf«, meinte Iljan, doch Najaxis schüttelte den Kopf.
»Nicht im geringsten«, sagte der Inkubus. »Anderswo geht es wohl auf den Mittag des zweiten Tages nach unserer Flucht zu.« Er hielt inne. »Ich rede schon genauso wie diese verflixten Pferde. Jedenfalls herrscht hier immer dieses düstere Licht, aber sie wollten oder konnten uns nicht erklären, warum.«
Iljan hob den Blick in den Himmel und stellte fest, dass er zwischen den Blättern hindurch weder Sterne noch den Mond oder die Sonne erkennen konnte. Aufgewachsen im dunklen Schloss konnte ihn dies nicht beeindrucken, doch es überraschte ihn, mitten im Sonnenland einen Ort des ewigen Zwielichts zu finden.
Er seufzte, zuckte mit den Schultern und lief zu Gudrun, um sich einen Apfel von dem Haufen zu nehmen.
»Na? Auf den Geschmack gekommen?«, höhnte die Hexe, doch Iljan ignorierte auch sie. Sein Durst war wieder gewachsen, kein Wunder, wenn wirklich so viel Zeit vergangen war, wie Najaxis behauptete. Als er die Zähne in den Apfel grub und der saure Saft ihm in den Mund lief, nur um wenig später jeden Geschmack zu verlieren, fühlte er sich fast durstiger als davor. Er würde Jackie bald wieder um einen Gefallen bitten müssen, so wenig ihm das behagte.
Doch er würde so lange warten, wie es ihm möglich war.
Es dauerte nicht mehr allzu lange, bis auch Jackie aufstand und etwas aß. Iljan reichte ihr ihre Kleidung, nachdem sie sich ebenfalls in die kalten Fluten gestürzt hatte. Danach sammelten sich die Kinder der Sonne abwartend auf der Lichtung, denn es gab für sie nichts mehr zu tun. Die unzähligen Einhörner, die immer noch über die Lichtung liefen, mal hier, mal dort im Wald erschienen, mussten ihrer Königin (oder Herdenführerin oder Ältesten) Kea Bescheid gesagt haben, denn bald erschien das goldene Einhorn und trabte leichtfüßig zu den Versammelten.
»Ich hoffe, ihr konntet euch von den Mühen der Reise hierher erholen«, sprach das Tier und Iljans Gruppe nickte. Iljan stand jedoch auf und verbeugte sich.
»Wir sind dir und deinesgleichen zu großem Dank verpflichtet«, bedankte er sich förmlich.
»Dann hoffe ich, dass ihr diesen Dank beweisen könnt, indem ihr eure Mission zu einem erfolgreichen Ende bringt«, sprach Kea.
»Warum ist unsere Mission für euch so wichtig?«, fragte Iljan und gab sich einige Mühe, um nicht allzu wütend zu klingen, denn der Gedanke, dass alle von seinem Traum wussten, war ihm unangenehm.
»Um das zu erzählen habe ich euch herholen lassen«, sprach Kea. »Es ist Zeit, euch alles zu erzählen, was ich weiß.«