https://www.deviantart.com/ifritnox/art/724312369
Merkanto saß etwa einen Steinwurf weit entfernt hinter einem Strauch und schmollte, weil seine ausgetüftelten Tricks, die Verfolger abzuhängen, nun in den Wind geschlagen worden waren. Stella hatte notgedrungen bei dem Zauberer bleiben müssen, denn sie war zu groß, um durch das Gras zu robben.
Alle anderen dagegen, auch Terziel, den sie endlich eingeholt hatten, lagen flach im kalten Gras und spähten auf den großen Hügel herüber, auf dessen Kuppe Sophram so gerade zu erkennen waren. Seine beiden Begleiter waren schon nicht mehr zu erkennen.
»Der Drache rührt sich nicht«, murmelte Iljan zu sich selbst. »Das gefällt mir nicht.«
»Denkst du, Abarax ist in Schwierigkeiten?«, fragte Jackie leise.
»Auf jeden Fall ist er das; ich kann nur nicht sagen, wie und ob wir ihm helfen sollen«, antwortete Iljan.
»Wir müssen ihm helfen!«, schnaubte Stella vom Waldrand herüber. »Dir fällt sicherlich etwas ein, Adamas.«
Iljan wandte sich zu dem Einhorn um. Ihm war schleierhaft, woher das Tier dieses Vertrauen in ihn setzte.
»Was bedeutet der Name?«, fragte er jedoch nur.
»Es ist dein Seelenname«, erklärte Stella. »Und er bedeutet `Diamant´.«
»Äh. Danke.«
Gudrun kicherte. »War ja klar, dass unser Vampirjunge ein hübscher Edelstein ist!«
»So einfach ist das nicht«, schnaubte Stella pikiert. »Ein Diamant ist nicht einfach nur ein Edelstein, er ist durchsichtig, wie Glas. Man kann jede noch so kleine Unreinheit durch ihn erkennen. Gleichzeitig ist er härter als jeder andere Edelstein und schärfer als so manches Metall beider Länder. Es ist nicht einfach nur ein schöner Stein, Aelinos, und ganz sicher nicht einfach nur ein Name, über den man sich lustig machen sollte!«
Gudrun schwieg, aber nun beugte sich Najaxis vor: »Stelle, was bedeutet denn `Aelinos´ eigentlich?«
»Oho, Fruchtfliege! Da wirst du keinen Ansatz zum Spott finden!«, schnaubte Gudrun, doch Stella antwortete: »Es bedeutet `Klagelied´. Zweifellos ist es eng an das Schicksal des Sternenlieds, Stella Cantici, geknüpft. Doch vor allem erzählt es eine Geschichte von Schönheit und Trauer.«
»Schönheit?!«, prustete Najaxis los.
»Ruhe!«, zischte Cary, die direkt neben Iljan lag. »Noch etwas lauter, und die Wächter können sich an unserem Gespräch beteiligen!«
»Entschuldigung«, murmelte Naja, während alle ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne richteten. Cary hatte offenbar nachgedacht, statt sich ablenken zu lassen, denn sie fuhr fort:
»Wir wissen, dass Abarax festsitzt. Obwohl niemand von uns seine Macht so recht versteht, denke ich doch, dass er physisch im Körper von diesem Drachen sein muss. Da sich der Drache nicht rührt, denke ich mal, dass es einen Kampf gibt. Beide Bewusstseine kämpfen um die Vorherrschaft im Körper des Drachen – Abarax hat vielleicht kein Zeitgefühl und keinen Zugriff auf die Sinnesorgane, also sollten wir zuerst einen Reiz schaffen, der zu ihm dringt und ihm verrät, dass wir da sind, um ihn zu holen. Ich würde das Manöver des Doppelten Gesangs vorschlagen: Gudrun und Stella galoppieren rein, Gudrun wirft ein paar Tränke, das sollte für Verwirrung sorgen, dann –«
»Oder wir versuchen, weniger wie dunkle Wesen vorzugehen«, mischte sich Terziel ein.
Cary sah den Engel an. »Was schlägst du vor? Sollen wir beten, dass Abarax sich von alleine zu helfen weiß?«
»Nein, aber lasst es uns zur Abwechslung einmal mit Reden statt mit Kämpfen versuchen«, sagte Terziel. »Wir schicken einen Boten, um mit den Weißen Wächtern zu verhandeln. Sie ziehen ab, dafür lassen wir sie ebenfalls in Ruhe. Wir sind die größere Gruppe, für uns steht mehr auf dem Spiel – sie werden uns wahrscheinlich nachgeben.«
»Das ist der dämlichste Plan, von dem ich je gehört habe!«, schnaubte Gudrun.
Terziel warf ihr einen bitterbösen Blick zu.
»Sie hat allerdings Recht«, musste Iljan widerwillig zugeben. »Bisher hat uns nie jemand zugehört, wenn wir reden wollten. Warum sollte es jetzt anders sein? Sie können genauso gut den Boten erschießen und uns dann angreifen.«
Terziel schwieg. Dafür regte sich Cary: »Hör doch, Terziel. Mir wäre es auch lieber, wir könnten das hier ohne einen Konflikt lösen. Aber das geht nicht mehr. Und selbst wenn, ich könnte von niemandem hier verlangen, dass er alleine da rüber geht.«
»Ich mache es«, sagte Terziel und wich dem Blick der anderen aus. »Ich gehe rüber. Lasst mich nur … gebt mir nur eine Chance, ich verspreche, dass ich es nicht versaue!«
»Terziel, das ist Selbstmord!«, rief Cary entsetzt.
Der Engel schüttelte den Kopf und warf der Elfe dann einen Blick zu, in dem Iljan Schmerz, Angst und Entschlossenheit lesen konnte. »Ich … ich habe etwas wieder gut zu machen. Sobald was schief läuft, kommt ihr raus, aber lasst es mich bitte versuchen!«
Cary seufzte. »Bist du dir sicher, Terziel? Bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst?«
Der Engel ballte die Hände zu Fäusten und nickte.
Cary neigte den Kopf. »Dann geh. Ich wünsche dir alles Glück der Sonne.«
Terziel stand wortlos auf und marschierte geradewegs auf den Hügel zu. Er sah nicht einmal zurück.
»Bist du verrückt?«, fauchte Iljan. »Du kannst ihm das doch nicht erlauben! Cary, das ist –«
»Ich weiß«, sagte Cary mit angespannter Stimme. »Iljan, ich weiß es. Trotzdem kann ich ihn nicht zwingen, hier zu bleiben.«
Langsam näherte Terziel sich der kleinen Gruppe auf dem Hügel. Es dauerte nicht lange, bis der Zentaur ihn hörte und sich umdrehte. Die Hände des Pferdemenschen flogen zu seinen Waffen.
Terziel hob beide Hände neben den Kopf und blieb abwartend stehen. Der Zentaur und der Reiter – eine weißgekleidete Frau auf einem weißen Pferd – zückten ihre Schwerter und verharrten dann unschlüssig.
»Wer bist du?«, rief die Frau schließlich zu Terziel herunter.
»Terziel«, antwortete der Engel. »Ich bin gekommen, um zu verhandeln.«
»Du gehörst du ihnen?«, bei diesen Worten deutete die Frau mit dem Schwert in Richtung Wald.
Terziel nickte.
»Komm hoch. Langsam«, befahl der Zentaur und Terziel befolgte die Anweisungen. Die Frau kam ihm entgegen und tastete ihn ab. Mit wenigen, schnellen Griffen hatte sie ihm Schwert und Gürtel abgenommen.
Terziel starrte die Frau an. Es schien eine Menschenfrau zu sein, denn weder ihre Augen, noch ihre Ohren oder Haare waren in irgendeiner Form außergewöhnlich, wenn man einmal davon absah, dass Haut und Haare ungewöhnlich hell, die Augen von einem ungewöhnlich zarten Blau waren. Ansonsten war sie durchschnittlich groß und schien keinerlei magische Fähigkeiten zu besitzen.
Der Zentaur hielt die ganze Zeit über einen Speer in den Händen, bereit, die Waffe jederzeit auf den Engel zu werfen. Als die Frau zurücktrat, ließ auch der Zentaur seine Waffe sinken.
»Worüber willst du verhandeln?«, fragte der Zentaur müde.
Terziel zögerte. »Dein Name ist Faymurk, richtig? Ich erinnere mich an dich.«
Der Zentaur hatte einen dunkelbraunen Pferdekörper, der in einen dunkelbraunen und kräftigen menschlichen Oberkörper überging, mittellange Haare und einen Kinnbart, soweit war nichts besonderes an ihm, doch Terziel hatte die kleine Blesse auf der linken Brust des Pferdeleibes erkannt.
»Ja«, knurrte Faymurk unfreundlich.
»Ich bin Neja«, sagte die Frau und Terziel deutete eine Verbeugung an.
»Ihr kennt mich vermutlich vom Hörensagen«, erläuterte er. »Als die Dunklen über die Grenze kamen, wurde ich gefangen, genau wie Caryellê und das Einhorn Stella Cantici.«
»Es heißt, dass ihr an ihrer Seite kämpft«, der Zentaur runzelte die Stirn. »Dass ihr euch mit ihnen verbündet habt.«
»Das stimmt auch«, gab Terziel zu. »Und es ist kein Trick und keine Täuschung. Diese Gruppe ist … anders. Ich verlange nicht, dass ihr mir glaubt, denn ich habe es selbst lange Zeit nicht glauben wollen. Doch die Kinder der Sonne wollen keinen Schaden anrichten. Lasst den Nachtmahr frei und lasst uns gehen. Ich gebe mein Wort, dass ihr es nicht bereuen werdet.«
Als Terziel in die Augen seiner Gegenüber sah, sank sein Mut. Zweifel und Misstrauen sprach aus den Mienen von Faymurk und Neja. Auch hielten sie ihre Waffen noch umklammert.
»Ich habe anderes gehört«, meinte Neja und ihre Stimme war fast so kalt, wie Carys Stimme werden konnte. »Ich habe gehört, dass ihr eine Mine der Zwerge niedergebrannt und einen unschuldigen Handelszug überfallen habt.«
»Uns blieb keine Wahl«, sagte Terziel. »Die Zwerge hatten einen der Unseren erschlagen, nachdem sie versprachen, ihn frei zu geben. Und der Handelszug hat uns angegriffen.«
»Klingt ganz wie eine Rechtfertigung, die die Wesen der Nacht vorbringen würden!«, schnaubte Faymurk.
»So ist es nicht! Sicherlich habt ihr gehört, dass die Dunklen zwischenzeitlich in Quellheim waren. Und, ist dort jemand zu Schaden gekommen?«
Neja schüttelte den Kopf: »Das ist kein Beweis. Vieles kann in Quellheim geschehen sein, dass euch davon abhielt, zu morden. Außerdem heißt es, dass ein Einhorn vergiftet worden wäre.«
Terziel schluckte, doch keine weiteren Worte wollten ihm über die Lippen kommen.
»Und außerdem kamen vor kurzem Boten aus dem Wald der Seen. Ich weiß nicht, was ihr mit den Dryaden zu schaffen hattet, doch ihre Wut lässt kein gutes Licht auf eure Gruppe fallen«, Faymurk hob seinen Speer. »Du kannst dich ergeben oder sterben, Engel!«
Terziel zögerte. »Bitte. Hört mir doch zu!«, hauchte er.
Faymurk hob den Speer und stieg auf die Hinterbeine. Als die Waffe durch die Luft flog, ließ Terziel sich nach vorne auf die Knie fallen: »Gnade! Ich ergebe mich!«
Der Speer flog über seinen Kopf und Stille kehrte ein. Als Terziel vorsichtig den Blick hob, bedachten ihn Zentaur und Menschenfrau mit düsteren Blicken.
»Ich ergebe mich«, wiederholte er. »Aber bitte, ihr müsst mir zuhören!«
Faymurk und Neja tauschten einen Blick.
»Fesseln wir ihn«, schlug Neja vor und Faymurk nickte grimmig.
»Bitte!«, flehte Terziel verzweifelt, als Faymurk mit einem Strick auf ihn zu kam.
»Jackie, könntest du bitte stehen bleiben?«, knurrte Cary.
Die rote Wölfin hielt inne und warf einen finsteren Blick zu der gereizten Elfe. Iljan aber trat zu Jackie und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die rote Schulter.
»Sie ist besorgt, Jackie«, flüsterte er so leise, dass es nur die Wölfin hören konnte.
Natürlich verstand Jackie, dass Caryellê sich für Terziel verantwortlich fühlte. Als Rudeltier verstand sie auch die Unruhe und Angst, die sich über alle legte, nun, da Abarax und Terziel in größter Gefahr schwebten.
Aber trotzdem wollte sie der Elfe nach Iljans Worten nicht verzeihen, weniger noch als zuvor. Denn ihre feinen Wolfsohren nahmen den zärtlichen Unterton wahr, mit dem Iljan von der Elfe sprach.
Und das gefiel Jackie kein bisschen.
»Die Zeit ist um!«, verkündete Merkanto in diesem Moment. Bis eben hatte der Magier regungslos neben einem Baum gestanden und den Lauf der Sonne verfolgt. Nun kam er zu ihnen. »Terziel sollte längst zurück sein!«
»Ich weiß!«, zischte Cary gereizt. »Er muss Schwierigkeiten haben.«
Und leise, so leise, dass es wohl nur Jackie und vielleicht noch Stella hörte, flüsterte Cary: »Ich hoffe, er lebt noch!«
»Halten wir uns an den Plan«, brummte Merkanto unberührt. »Wir greifen an.«
Cary nickte und bückte sich, um ihre Waffen aufzunehmen. Najaxis drückte sich am Waldrand herum und Merkanto schloss lediglich die Augen, um sich zu konzentrieren, während Iljan die Fäuste ballte und Jackie die Zähne fletschte. Gudrun, im Arm mehrere Fläschchen mit buntem Inhalt, kletterte ungeschickt auf Stellas Rücken.
»Also gut. Versucht, euch nicht umbringen zu lassen«, sagte Cary und legte einen Pfeil auf den Bogen. »Und wenn es irgendwie geht, lasst sie am Leben.«
Sie huschten lautlos aus dem Wald heraus, alle bis auf Najaxis, der zurückblieb, um ihre Vorräte zu bewachen. Die Schatten wurden schon länger und die untergehende Sonne ließ lange, rote Streifen im Gras erscheinen.
Die Kinder der Sonne machten sich auf zum Kampf.
Mit auf dem Rücken gefesselten Händen und gebundenen Schwingen konnte Terziel sich kaum rühren. Er kniete auf der Erde, ein wenig vornüber gebeugt. Sein Rücken schmerzte und die Kälte kroch langsam durch seine Kleidung. Nachdem ihm sein Gürtel abgenommen worden war, wurde seine Kleidung nicht länger wärmend zusammengehalten und die langen Gewänder bauschten sich im schwachen Wind.
Neja stand neben ihm, ein dünnes Schwert in der Hand, das sie ihm an die Kehle hielt.
»Terziel«, meinte die Frau im Plauderton. »Ich habe das Gefühl, dass sich drüben am Hang etwas bewegt. Deine Freunde sind doch sicherlich nicht so dumm und greifen an?«
»Bestimmt nicht«, murmelte Terziel, den Blick fest auf die Erde gerichtet.
»Das wollen wir hoffen. Denn ansonsten müsste ich dich töten, und das wollen wir doch nicht«, meinte Neja.
Faymurk schnaubte spöttisch und machte deutlich, dass ihm der Tod des Engels wenig ausmachen würde.
Terziel schluckte und verknotete hinter dem Rücken die Hände miteinander. Er sah zu dem weißen Drachen, der ihm regungslos gegenüber saß.
Ein dunkler Schatten huschte über die goldenen Augen.