Nach einer Weile fallen mir dann doch Unterschiede zu „meinem“ Wald auf. Hier gibt es zum Beispiel deutlich mehr Disteln und fiese, im Laub verborgene Steinchen, dafür aber auffällig wenige vermeintlich tödliche Lehmklippen. Auch gibt es hier mehr größere Tiere, Kaninchen, Waschbären, Marder und Wildkatzen und die ganze Polonaise. Ich stoße sogar auf die Duftspur von Wildschweinen und Damwild.
Leider ist das hier nicht die Wikiothek. Um wenigstens einen Überblick über meine Umgebung zu bekommen, halte ich mich an den Weg mit der größten Steigung, bis ich auf der Kuppe eines kleinen Hügels ankomme. Aber, und das ist natürlich mein Denkfehler, der Hügel ist dicht bewachsen und mir bietet sich nicht die erhoffte Aussicht.
Dafür wittere ich eine neue Duftspur.
Diese riecht äußerst verheißungsvoll, nach Kaninchen, Truthahn oder Rehbock. Genau lässt sich das nicht sagen, die drei Fährten haben sich miteinander vermischt, aber inzwischen bin ich hungrig genug, um meine Mission mal Mission sein zu lassen.
Mit der Schnauze dicht am Boden folge ich der Duftspur und warte darauf, dass sich der Truthahn vom Rest der Gruppe trennt. Oder soll ich doch lieber den Rehbock nehmen? Truthähne bestehen eigentlich nur aus Federn, die zwischen den Zähnen hängen bleiben. Doch Rehböcke haben gemeine, spitze Hörner. Am besten, ich nehme das Kaninchen. Auch, wenn sich dann eine ermüdende Hakenjagd anschließt, da wird man ja von dem Gedanken schon müde!
Die Spur wird währenddessen immer frischer und frischer, bis sie mich in die Nähe eines kleinen Sees führt. Dort entdecke ich ein kleines, braunes Wesen, das soeben am Teichrand etwas trinkt.
Tja, das ist nicht ganz das, was ich erwartet habe. Weder Reh noch Truthahn noch Karnickel, sondern alles drei auf einmal!
Das Wesen hat den Körper eines Hasen, jedoch mit vorstehenden Reißzähnen, gefleckten Flügeln und einem eindrucksvollen, verzweigten Geweih, das nicht zu einem Rehbock passt, sondern eher aussieht, als hätte man es einem Miniatur-Rotwild gestohlen. Ihr wisst schon, diese großen Viecher, die man gerne auch als Zwölfender bezeichnet. Rehböcke haben, wenn's hochkommt, drei Spitzen.
Das Wesen scheint mich zu wittern und hebt den Kopf, nur um knurrend herumzufahren. Verdammt, angriffslustig ist es auch. Ich gebe meine Kauerstellung auf und schaue es verdutzt an.
„Ein Wolf? Ich dachte, ihr seid ausgestorben!“, sagt das komische Wesen.
„Öhm“, sage ich.
„Also, jedenfalls in diesem Land. Obwohl, klar, es wurden schon wieder einige jenseits der Grenze gesehen. War ja klar, dass früher oder später einer auftaucht.“
„Ähm.“
„Meiner Meinung nach könnt ihr alle zurück nach Russland oder wo auch immer ihr herkommt!“
„Ehh.“ Mir gehen langsam die Verwirrungslaute aus. „Was bist du?“
„Hm?“ Das scheint den Freak zu überraschen. „Warte mal, du bist nicht von hier, richtig? Also, so richtig nicht von hier.“
„Kann schon sein“, erwidere ich verwirrt. Normalerweise wissen die Bewohner einer Welt nichts über die anderen Welten.
Jetzt kommt das Wesen näher gehoppelt und schnuppert an mir. Seine Knopfaugen hellen sich plötzlich auf. „Du bist ein Schimmerweltwolf! Ha!“
„Ich glaube, alle Wölfe sind Schimmerweltwölfe“, stammele ich.
„Nein, nein, nicht hier. Schimmerweltwölfe nennen wir nur die Wölfe, die auch durch die Schimmerwelt reisen und auf die Sternwiesen gehen“, plappert das komische Tier. Mir fällt auf, dass es Schwimmhäute zwischen den Krallen hat.
„Und alle anderen Wölfen?“, frage ich neugierig.
„Das sind dann wohl normale Wölfe. Die kommen nie hier raus.“ Das Wesen umkreist mich ohne jede Scheu. „Dafür kennen sie sich mit Fabelwesen aus.“
„Bist du ein Schnabeltier?“
„Hab ich vielleicht 'nen Schnabel?“, faucht das falsche Schnabeltier zurück. „Ich bin natürlich ein Wolpertinger.“
„Oh, klar!“ Jetzt fällt es mir wieder ein. „Moment, wart ihr nicht nur ein Mythos, den Menschen erfunden haben, weil ihnen die Welt sonst zu langweilig war?“
„Pah, anderswo vielleicht. Hier sind wir real“, meint der Wolpertinger. „Und die Schnabeltiere erwähnst du den anderen Wolpertingern gegenüber besser nicht mehr. Wir sind schlecht auf sie zu sprechen, seit sie in die echte Welt ausgewandert sind.“
„So ist das mit Familie: Sie ist toll, solange man sie nicht hat“, meine ich mitfühlend.
„Kennst dich damit aus, wie?“
„Ja, kann man so sagen.“
„Haste die Narben von denen? Die sehen fies aus.“ Er betrachtet meinen Rücken.
„Oh, nein, die Narben hab ich von einem anderen … Tier.“
Der Wolpertinger starrt mich einen Moment an. Es herrscht unangenehmes Schweigen.
„Du erzählst wohl nicht viel von dir.“
„Woran merkst du das bloß?“
„Okay, Mister Neunmalklug. Was treibt ein Schimmerweltwolf hier? Hast du deinen Sternenpfad verloren?“
„Sozusagen. Ich bin auf der Suche nach der Wikiothek und hab mich verlaufen“, gestehe ich.
„Da hab ich gute Neuigkeiten! Ich weiß, wo die Wikibibliothekia liegt.“ Der Wolpertinger grinst breit und offenbart dabei spitze Zähne. „Nur so ungefähr tausend Kilometer entfernt. In Griechenland.“
„Griechenland?“, wiederhole ich. „Was ist das für ein einfallsloser Name?“
„Wir sind hier keine Fantasiewelt, wir sind die Märchenwelt“, knurrt der Wolpertinger. „Ein Echo der realen Welt, nur, dass hier neben Menschen auch die Fabelwesen leben.“
„Oh.“ Ich meine, das war mir bereits klar gewesen. Das hier ist die sogenannte Echowelt, in die sich die Fabelwesen und schließlich auch wir Wölfe zurückgezogen haben, als es in der echten Welt neben der Menschheit zu eng wurde. Griechenland ist trotzdem ein fantasieloser Name!
„Könnte eine sehr lange Reise für dich werden.“ Der Wolpertinger macht Anstalten, davon zu hoppeln.
„Warte, bitte!“, rufe ich ihm nach. „Wie komme ich zur Wikiothek?“
„Das will ich dir ja gerade zeigen, kommst du wohl endlich?“, knurrt der Wolpertinger über eine Schulter.
*
Mein neuer Freund – der sich als Capracandor vorstellt – führt mich in dichtes Unterholz, wo mich die grünbelaubten Zweige bald wie eine Höhle umgeben. Ich krieche immer näher am Boden. „Ist es noch weit?“
„Wir sind da.“ Der Wolpertinger huscht um eine Biegung im Gewächstunnel und verschwindet kurzzeitig aus meinem Sichtfeld. Als ich ihm hinterher krabbele, erhellt goldenes Licht mein Gesicht.
Capracandor steht in einer geräumigen Höhle aus grünen Zweigen, in deren Mitte ein eindrucksvolles, goldenes Feuer mitten in der Luft schwebt. Es gibt kein Holz oder anderes Brennmaterial. Neugierig sehe ich mir die Flamme aus sicherer Entfernung an.
„Wen hast du denn jetzt schon wieder mitgebracht?“, stöhnt eine körperlose, weibliche Stimme.
„Das ist …“, Capracandor sieht mich fragend an.
„Marvin“, komme ich ihm zu Hilfe.
„Das ist Marvin. Er sucht die Wikibibliothekia und hat sich verirrt.“ Capracandor beugt sich zu dem Feuer vor und flüstert so laut, dass ich es deutlich verstehe: „Ein Schimmerweltwolf!“
„Nein!“ Das Leuchten schießt plötzlich auf mich zu und umkreist mich. Die Stimme kommt aus dem hellen Licht, wie ich nun erkenne. „Da hat er dir einen Bären aufgebunden, er ist doch nur ein gewöhnlicher Grauwolf!“
„Ich kann überhaupt nicht binden.“ Zum Beweis hebe ich eine Pfote. „Geschweige denn Bären. Aber ich lebe tatsächlich in der Schimmerwelt. Ich habe den Sternwölfen geholfen und dafür durfte ich mit ihnen die echte Welt verlassen.“
„Natürlich!“ Das Licht fliegt zu meiner großen Erleichterung wieder in die Mitte der Höhle. „Marvin, der Grauwolf. Jetzt erinnere ich mich. Ich dachte, du wärst größer. Du sollst ganze Armeen im Alleingang getötet haben!“
„Es war ein Wolf.“
„Einer?“, fragt das Licht verwundert.
„Die Geschichten sind stark übertrieben.“
„Aber … Jupiter vom Blutmondrudel hat dich an Sohnes Statt aufgenommen! Du bist der einzige Kanonik, der mit den Sternwölfen rennen konnte! Du hast Fieberstern besiegt!“
Ich trete nervös auf der Stelle. „Wie gesagt, einen Wolf habe ich getötet. Aber wirklich, das klingt eindrucksvoller, als es wirklich war.“
Oh, Jupiter, denke ich im Stillen. Er war tatsächlich wie ein Vater für mich. (Unter anderem, weil mein echter Vater starb, bevor ich die Augen geöffnet hatte.) Ich vermisse den alten Königswolf noch heute. Doch manchmal, wenn der richtige Mond scheint, kann ich ihn sehen und mit ihm sprechen. Die, die uns lieben, gehen niemals wirklich fort.
„Ly, er sucht die Wikiothek“, ruft Capracandor dem Licht freundlicherweise in Erinnerung.
Ich zucke mit den Ohren. Ein sprechendes Licht namens Ly? Ob das eine entfernte Verwandte von Lyssa ist? Allerdings hat sich meine Fantasie noch nicht gezeigt, und ich weiß gar nicht, ob eine Fantasie Verwandte haben kann.
„Oh, ja, natürlich. Ich würde dir gerne helfen, Marvin, doch das geht leider nicht.“ Das Licht wird etwas dunkler. „Dazu müsste ich dich in die Tausendfarbengrotte bringen, aber die Menschen haben sie in ihren Besitz gebracht.“
„Ich dachte“, wieder einmal flüstert Capracandor so laut, dass ich jedes Wort verstehe, „dass er uns vielleicht helfen könnte, so als Schimmerweltwolf und Kriegsheld.“
„Ich glaube, ihr überschätzt mich“, werfe ich ein. Ein guter Ruf hat, wie ich feststellen durfte, eigentlich nur Nachteile. Besonders, wenn der Ruf so viel lauter ist als man selbst.
Ly flackert jedoch hoffnungsvoll auf. „Wenn du die Menschen tötest, kann ich dir den Weg zur Wikibibliothekia weisen! Dann bist du in Nullkommanichts in Griechenland!“
„Ist die Grotte etwa ein Portal?“ Ich spitze nun doch die Ohren.
„Oh, ja, genau!“, bellt Capracandor. „Ein magisches Tor zur Wikiothek.“
„Du musst nur die Menschen beseitigen“, fügt Ly hinzu.