Du bist Brenna Sundergeer.
Gegen Mittag ist es soweit: Nachdem ihr euch ein letztes Mal versichert habt, dass wenigstens eure Pferde für die nächsten Wochen gut versorgt sein werden, überquert ihr auf einer schmalen, rutschigen Planke den Abstand vom Steg zum Schiff. Es ist nicht deine erste Schiffsreise, doch das erste Mal, dass du dich auf die Mondsee begibst. Du passt deine Schritte dem unter dir schwankenden Deck an.
Auf dem Schiff herrscht reger Betrieb. Matrosen laufen hierhin und dorthin, klettern in die Masten, um die Segel herabzulassen, schrubben das Deck oder erfüllen andere Seemannsaufgaben, von denen du nichts verstehst. Sobald ihr an Bord seid, legt das Schiff vom Hafen ab und strebt mit geblähten Segeln dem offenen Meer zu.
Der Wind ist scharf, die mittägliche Sonne wärmt euch. Der Seegang ist regelmäßig, das Stampfen des Schiffes klingt wie ein Herzschlag. Niemand beachtet euch und Allyster verkriecht sich sofort unter Deck, also nutzt du die Gelegenheit, um dich vorne in den Bug zu stellen. Du schließt die Augen und genießt das Gefühl der Fahrt auf deinem Gesicht: Die sanft wärmende Sonne, den streichelnden Wind und die Spritzer der Gischt. Die Luft schmeckt nach Salz und Abenteuer.
„Eine wunderbare Freundin, die See“, sagt jemand neben dir.
Du fährst zusammen und öffnest die Augen: Die Piratenkapitänin lehnt neben dir an der Reling.
„Aber auch wankelmütig“, fährt sie fort. „Ihre Laune kann schnell umschlagen.“
Du nickst – aus irgendeinem Grund freust du dich ungemein, dass die Kapitänin zu dir gekommen ist. „Ich hab gehört, die See soll wie eine Frau sein – mal ist sie sanft und willfährig, dann aufbrausend und wütend, ohne dass man den Grund dafür kennt.“
„Das liegt daran, dass Männer nicht zuhören und hinsehen können“, antwortet die Piratin. „Sie sehen die Zeichen nicht. Wenn das Unwetter kommt, sind sie überrascht und geben allen anderen die Schuld.“
Du musst lachen. „In der Tat – soeben wurden alle meine Fragen bezüglich den Missständen der Welt gelöst!“
Die Piratin lächelt zurück. Sie hat ein wildes, kämpferisches Lächeln, das gut zu der See vor dir passt – unberechenbar, es sei denn, man passt auf und lernt, die Zeichen zu lesen.
Die Piratin reicht dir die Hand. „Karja Sturmvogel.“
„Brenna Sundergeer“, stellst du dich vor und schüttelst Karjas Hand. „Und meine Begleiter sind Allyster der Sehende und Aji.“
Letzterer tritt soeben zu euch. Aji grinst schief, wirft einen Blick zum entschwindenen Festland, und streift die Kapuze zurück. Karja hebt überrascht die Augenbrauen, dann lächelt sie und akzeptiert damit eure Geste des Vertrauens.
„Gut. Dann kommt mal mit, ich zeige euch, wo ihr schlafen werdet!“
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Zunächst müsst ihr allerdings Allyster auftreiben, der mit einem blassen Schimmer um die Nase vor einem Bullauge hockt. Selbst ein derartiges ruhiges Meer überfordert den Magen des großen Zauberers. Er folgt euch mit etwas unsicheren Schritten auf eurer Führung.
Eure Zimmer befinden sich im großräumigen Bauch des Schiffes. Es gibt Lager, wo Munition, Vorräte oder Beute verstaut werden, sowie mehrere Zimmer für die Mannschaft. Obwohl es einen Frauen- und einen Männerschlafsaal gibt, erhaltet ihr drei eine größere Kabine für euch allein. Die Privatsphäre wird durch einen mahagonifarbenen Raumteiler gesichert, der Raum ist in honiggoldenen Farben gehalten: helles Holz, weiche Orange- und Gelbtöne, zurückhaltende braune Akzente.
Sprachlos seht ihr euch in dem Raum um, der sogar mit einem großen, viereckigen Fenster ausgestattet ist, durch das die Wellen draußen zu sehen sind.
„Wunderschön!“, sagst du schließlich ehrfurchtsvoll.
„Glaubt ja nicht, dass dieser Luxus umsonst ist!“, ruft euch Karja in Erinnerung. „Ihr werdet mit eurer Arbeitskraft bezahlen. Deck schrubben sollte euch nicht überfordern, was? Brenna, du siehst kräftig genug aus, um auch beim Segel hissen auszuhelfen. Allyster, Ihr könntet mir viel helfen, wenn Ihr mir beim Verfassen von Briefen oder bei Fragen der Mathematik zur Hand geht. Wir machen reichlich Beute, doch beim Aufteilen kommt es immer wieder zum Streit. Wo ich gerade von Beute spreche: Falls wir ein anderes Schiff angreifen, erwarte ich nicht, dass ihr an unserer Seite kämpft – immerhin seid ihr unsere Gäste. Doch wenn ihr unseren Feind unterstützt oder meine Besatzung aufhalten wollt, werde ich das nicht dulden.“ Karjas Tonfall ist streng, doch gleich darauf lächelt sie wieder. „Wobei es euch natürlich nicht schaden kann, im Kampf etwas auszuhelfen! Ihr wirkt nicht überrascht, dass ich das anspreche.“
Allyster seufzt leise. „Ich hatte schon damit gerechnet, immerhin habe ich die Fahne gesehen. Wir sind alle drei im Kampf erfahren, doch wir sind Söldner – normalerweise kämpfen wir, weil wir dafür bezahlt werden, und bezahlen nicht in unserer Kampfkraft. Außerdem zögere ich, mich in die Politik der Mondsee einzumischen – Ich kann nicht versprechen, dass wir kämpfen würden, doch es ist wohl nur gerecht, wenn wir uns nicht in eure … Geschäfte einmischen.“
Karja scheint mit dieser Antwort zufrieden und lässt euch allein. So beginnt ihr, eure Habseligkeiten zu verräumen. Ein weiteres Mal überprüfst du deinen Verband. Deine Wunde heilt ausgezeichnet, nicht zuletzt dank Allysters Heilwissen.
Aji ist schnell fertig und beginnt, auf dem Bett auf und ab zu hüpfen. Allyster dagegen scheint noch Jahre zu brauchen, um seine Schriftrollen und Pergamente zu seiner Zufriedenheit in den Schränken unterzubringen, also verlässt die die Kabine schließlich gelangweilt und gehst wieder nach oben auf das sonnenüberflutete Deck.
Das schöne Wetter kannst du nicht genießen. Es dauert nicht lange und man drückt dir einen Schrubber und einen Eimer in die Hand, weist dir einen Platz auf dem Deck zu und lässt dich mit der Abbezahlung deiner Schulden beginnen.
Die Seifenlauge brennt an den Händen und die kniende Haltung tut deinem Rücken nicht gut, aber du merkst, dass du es vermisst hast, dich körperlich zu betätigen. Seit deiner Verletzung im Dunkelwald musstest du dich schonen, da tut es gut, wieder mit brennenden Muskeln gegen einen Feind zu kämpfen, auch wenn dieser Feind aus winzigen Schmutzrückständen in den Holzritzen besteht.
Später stößt auch Allyster zu dir. Aji ist, wie von Karja versprochen, von dieser Pflicht befreit, also sitzt der Junge einen Steinwurf von euch entfernt auf der Reling und amüsiert sich über seinen ächzenden Mentor. Schließlich schickt der griesgrämige Magier Aji los, um seine Lesefähigkeiten zu verbessernd.
Schon seit Jahren unterrichtet Allyster Aji auf euren Reisen, doch heute brummt er dem armen Jungen so viele Aufgaben auf, dass der während eurer gesamten Überfahrt genug zu tun haben wird.
Als es Abend wird, bist du zwar müde und zerschlagen, aber glücklich. Aus der Kombüse weht euch der Geruch nach frischem Eintopf entgegen. Wie alle anderen Matrosen brecht also auch ihr auf, um euch einen Teller warmes Abendessen abzuholen.
Allyster bittet mit gedämpfter Stimme um eine halbe Portion für sich. Bisher hat er sich allerdings recht gut geschlagen. Die ersten Tage einer Schiffsreise sind für ihn die pure Hölle.
Während ihr alle an Deck steht oder sitzt – einen Essraum gibt es an Bord nicht – befindet ihr euch bereits mit mehreren Seeleuten und Piraten im Gespräch. Alle sind recht freundlich, doch manchmal spürst du das Misstrauen, das euch als Fremdlingen entgegen gebracht wird. Du merkst deutlich, dass die Piraten und Piratinnen gewisse Dinge vor euch verschweigen oder euch allzu neugierig nach eurem Weg hierher ausfragen.
Schließlich gesellt sich auch Karja zu euch, ebenfalls mit einer Schüssel dampfenden Eintopfs in der Hand. Sie stellt sich zu eurer Gruppe und grinst als erstes Aji an. „Nun, wie gefällt dir die Seefahrt, junger Mann?“
„Es ist toll!“, berichtet Aji mit glänzenden Augen. „Ich habe ein richtiges Federbett! Ich wünschte nur, ich könnte mehr Zeit an der Luft verbringen – ich liebe es, den Wellen zuzusehen. Leider muss ich lernen.“ Hier wirft er Allyster einen finsteren, unversöhnlichen Blick zu.
Karja nimmt schlürfend einen Schluck von der Flüssigkeit des Eintopfs und meint dann mit schelmischem Unterton: „Seltsam, dabei habe ich dich heute noch an Deck gesehen. Allerdings wirkte es fast so, als würdest du deinem armen Lehrmeister auf die Nerven gehen, während der für deine Überfahrt schuftet!“
Gutmütiges Lachen kommt von den Piraten um dich herum und für einen Moment fühlst du dich, als wärst du Teil einer großen, warmherzigen Familie. Aji guckt beschämt auf den Boden und erntet nur noch mehr Lacher.
Doch Karja wird plötzlich still und bedenkt euch mit einem wachsamen Blick. Die Piraten verstummen. Du spürst, wie sie auf die weiteren Entwicklungen lauern.
„Nun … es würde mich sehr interessieren, was einen Magier, seinen Lehrling und eine Kriegerin in die Mondsee führt. Ihr seid Söldner, habt ihr gesagt – doch es gibt hier keinen Konflikt, in dem eure Waffen gefragt wären. Also, was wollt ihr hier?“
Du wechselst einen Blick mit Allyster, doch aus irgendeinem Grund befindest du dich allein im Zentrum der Aufmerksamkeit, vielleicht, weil Karja dir direkt in die Augen sieht.
Du bist dir nicht sicher, was du tun sollst. Kannst du es wagen, Karja die Wahrheit anzuvertrauen? Dass ihr den Schöpferstein der Piraten stehlen wollt, wo Karja doch selbst eine Piratin ist?
Oder solltest du versuchen, dir eine Lüge auszudenken? Dir behagt der Gedanke nicht, Karjas Freundlichkeit mit einer Lüge zu vergelten, doch ihr befindet euch in einer heiklen Lage, die du nicht einschätzen kannst.
Du entscheidest dich …
- … für die Wahrheit. Lies weiter bei Kapitel 9.
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- … für eine Lüge. Lies weiter bei Kapitel 10.