https://www.deviantart.com/ifritnox/art/722585180
»Sie haben schon wieder die Richtung gewechselt!«, berichtete Jackie im Flüsterton. »Sie sind eindeutig auf unserer Spur und sie haben eindeutig jemanden mit einer guten Nase bei sich!«
Cary ballte still die Hand zur Faust. Sie konnte sich nicht an irgendwelche Spürhunde in den Reihen der Weißen Wächter erinnern – dann aber kamen ständig neue Rekruten dazu und das Eindringen der Kinder der Sonne hatte sicherlich eine Welle von Patriotismus durch das Land gehen lassen.
Im Moment kauerte die Gruppe in einer Senke im Gras, jeden noch so geringen Schutz ausnutzend, den sie finden konnte. Seit die Weißen Wächter sie am gestrigen Abend so unvermittelt überrascht hatten, war es noch zu keiner direkten Auseinandersetzung gekommen. Nachdem sie hastig das Feuer verborgen hatten, hatten die Kinder der Sonne unschlüssig ausgeharrt. Als dann die Weißen Wächter in ihre Richtung gingen, waren Cary, Iljan und alle anderen klammheimlich davongeschlichen. Doch die Weißen Wächter folgten ihren Richtungswechseln. Es begann ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Kinder der Sonne bis zuletzt unsicher waren, ob man sie bemerkt hatte. Nun aber bestand kein Zweifel mehr.
Es dämmerte, die Sonne erhob sich eben über der nebelverhangenen Ebene und malte goldene Linien auf die tiefhängenden Wolken. Cary ließ den Blick über die Wiesen schweifen. Ihre beste Hoffnung waren die Dschungel, doch der direkte Weg dorthin führte über einen der größten Hügel. Man würde sie auf jeden Fall sehen, ob sie die folgende Jagd überstanden, war nicht zu sagen – die Baumgrenze war noch nicht in Sichtweite und Cary wusste nicht genau, wie viele Meilen vor ihnen lagen.
Doch den Hügel zu umgehen könnte sich als fataler Umweg erweisen. Wenn die Weißen Wächter ebenso klug waren wie zu den Zeiten, da Cary sie geführt hatte, würden sie auf den Hügel ziehen, von wo aus sie das ganze Gelände meilenweit einsehen konnten. Von oben wären die Wächter im Falle eines Kampfes im Vorteil, auf jeden Fall aber konnten sie das Ziel der Gruppe erkennen und ihnen den Weg abschneiden.
Beide Wege bargen ihre Risiken. Cary entschloss sich, wie auch schon früher, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Und das sagte ihr, auf keinen Fall einen Umweg in Kauf zu nehmen.
»Wir werden herausfinden, wie gut diese Nase ist, sobald wir erst in den Dschungeln sind!«, verkündete sie. »Wir müssen nur über den Hügel und dann immer geradeaus. Lasst alles hier, was wir nicht brauchen – wir müssen schneller als die Wächter sein.«
Es gab einige verwirrte Blicke, denn außer Cary und Iljan wusste noch keiner, dass die Elfe nun das Kommando innehatte. Doch Iljan nickte auf ihre Worte und so legten alle das Wenige ab, was sie entbehren konnten – überzählige Decken, leere Wasserschläuche, in Gudruns Fall auch einige leere Trankflaschen – und bereiteten sich auf einen langen Lauf vor. Cary gab ihnen nicht viel Zeit.
Keuchend eilte Cary den Hang hinauf. Sie waren etwa auf halber Höhe des Hügels, als sie hinter sich ein allzu vertrautes Hornsignal hörte: „Feind gesichtet“. Nur wenig später folgte das Signal, das die Jagd für Eröffnet erklärte. Cary ballte im Rennen die Fäuste und wurde nochmals schneller. So erreichte die den Kamm des Hügels gemeinsam mit Iljan.
»Lauf weiter!«, wies sie ihn an, blieb aber selbst stehen und sah zurück. Die Kinder der Sonne quälten sich den Hang hinauf, aber selbst Gudrun – die bei weitem unsportlichste der Gruppe, noch dazu mit dem größten und schwersten Rucksack beladen – war nicht weit hinter Cary. Die Weißen Wächter dagegen, ein Reiter, ein Zentaur und ein Himmelsdrache, galoppierten auf den Hügel zu. Der Drache sprang in den Himmel und hielt sich, obwohl ihm die Schwingen fehlten, mühelos in der Luft.
Cary schluckte. Sie kannte den Drachen: Sophram, Nephanirs adoptierter Sohn. Der weiße Nephanir war damals bei dem Grenzübertritt von Iljans Gruppe getötet worden, sein Sohn brannte sicherlich auf Rache.
»Schneller!«, rief Cary und sprang den anderen hinterher, die nun den Abhang hinunter rannten. Der Hügel, zuerst ein gefährliches Hindernis, verschaffte ihnen nun wertvolle Zeit, denn der Zentaur und der Reiter wurden von dem ansteigenden Gelände aufgehalten, die Kinder der Sonne dagegen hatten das Gelände auf ihrer Seite. Stella hielt in der Flucht inne und wartete auf Cary, um dann an ihrer Seite zu galoppieren.
»Der Drache«, keuchte Cary kurzatmig. »Er wird uns angreifen.«
Stella schnaubte als Ausdruck dafür, dass sie verstanden hatte, und lief schneller. Cary war überrascht, dass Stella nicht etwa zu Gudrun, sondern direkt zu Iljan lief. Während der Vampir die Botschaft annahm und Merkanto und Abarax etwas zurief, ertönte ein grollendes Knurren hinter Cary. Sie wandte im Laufen den Kopf und erblickte Sophram, der sich über dem Hügel in den Himmel wand wie eine schwerelose Schlange. Er öffnete das Maul und spie fauchend eine glühende Kugel aus, die auf die Fliehenden zuraste. Der Drache war bereit, zum Äußersten zu gehen.
Wieder floh Cary vor dem Feuer eines Drachen. Die Kugel leuchtete wie eine kleine Sonne und malte Carys Schatten vor ihr in das Gras. Sie spürte die Hitze im Rücken, doch in ihren Beinen steckte keine Kraft, um schneller zu laufen. Dafür sah sie Merkanto, der ihr entgegen kam. Als der Magier die Arme hoch riss, ließ Cary sich in das feuchte Gras fallen.
Merkanto rief die Blitze zu sich und schickte sie nach vorne, wo sie ein zitterndes, goldenes Gitter bildeten. Das Drachenfeuer wurde absorbiert, danach schwand der Schutzschild. Caryellê rollte durch das Gras neben ihn und Merkanto reichte ihr eine Hand, um sie auf die Beine zu ziehen.
»Danke«, keuchte Cary.
»Nicht der Rede wert«, brummte Merkanto und schleuderte einen Strahl Blitze gegen den Jungdrachen, der immer noch auf sie zugeflogen kam.
Der weiße, schlangengleiche Himmelsdrache schnappte nach den Blitzen und landete im Gras. Doch Merkantos Macht schadete dem Wesen nicht, und so kam der Drache auf sie zu gesprungen. Die Erde donnerte unter seinen Schritten und die großen Augen blitzten vor Wut.
Abarax kam von der Seite herangeschossen. Eine schwarze Wolke traf den Kopf des Drachen und riss ihn herum, sodass der Angreifer der Länge nach im Gras landete und vor Merkanto und Cary schlitternd zum Halt kam.
»Tut ihm nicht weh!«, rief Cary nervös.
Merkanto packte ihren Arm: »Komm.«
Er zerrte Cary den Hang herunter und nach vorne. Am Horizont konnte er, im Licht der aufgehenden Sonne, dunklere Schatten erkennen: Die Bäume von Wisan, die sich über das Gras erhoben. Ihr Ziel war nah.
Cary wehrte sich gegen seinen Griff: »Was tut ihr? Lasst Sophram leben, hört ihr? Wir können nicht anfangen, wieder alle abzuschlachten!«
»Das tun wir auch nicht«, knurrte Merkanto genervt. »Abarax hält ihn nur auf.«
Der Geist eines Drachen war so ganz anders als alles, was Abarax kannte.
Nachdem der Nachtmahr einmal Einlass in das mächtige Wesen gefunden hatte, verlor er die Orientierung. Mächtige, gleißende Gedanken trieben an ihm vorbei, groß und stark und herrlich, widerhallend von Wut und Schmerz.
Nephanir – so donnerte ein Name wieder und wieder vorbei. Abarax klammerte sich an diesen Gedanken und ließ sich mitreißen. In wildem Farbrausch glitt der Drachengeist an ihm vorbei und er mitten hindurch.
Langsam gewöhnte der Nachtmahr sich an die Umgebung, an die Größe und Helligkeit. Dann erkannte er den Kern und griff danach.
Sophram, der Drache, erzitterte und knurrte, als er fremdes Wirken in seinem Geist bemerkte.
»Still!«, befahl Abarax ihm.
»Niemals! Mörder!«, gab der Drache zurück. Sein Geist bäumte sich auf und hätte Abarax um ein Haar aus dem Kopf des Drachen geschleudert. Brüllend erlangte Abarax die Kontrolle zurück und kämpfte um die Steuerung über den Körper des Drachen. Er glaubte sich auf verlorenem Posten. Immer noch trachtete Sophram nach der Verfolgung. Das war anders, ganz anders als der Kampf mit Nephanir.
Diesen Namen vernahm Sophram und wieder erzitterte er in einem Schatten von Trauer, Angst und Wut. Abarax nahm den Moment wahr und griff nach der Gelegenheit. Er erkannte die enge Freundschaft, die Sophram an Nephanir gebunden hatte.
»Ja! Ich habe gegen ihn gekämpft, ich persönlich habe seine Gegenwehr durchbrochen, damit er sterben konnte!«, tönte er auf, mit der dunklen, grausamen Stimme eines Nachtmahrs.
Sophram jaulte vor Schmerz und Abarax griff nach der Kontrolle, nicht nur über den Drachenkörper, sondern auch über seinen Geist. Sophram fiel und rollte sich auf der Erde zusammen.
Nun musste Abarax ihn nur noch so lange wie möglich hier halten.
Cary sah zurück.
Sophram lag im Gras des Hügels, scheinbar leblos, doch Merkanto schwor, dass der Drache unverletzt sei. Der Reiter und der Zentaur hatten bei Sophram gehalten. Offenbar versuchten sie, ihn aufzuwecken, was Cary als ein gutes Zeichen sah. Wäre der Drache tot, hätten die beiden anderen wohl die Jagd fortgesetzt.
Etwas langsamer trotteten die Kinder der Sonne nun auf den Wald zu. Die Sonne war hochgestiegen und nur noch wenige Wegstunden lagen vor ihnen – vielleicht zwei, vielleicht auch drei. Immer wieder sahen sie zurück, doch ihre Feinde wussten ja, wohin sie gingen, und konnten sich deshalb Zeit lassen.
»Ich nehme an, der Drache hat uns verfolgt?«, fragte Merkanto, der ruhig an Cary Seite ging.
Sie nickte. »Drachen haben gute Nasen, aber mehr noch können sie Energien spüren.«
»Das ist gut«, erklärte Merkanto zu Carys Überraschung. »Diese Gaben verstehe ich. Dieses Wissen sollte uns helfen, unsere Spuren zu verwischen.«
»Ihr denkt wirklich, dass wir sie im Wald abhängen können?«, fragte Cary neugierig.
Merkanto nickte. »Ich habe oft kleine Gruppen von Fahnenflüchtigen oder Spionen verfolgen müssen, ich kenne alle Tricks und Kniffe. Auf den Wiesen haben wir wenig Chancen, aber im Wald würde es mir gelingen, eine ganze Werwolfsmeute abzuhängen. Das heißt … solange ihr alle genau das tut, was ich sage.«
Und damit warf er Cary einen strengen Blick zu.
»Natürlich«, beeilte Cary sich zu sagen.
»Ich meine vor allem jene von uns, die ungeschickt, faul oder einfach unfähig sind. Jeder Fehler kann alles zunichte machen, also solltet Ihr, Caryellê, ihnen allen klar machen, was auf dem Spiel steht.«
»Ich denke«, erwiderte Cary kühl, »dass das inzwischen allen klar ist.«
Der Dschungel hüllte sie in eine feuchte, warme und grüne Umarmung, als sie den Waldsaum endlich erreichten. Die Wächter waren noch nicht wieder hinter ihnen aufgetaucht, doch Cary glaubte nicht, dass Sophram von ihrer Fährte ablassen würde – dieser trügerischen Hoffnung wollte sie nicht erliegen.
Etwas widerwillig überließ sie die weitere Führung Merkanto. Zuallererst wies der Magier sie an, sich die fleischigen Blätter einer bestimmten Pflanze um die Füße zu wickeln.
»Ich hab ja gehört, dass Elfen ihre Wunden mit Blättern behandeln, aber dass sie damit auch Verfolgern entkommen, wäre mir neu!«, schimpfte Gudrun.
»Die Blätter verwischen eure Spuren«, teilte Merkanto ihnen genervt mit. »Sowohl die Fußabdrücke, als auch –«
»Ugh. Die Geruchsspur«, Jackie hatte sich ein Blatt vor die Nase gehalten und verzog nun angewidert die Miene. »Was für ein Gestank!«
»Genau«, sagte Merkanto nur. »Jetzt beeilt euch, wir müssen auch Stellas Hufe noch verbinden!«
Das Einhorn sah nicht begeistert darüber aus, dass es der Behandlung nicht entgehen würde.
Abarax saß derweil im Geist der Drachen Sophram. Er behielt die Kontrolle über Sophrams Körper und zwang den Drachen damit, an einer Stelle zu verharren. Doch er spürte eine Dunkelheit, die um ihn herum aufzog, dichter und schwärzer werdend. Als er seinen Geist rühren wollte, merkte er, dass er es nicht konnte. Sophram hatte ihn gefangen. Obwohl Abarax die Kontrolle über den Körper behielt, hatte Sophram der Macht des Nachtmahrs jede Bewegungsfreiheit genommen.
Abarax begehrte auf und wehrte sich. Sophram zog die Schlinge enger. So verbunden im Kampf Geist gegen Geist, berührten die beiden Bewusstseine einander. Abarax sah Bilderfetzen aus einer vergangenen Zeit und spürte fremde Emotionen: Den schmerzenden Verlust beider Eltern, die Hoffnungslosigkeit danach und das ferne Sternenlicht, das Nephanir gewesen war, als er Sophram an Sohnes Statt aufnahm. Abarax wurde überflutet von widerstreitenden Gefühlen, von Sophrams Liebe zu Nephanir und dem Schmerz des Drachen, als er die Botschaft vom Tod seines Ziehvaters vernahm, und von dem Hass, den Sophram nun verspürte.
Abarax konnte nicht sagen, was Sophram alles in seinem Geist wiederum sah, doch es veranlasste den Drachen dazu, ganz unvermittelt seinen Angriff einzustellen, wie sich auch Abarax zurückzog. Man konnte nicht Geist und Wissen teilen und trotzdem gegen den anderen kämpfen, es ging einfach nicht. Doch Abarax sah immer noch keinen Ausweg, denn Sophrams Macht hielt ihn gefesselt. In einem verzweifelten Versuch, sich zu retten, gab er also allen Widerstand auf und zeigte Sophram alles: Sein ganzes Sein, sein Wissen über Iljans Mission, die verzweifelte Hoffnung der Kinder der Sonne.
Abarax erflehte Gnade – doch er konnte nicht verbergen, dass sie Nephanir getötet hatten, und Sophram empfand nicht nur Mitleid, sondern auch Hass.
Weit entfernt, in den Dschungeln von Wisan, brach die Nacht an, als Terziel mit einem Mal ein Schmerz verspürte, als ob er sich gestochen hatte. Er sah auf seine Hände, doch kein Blut war daran und der Schmerz fühlte sich auch fremder an, weniger körperlich.
»Abarax braucht lange, um zu uns zu stoßen«, sagte er. Die anderen hielten an und blickten zu ihm zurück.
Terziel entfaltete die Schwingen und stieg mit drei Flügelschlägen in die Luft. »Ich gehe ihn suchen.«
»Terziel, warte!«, rief Cary ihm nach, doch der Engel war schon fort.