https://www.deviantart.com/ifritnox/art/721039515
»Du scheinst ausgesprochen gut gelaunt«, meinte Merkanto verwundert zu Terziel, der neben ihm einherschlenderte, ein Lied pfeifend und bei jedem zweiten Schritt ein wenig hüpfend.
»Sieh dich doch um!«, verkündete der blonde Engel strahlend und wies mit großer Geste auf die Wiesen. »Sonnenschein, blauer Himmel, freie Wegstrecke durch paradiesische Hügel …«
»Kein Schutz durch Dunkelheit auf offenem Gelände, wo wir uns nicht verstecken können«, brummte Merkanto.
Terziel seufzte. »Kannst du nicht einmal die Schönheit bewundern?«
»Das werde ich tun, sobald wir nicht mehr Freiwild für jeden und alles sind, dem wir begegnen!«
»Merkanto!«, rief Iljan, der sich vorne umgedreht hatte. »Du betrachtest die Wiesen immer noch mit dem Blick eines Heerführers. Versuch, es als unsere zukünftige Heimat zu sehen!«
Doch das konnte Merkanto natürlich nicht. Er wusste, dass jede Nachlässigkeit, jeder Fehler, sich nachher als fatal herausstellen konnte. »Natürlich, Iljan«, sagte er trotzdem, und zu Terziel: »Verzeih einem alten Narren seine düstere Weltsicht. Du hast recht, es ist zauberhaftes Wetter.«
Der Engel lächelte breit und glücklich. »Vergeben und vergessen!« Dann hüpfte er, sehr zu Merkantos Erleichterung, davon.
Sie befanden sich auf den weitgestreckten Wiesen zwischen dem Wald der Seen und dem Dschungel von Wisan, ihrem nächsten Ziel. Im Schutz des Dschungels, so ihre Hoffnung, würden sie das Meer Antordia erreichen und sich direkt in die Sonneebene begeben, um schließlich den Weißen Berg und darauf das Schloss von Havinairies Adiarama erreichen. In den Köpfen seiner jüngeren Begleiter klang dies offensichtlich nach einem todsicheren Plan und einer kurzen Strecke, doch Merkanto konnte nicht aufhören, an die Gefahren zu denken. Sie hatten nun etwa die Hälfe des Sonnenlandes durchquert – etwas weniger – und begaben sich in Gefilde, in denen die Lichtbewohner zahlreicher, dafür aber weniger wachsam sein sollten. Trotzdem würden die Dschungel voll von Risiken sein, die Merkanto noch nicht einschätzen konnte. Als erfahrener Soldat und Taktiker wünschte er sich, dem Feind gegenüber im Vorteil zu sein. Die mächtigste Waffe im Krieg war immer noch das Wissen – über das Gelände, den Feind, das Wetter, einfach über alles, was den Kampf beeinflussen konnte. Hier jedoch, mitten im unbekannten Feindesland, kämpfte Merkanto auf verlorenem Posten. Die vergangenen Ereignisse hatten ihm nur bewiesen, wie gefährlich jeder Schritt sein konnte.
»Merkanto!«, rief in diesem Moment Iljan und der Magier eilte nach vorne an die Seite des jungen Vampirprinzen. Schon sah auch Merkanto, was Iljan erspäht hatte: Im Gras vor ihnen hob sich etwas aus dem ewigen Grün ab, ein dunklerer Strich, der sich nicht im Wind bewegte.
Iljan schirmte die Augen mit der Hand vor der Sonne ab. »Es bewegt sich nicht, lebt also nicht.«
»Eine gefährliche Schlussfolgerung«, meinte Merkanto und wies die anderen an: »Bleibt hier!«
Gemeinsam mit Iljan näherte er sich dem Etwas, das sich bald als ein Holzpfosten entpuppte, der allein und verloren im Grasland stand.
»Kurios«, meinte Iljan und lachte. »Dass wir uns vor einem Holzpflock fürchten!«
»Du solltest dich auch durchaus fürchten«, rief Merkanto ihm in Erinnerung. »Nicht nur, weil du ein Vampir bist. Dieser Pflock dort ist mit Zetteln behangen, mit Aushängen. Hier muss eine Handelsstraße vorbeiführen, unsichtbar im Gras, oder es ist ein anderer Treffpunkt von Lichtwesen. Jedenfalls bedeutet der Pfahl Nachrichten, und Nachrichten bedeuten Zivilisation und Gefahr.«
Neugierig hatte Iljan sich dem einsamen Pfosten genähert und nahm nun die Aushänge in Augenschein. Merkanto sah, wie der Blick des Vampirs an etwas hängen blieb und sein Unterkiefer sich anspannte.
Eilends ging Merkanto zu Iljan und sah sofort, was den Vampir so erschütterte: Ein Flugblatt war ausgehängt, das eine Belohnung versprach für jede Art von Informationen über eine gewisse marodende Gruppe dunkler Eindringlinge und abtrünniger Wächter. Für die Mitglieder der Gruppe selbst wurde, ob lebendig oder tot, ein Kopfgeld ausgeschrieben.
Iljan studierte die Beschreibung und die Adern an seinen Schläfen traten immer weiter hervor vor Wut. Merkanto dagegen betrachtete stumm die beträchtliche Summe, die versprochen wurde.
Seine Hoffnung sank – würden sie im Schloss der Weißen Königin überhaupt Anerkennung finden und nicht den Tod?
»Ich finde, mich haben sie überhaupt nicht getroffen!«, meinte Gudrun kritisch.
Die Kinder der Sonne beugten sich über das Flugblatt, das Iljan ihnen mitgebracht hatte. Jackie konnte nur sagen, dass es ein unbeschreiblich unheimliches Gefühl war, den Preis für den eigenen Kopf zu lesen. Auch die Zeichnung schmeichelte ihr nicht, denn sie zeigte einen blutrünstigen, geifernden Werwolf zur schlimmsten Phase des Blut-Vollmonds, den Schrecken jedes Menschens.
»Es geht ihnen ja auch nicht um eine realistische Darstellung!«, meinte Merkanto angespannt. »Das ist Propaganda. Niemand von denen hat uns je gesehen!«
»Dafür kann man ziemlich gut erkennen, wer wer ist«, meinte Najaxis. Die Darstellung des Inkubus' auf dem Flugblatt war von betörender, wenn auch hinterlistiger Schönheit.
»Es heißt nur, dass sie nicht wissen, wo wir sind«, meldete sich jetzt Caryellê. »Auf dem Blatt steht nichts von unserem Aufenthaltsort.«
»Dann lasst uns weiter gehen«, Iljan hatte dem Flugblatt keinen Blick mehr geschenkt, doch Jackie konnte spüren, wie aufgewühlt der Vampir war. Es würde ihre Chancen deutlich verschlechtern, wenn jeder in den hellen Landen sie für blutrünstige Monster hielt.
Sie wandten sich dem fernen, noch nicht sichtbaren Dschungel zu. Merkanto blieb einen Moment länger stehen und warf einen misstrauischen Blick zurück: »Hinterlasst so wenig Spuren wie möglich.«
Merkantos Paranoia griff langsam, aber stetig, auf alle Mitglieder der Gruppe über. Iljan war inzwischen so geschwächt, dass ihm das Sonnenlicht in den Augen stach und die Strahlen auf seiner Haut unangenehm warm wurden. Trotzdem hatte er sich wie alle anderen gefreut, den Wald der Seen verlassen zu haben, in erster Linie um seiner Freunde willen. Nun, da die Stimmung erneut gekippt war, wanderten seine Gedanken auf düstere Pfade ab.
Er konnte sich bei allem Optimismus nicht vorstellen, wie sie das Weiße Schloss lebendig erreichen sollten. Es war einfach unmöglich. Man würde sie entdecken und töten, oder ihnen schlimmeres zufügen. Die ganze Mission war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Iljan kämpfte gegen die Meinungen und Vorurteile von Jahrhunderten – ein einzelner Vampir war nicht stark genug, dagegen zu bestehen.
Leichte Schritte näherten sich ihm im Gras. Er konnte Cary riechen, fast wie ein Werwolf sie riechen würde: Ihren Schweiß und den Dreck der langen Wanderung, aber besonders den süßen Geruch ihres Blutes und ihrer Haut. Sie roch nach wilder Vanille.
»Ich habe nachgedacht«, meinte sie.
Iljan sah die Elfe an, die scheinbar gleichgültig ihren Dolch inspizierte.
»Ja?«
»Ja. Ich war selbst einmal Anführerin, wenn auch unter anderen Umständen als du jetzt. Und ich sehe dein Problem, weil ich es selber früher hatte.«
Jetzt besaß Cary Iljans ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Du kapselst dich ab«, erklärte die Elfe frei heraus. »Du wendest ihnen den Rücken zu, verbirgst deine Gedanken. Du zeigst keine Schwäche und das würde ein starker Anführer tun, aber so bist du nicht.«
»Woher weißt du, wer oder was ich bin?«, fauchte Iljan giftiger, als er es eigentlich wollte.
»Ich kann die Wesen in meinem Umfeld gut einschätzen«, sagte Cary sanft. »Und ich weiß, was du zu tun versuchst: Du willst ihr Anker sein, ihr unerschütterlicher Optimismus. Ihr Fels in der Brandung. Du willst für sie alle zusammen entschlossen und hart sein.«
Iljan schwieg, denn bei Carys Worten wurde ihm klar, dass sie recht hatte.
»Du hast Angst, dass sie aufgeben könnten, deswegen gehst du immer weiter. Aber das kostet dich zu viel Kraft. Du bist nicht diese Art von Anführer, Iljan.«
»Was schlägst du vor?«, fragte er leise und warf einen Blick zurück. Doch die anderen waren sicher außer Hörweite, selbst Jackie, die in Wolfsform durch das Gras streifte.
»Wir haben uns niemals offiziell darauf geeinigt, wer die Führung übernimmt«, sagte Cary. »Noch, wer für wen die Verantwortung übernimmt. Diese Gruppe besteht aus deinen Leuten, aber auch aus meinen, und inzwischen gibt es da keinen allzu großen Unterschied.«
»Verlangst du, dass ich dir die Führung überlasse?«, fragte Iljan und war bereits wieder in Verteidigungshaltung.
»Nein«, sagte Cary und reichte ihm die Hand. »Ich sage, wir teilen uns die Bürde. Du hast uns gut geführt, Iljan, keine Frage. Und ich verdanke dir einiges. Aber du bist nicht dazu geschaffen, diese Verantwortung allein zu tragen. Lass mich die Rolle des Felsens übernehmen. Du dagegen musst an deiner Freundschaft festhalten. Diese Freundschaft hat euch doch erst auf euren Weg geführt. Zerbrich' nicht die Bande, die euch zusammenhalten.«
Zögerlich ergriff Iljan Carys Hand, die warm und überraschend weich war, obwohl er die Schwielen daran spürte, die jeder Krieger besaß. Er spürte auch Carys Herzschlag und merkte, wie sich sein Innerstes vor Gier zusammenzog. Es wurde Zeit, dass er Jackie um Blut bat, höchste Zeit.
»Gerne«, sagte er zu Cary und lächelte. Es war kein gespieltes Lächeln, denn er erkannte ihre Geste und wusste es zu schätzen.
»Du bist der Optimismus, ich die Kraft«, fasste Cary ihren Deal zusammen und lächelte zurück.
Ihren Worten zum Trotz war sie es, die Iljan neue Hoffnung einflößte.
Sie schlugen ein Nachtlager auf und Cary übernahm sofort die Verteilung der Vorräte. Iljan setzte sich zu Merkanto, der ein kleines Feuer anzündete.
»Was gibt’s denn zu essen?«, fragte Jackie, die sich sofort neben ihm niederließ. »Ich hoffe, gebratenen Fisch und Schweinefleisch und gegrillte Elchrippchen!«
»Fast«, entgegnete Merkanto säuerlich. »Wir haben recht delikate Frühlingszwiebeln.«
Statt das Gesicht zu verziehen, riss Jackie die Augen auf: »Oh! Das sind meine Liebsten!Gibt es auch Brokkoli? Ich liebe Brokkoli, der ist so … grün. Und gesund.«
Iljan musste kichern. »Ich glaube, wir haben Pilze.«
»Na, Pilze sind aber wirklich in Ordnung«, ließ sich Gudrun vernehmen, die mit einem Plumps neben Najaxis landete, der ebenfalls schon am Feuer saß.
Jackie verzog das Gesicht und streckte die Zunge raus.
»Vor allem haben wir eine Menge frisches Obst«, mischte sich Cary ein, die nun jedem einen Stoffbeutel davon in den Schoß fallen ließ. »Das essen wir lieber, solange es noch frisch ist.«
»Hmm, lecker, Äpfel«, seufzte Jackie und biss in den Ersten.
Merkanto nahm einen kurzen, geraden Stock, spießte seinen Apfel darauf und hielt ihn in die Flammen. »Immerhin einen Wunsch können wir dir vielleicht erfüllen«, lächelte der Magier. »Gebratene Äpfel!«
»Oh, ich will auch!«, quengelte Najaxis und bald suchten alle eifrig nach passenden Stöcken. Alle außer Stella, die den Kopf schüttelte und sich dann über die frischen Äpfel hermachte.
Es wurde eine lustige Runde. Die Kinder der Sonne kämpften spielerisch um jeden gebackenen Apfel, und auch wenn Cary ihnen jeden Alkohol verbot – einige Vorräte hatten die Festnacht nach dem Überfall auf die Handelskaravane überlebt – hatten sie viel Spaß. Irgendwann, in einem unbeobachteten Moment, warf Jackie Iljan einen Blick zu und tat, als würde sie in einen unsichtbaren Apfel (oder Hals) beißen. Iljan, der die Geste schon kannte, nickte traurig. So schlichen sie sich davon und Jackie reichte ihm ihr Handgelenk, damit er seinen Durst stillen konnte. Iljan hasste es, diesem Bedürfnis nachgehen zu müssen. Doch Jackie behandelte es wie die normalste Sache der Welt.
Sie waren vielleicht eine halbe Stunde fort gewesen, als sie zum kleinen Feuer zurückkehrten, doch in der Zwischenzeit hatten sich alle träge und vollgefressen im Gras ausgestreckt. Sogar Stella lag auf der Seite und schnaubte glücklich in die Erde.
»Danke«, sagte Iljan leise, als er sich zu Cary setzte. »Ich glaube, du hast besser als ich erkannt, was ich im Moment brauchte.«
Cary lächelte ihn an. »Nicht nur du, Iljan. Ich konnte nicht zusehen, wie du dich immer weiter von ihnen entfernst.«
Sie wurden unterbrochen, weil Merkanto plötzlich in die Höhe fuhr und mit dem Fuß begann, Erde auf die Flammen zu werfen.
Binnen Sekunden waren alle wieder wach, Abarax verwandelte sich in eine schwarze Wolke und legte sich über die Flammen. Zwei rote Augen glommen in der plötzlichen Dunkelheit auf.
Am Horizont erkannten die Kinder der Sonne, was Merkanto erschreckt hatte: Ein Reiter war dort vor den Sternen erschienen und hatte sein Pferd gezügelt.
Mit angehaltenem Atem und ohne auch nur das Geringste zu sagen, verharrte die Gruppe. Iljan sah, wie Cary langsam nach ihrem Dolch tastete, doch der Reiter rührte sich nicht. Wenig später erschien eine andere Silhouette neben ihm, dann eine zweite. Der erstere Schatten schien einem Zentauren zu gehören, jedenfalls war kein Pferdekopf zu erkennen. Der andere Schatten war eine große Schlange, schien sich aber auf vier kurzen Beinen zu bewegen und außerdem eine Mähne und Hörner zu besitzen.
»Was ist das? Haben sie uns gesehen?«, fragte Jackie leise.
»Ich weiß nicht«, gab Gudrun zurück.
Cary dagegen seufzte: »Betet, dass sie uns nicht gesehen haben. Das sind Weiße Wächter.«