https://www.deviantart.com/ifritnox/art/737137863
Die Drachen waren fort. Der Kampf gewonnen.
Die Cereceri trotteten den Kindern der Sonne in einer langgezogenen Reihe voraus, vor ihnen lag, noch in weiter Ferne, die Verhandlung in der Tigerpfote.
Als es Abend wurde, hielten sie an. Jafis fand eine Stelle, wo sie alle geschützt vor Wind und Regen schlafen konnten.
Iljan fühlte sich in einen Traum versetzt. Der Gedanke, dass er gestorben war und dies sein Jenseits, kam ihm nicht unwahrscheinlich vor. Während der ganzen Reise starrte er Cary wieder und wieder an, und sie blickte zurück. Sie wechselten kein Wort. Alles, ihr Aufbruch von Quyhst bis zu dem Aufschlagen des Nachtlagers, war wie eine fremde Welt, die Iljan nicht berührte.
Als sie rasteten, stand Cary auf und ging in den Wald. Es war wie ein Traum – Iljan folgte ihr.
Caryellê saß am steinernen Becken eines kleinen, kiesgefüllten Teichs. Sie sah Iljan nicht an, als er vorsichtig zu ihr trat, sondern wusch sich die Haare im klaren Wasser.
Iljan ging zu ihr und wusste nicht, was er tun oder sagen sollte.
»Für einen Moment dachte ich, es wäre alles vorbei«, sagte Cary unvermittelt. Sie wrang ihre langen Haare aus und beobachtete die Tropfen, die in den Teich fielen. Iljan ließ den Blick über ihren langen Hals, den geraden Rücken, die schlanken Arme wandern. Silbern schimmerte das Mondlicht auf ihrer Haut.
»Wie hast du überlebt?«, fragte er.
»Mit viel Glück«, Cary schloss einen Moment die Augen und Iljan war bezaubert von einer kleinen Wasserperle, die in ihren langen Wimpern hing. Carys Duft schien den ganzen Wald zu durchdringen, süßlich, wild und verführerisch. »Ich bin auf eine Palme gefallen, und von da aus auf eine kleinere Palme. Die Blätter haben meinen Sturz ausgebremst.«
»Für einen Moment … als du fielst … für diesen einen Moment … das war ein langer Moment«, Iljan fand keine Worte für seine Gefühle. »Ich hatte auf einmal … so viel im Kopf.«
»So viele ungesagte Worte«, sagte Cary und endlich sah sie ihn an. Ihre dunklen Augen schimmerten. »Und so viel Reue, die ich nicht mitnehmen wollte in den Tod.«
Sie stand auf und war mit wenigen Schritten bei Iljan. Dann zögerte sie plötzlich, prallte förmlich zurück und zitterte.
Iljan konnte sich nicht rühren, paralysiert wie eine Maus vor der Schlange.
Cary streckte eine Hand aus und dann strichen ihre Finger über seine Wange, warm und elektrisierend. Er sah ihr direkt in die Augen, nahm jedes noch so kleine Detail ihrer Iris auf, jede kleine Unregelmäßigkeit. Carys Augen waren wie Edelsteine, hart und kalt, doch so wunderschön.
Zaghaft berührte er ihren weißen Hals und ließ die Finger nach hinten gleiten, in ihre Haare hinein.
Im nächsten Moment berührten sich ihre Lippen wie Naturgewalten, die durch nichts mehr aufzuhalten waren. Ihre Körper prallten wie Wogen aufeinander, wie zwei Ertrinkende klammerten Cary und Iljan sich aneinander.
Oh, der Kuss war so süß wie Carys Duft.
Iljan schloss die Augen und glaubte, dass er weinen oder sterben müsste. Carys weiche Lippen, ihre Wärme, ihr Geruch waren zu überwältigend.
Keuchend trennten sich ihre Münder, Cary schlug die Augen auf und Iljan konnte sie nur gebannt ansehen. Seine Hände ruhten an ihrer Taille, ihre Hände auf seinen Schultern. Ein Windzug ließ Carys Haare tanzen, sie strichen über Iljans Arm.
»Ich will nie wieder etwas bereuen, dass ich nicht getan habe«, flüsterte Cary und ihre Finger glitten zu den obersten Knöpfen von Iljans Jacke.
Er zog sie an sich und küsste sie, schmeckte sie, süß wie Honig und wild wie das Feuer.
Ihre Brust bebte an seiner.
Hoch am Himmel zog der Vollmond seine Bahn.
Die Cereceri hatten sich, in ihrer Tiergestalt, ein wenig vom Lager abgesondert. Iska schlief im Stehen, zwischen ihren langen Beinen lag Jafis, daneben Relabai und auf dessen Rücken Korba in Fuchsform.
Als er an ihnen vorbei ging, hob Jafis den Kopf und ihre gelben Augen leuchteten. Merkanto blieb stehen und nun hob auch Relabai den Löwenkopf. Entgegen seiner Vermutung schliefen die Formwandler nicht, sondern hielten Wache.
»Wohin gehst du?«, fragte Jafis misstrauisch. Sie hatte menschliche Gestalt angenommen.
»Ich konnte nicht schlafen«, Merkanto ging herüber zu den Cereceri. »Ich wollte eigentlich einen Ort suchen, von wo aus man den Himmel betrachten kann. Ich habe früher mal Astrologie studiert.«
»Bleib bei der Gruppe«, grollte Relabai, nun ebenfalls in Menschenform. Den noch immer schlafenden Korba legte er vorsichtig neben sich ab.
Merkanto setzte sich zu den Cereceri. »Sind wir eure Gefangenen?«
»Wir sind eure Begleiter«, antwortete Relabai. »Und wir sollen sicherstellen, dass ihr zur Tigerpfote gelangt, ohne Kontakt zu möglichen Verbündeten aufzunehmen. Es ist nichts persönliches, Merkanto. Aber ich kenne deinen Namen.«
Merkanto lächelte freudlos. »Jeder, der etwas mit dem Krieg zu tun hat, kennt meinen Namen. Das wird mich die vergangenen Sünden nie vergessen lassen. Ich werde wohl niemals wirklich Frieden finden.«
»Etwas in der Art hatte ich gehofft, während ich in deinem Namen gefoltert wurde«, Relabai bleckte die Zähne, selbst in seinem menschlichen Gesicht eine eindrucksvolle Geste.
»Das tut mir leid«, seufzte Merkanto. »Ich bin froh, dass du entkommen konntest. Wirklich.«
»Ansonsten wäre dieses Gespräch noch unangenehmer«, meinte Relabai und dann lachte er rau. »Hätte nicht gedacht, dass der Taktiker der dunklen Seite so höflich sein kann! Oder ist das auch nur eine List von dir?«
»Ich gebe mir alle Mühe«, meinte Merkanto nach einer Weile. »Ich will die Vergangenheit hinter mir lassen, wir alle wollen das. Ich für meinen Teil plane, mein Wissen in den Dienst der hellen Seite zu stellen, um vielleicht etwas von dem Unrecht wieder gut zu machen, das ich begangen habe oder das in meinem Namen begangen wurde. Da wäre es eine unkluge Taktik, jedes Lebewesen zu verärgern, dem ich begegne.«
Relabai lachte wieder, leise und rau. »Ich wusste es doch! Es ist alles nur eine Maske, die du trägst!«
»Nein!«, entfuhr es Merkanto und Relabai lachte noch heftiger, bis Jafis gereizt zischte.
»Komm, Zauberer«, sagte Relabai und stand auf. »Bevor wir noch alle aufwecken, zeige ich dir einen Platz, von dem aus man alle Sterne sehen kann!«
Überrascht, verwirrt und ein wenig beunruhigt folgte Merkanto dem Mantikor-Cereceri fort von ihrem Lager. Als er zurück sah, sah er Jafis' Augen glühen, ehe die Parderin den Blick abwandte.
Entgegen von Merkantos leisen Befürchtungen brachte Relabai ihn nicht in einen stillen Winkel, um ihn zu zerfleischen. Stattdessen kletterte der Mann für seine Statur erstaunlich geschickt einen Baum hinauf und Merkanto folgte ihm, höher und höher, auf immer dünneren, immer waagerechteren Ästen, bis er schließlich den Kopf durch eine Blätterdecke hob und sich auf der breiten Krone des Baumes hoch über dem Rest des Dschungels wiederfand.
Und über ihm leuchteten die Sterne.
Die Äste in der Krone standen dicht zusammen und bildeten ein flaches, breites Nest, in dem man sich bequem auf das Laub betten konnte.
Eine Weile starrte Merkanto nur in den Himmel, wo die Sterne klar und leuchtend funkelten, durchzogen von Nebeln und Wolkenstreifen.
»So. Was sagen dir die Sterne?«, fragte Relabai schließlich.
»Es ist seltsam«, Merkanto wies zu den Lichtern. »Es heißt, die Sterne im Sonnenland seien ganz anders. In meinen Büchern war von fremden Sternzeichen die Rede, wie wir sie nicht kennen. Und doch sind es genau die gleichen Sterne. Da vorne steht die Guillotine, da hinten der Feuerdrache und da tanzt die geköpfte Jungfrau!«
»Du täuscht dich. Das ist die Orchidee«, sagte Relabai. »Und das, was du Guillotine nennst, ist das Himmelstor. Du erkennst den Rahmen und die offene Tür darin, der kleine Stern dort ist der Griff.«
Merkanto riss die Augen auf. Denn nun konnte er es ebenfalls sehen.
Er drehte den Kopf ein wenig. »Faszinierend.«
»Es kommt immer auf den Blickwinkel an«, Relabai kniff die Augen zusammen. »Wo genau ist der Feuerdrache? Ich sehe den Puck und das Wasserrad dort, aber ich kann beim besten Willen keinen Drachen erkennen!«
»Es ist ein Schattenland-Drache, er starrt dich direkt an. Dieser Haufen von Sternen dort ist das Feuer, das er speit«, Merkanto deutete in den Himmel. »Da, wo gerade die Wolke vorbei zieht, ist der Buckel.«
»Ach, das Wasserrad und der Puck zusammen bilden den Drachen!«, erkannte Relabai. »Das Feuer ist bei uns das Haar des Puck!«
»Ich glaube, ich sehe es jetzt.«
Einen Moment schwiegen sie.
»Ich danke dir, Ungezähmter«, sagte Merkanto nach einer Weile.
Relabai grinste. »Eigentlich müsste ich dir danken – Ich verdanke dir diesen Ehrentitel und meinen Status als Kriegsheld.«
»Ein trauriger Status, jedenfalls in meinem Land«, murmelte Merkanto.
»Eine bittere Ehre, da hast du Recht«, nickte Relabai.
Sie sahen in den Himmel und wunderten sich im Stillen darüber, welche Wege das Schicksal einschlagen konnte.
Sie lagen im taufeuchten Gras, über ihnen rauschten die Blätter im Wind, würzige und exotische Gerüche füllten die Luft.
Das Mondlicht schimmerte auf Iljans bleicher Haut. Cary fuhr mit dem Finger die Linien seiner Muskeln nach. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, die angenehm kühl war.
Es war ein friedlicher Moment, in dem ihre Sinne erweitert waren – nicht unbedingt geschärft, sondern auf eine Art offen für Eindrücke, die sie vorher kaum wahrgenommen hatte: Das Kitzeln des Grases. Die fernen Rufe einer Eule. Der warme Wind, das Plätschern des Baches und Iljans schwacher Eigenduft.
Seine Brust hob und senkte sich mit langsamen Atemzügen und seine Finger rannen durch ihr Haar. Es war ein perfekter Moment.
»Ich bin froh, dass ich dich wieder habe«, murmelte der Vampir schläfrig.
Cary rückte noch ein wenig näher an ihn, obwohl da eigentlich kein Platz mehr zwischen ihnen war. Iljans Finger rieselten sanft über ihre Schulter und ihren Arm.
»Und ich bin froh, dass ich zurückkommen konnte«, sagte Cary mit geschlossenen Augen. Sie wurde schläfrig.
»Caryellê Assadar«, sagte Iljan und richtete sich plötzlich auf die Ellbogen auf. Cary war gezwungen, ihre bequeme Position aufzugeben und ihn anzusehen.
»Kennst du eigentlich keine Furcht?«, fragte Iljan vorwurfsvoll. »Wie kannst du einen Drachen verletzen, während er dich viele Meilen über dem Boden trägt?«
Sie grinste verschmitzt. »Mit einem spitzen Stock und viel Kraft im Wurfarm natürlich.«
Iljan schüttelte entgeistert den Kopf. »Ehrlich, Cary. Tu so etwas nie wieder.«
»Ich kann nicht sagen, dass das mein Plan gewesen wäre.«
»Versprich es mir.«
Sie legte den Kopf schief. »Also gut, Iljan. Ich verspreche es dir. Ich werde mich nicht mehr von einem fliegenden Drachen aus in die Tiefe stürzen.«
»Nicht nur das. Versprich mit, dass du in Zukunft vorsichtiger bist, Cary. Dass du nicht so leichtfertig mit deinem Leben umgehst.«
»Es ist immer noch mein Leben!«, entgegnete Cary.
»Aber es ist nicht nur dein Leben, das zerbricht, wenn du stirbst«, sagte Iljan und diese speziellen Worte jagten Cary einen Schauer über den Rücken. Obwohl sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, war sie bis ins Mark getroffen. »Du bist mir wichtig, Cary. Und du bist vielen anderen auch wichtig. Bitte, triff nie wieder eine solche Entscheidung.«
»Ich versprechs dir, Iljan«, sagte sie.
»Danke«, er ließ sich zurück ins Gras fallen und nach einer Weile kuschelte sich Cary wieder an ihn, ihr Kopf auf seiner Brust, ihr Bein auf seinem Bein. Iljan legte wie zuvor den Arm um sie. Hielt sie fest, aber nicht einengend.
Cary schloss die Augen.
»Iljan?«
»Hmm?«
»Kannst du mir … nochmal deinen vollen Namen nennen?«
»Was?«
»Tus einfach!«
»Iljan Raphaele Anarcén Deacon Taidoni.«
Cary kicherte leise. »Oh, Mann!«
»Ich weiß«, sagte Iljan. »Es ist so eine Tradition. Iljan ist mein Geburtsname – den hat mir meine Mutter gegeben – aber Vater sammelte im Laufe meines Lebens immer mehr Namen dazu. Als Erinnerung an besondere Anlässe oder einfach, weil sie ihm gefallen.«
»Raphaele ist sehr schön«, sagte Cary. »Es gab einmal einen mächtigen Engel auf unserer Seite, der hieß Raphael.«
»Ich weiß. Vater war mit dafür verantwortlich, dass er starb. Danach gab er mir den Namen.«
»Oh«, Cary richtete sich auf. »Eigentlich wollte ich dir einen Kosenamen verpassen, aber wir sollten vielleicht das Thema wechseln, was?«
Iljan verzog das Gesicht – Cary musterte die Grübchen, die sich dabei in seinen Wangen bildeten: »Wahrscheinlich. Tut mir leid, aber mit netten Namen kann ich wirklich nicht dienen.«
»Außer Iljan«, sagte Cary.
»Außer Iljan – das ist der einzige Name, der mich nicht an meinen Vater erinnert.«
Cary legte sich wieder hin.
»Iljuscha. Iljuschenjka. Illi. Lian«, sie kicherte schläfrig.
»Hör auf.«
»Niemals!«