https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430907
»Seid ihr so weit?«, rief Terziel halblaut zu ihnen herunter.
Merkanto ließ den Blick über die Kinder der Sonne schweifen. Entgegen ihrer sonstigen Art waren alle sieben in einer Reihe angetreten und sie wirkten tatsächlich bereit.
Der Magier nickte zu Terziel hinauf. Der Engel hockte wie ein weißer Gargoyle auf dem Grenzzaun, geschickt auf einem spitzen Pfahl balancierend, die Flügel halb geöffnet, sodass der Wind ihn zusätzlich stabilisierte. Die Stelle hatte Abarax gestern ausgekundschaftet, sie lag weitab jeglicher größerer Siedlungen, doch in der Nähe befand sich eine kleine Hütte, wo sie ein Boot oder Schiffchen für die Überfahrt zu finden hofften.
»Los!«, befahl Merkanto und die Gruppe vollführte meisterhaft den vorher ausgearbeiteten Plan. Stella stellte sich seitlich vor die Mauer, vor dem Einhorn kauerte sich Iljan auf den Boden. Abarax, in Gestalt eines schwarzen, schuppenhäutigen Nachtmahrs, sprang von Stellas Rücken hoch und krallte sich mit Händen und Füßen an den oberen Querbalken.
Merkanto deutete auf Najaxis. Der Inkubus, als Leichtester der Gruppe, nahm die improvisierte Treppe zuerst. Er sprang auf Iljans Rücken – der Vampir ächzte leise – hüpfte auf Stellas Widerrist und sprang dann hoch, um sich an Abarax' stacheligen Rücken zu klammern. Gestützt von den ledrigen Flügeln des Nachtmahrs kletterte Najaxis bis auf dessen Schultern, von wo aus er schließlich Terziels ausgestreckte Hand erreichen konnte.
Dann, auf dem höchsten Punkt der Mauer, erstarrte Najaxis.
»Springen?!«, quiekte er auf ein ermutigendes Wort von Terziel hin. »Ich springe doch nicht da runter! Ich breche mit sämtliche Knochen!«
»Dir kann nichts geschehen«, nun war die Stimme des Engels auch hier unten zu vernehmen. »Es ist nicht so tief, wie es aussieht.«
»Naja, verdammt, du hältst alle auf!«, rief Iljan aus seiner knienden Position.
»Spring!«, brüllte Gudrun, worauf mehrere andere ihr mit hastigen »Pscht!«s bedeuteten, still zu sein.
Najaxis war ein zitterndes Häufchen Elend auf der gezackten Linie der Mauer. Merkanto hatte seine hohe Meinung von der Gruppe inzwischen revidiert und verspürte ein unangenehmes Pochen in den Schläfen.
Das Schlimmste war, er konnte Najaxis nicht einmal wirklich böse sein. Die Höhenangst des Inkubus war wahrlich groß, trotzdem versuchte er wieder und wieder, den Mut für den Sprung nach unten zusammen zu nehmen. Der frühe Morgen verstrich.
Eine plötzliche Bewegung, wie der Sturzflug eines Vogels, über dem Zaun, dann ertönte ein schriller Schrei von Najaxis und der Inkubus verschwand auf der anderen Seite.
Terziel fuhr herum, Wut deutlich in sein Gesicht geschrieben: »Gudrun!«
Die Hexe klopfte sich die Hände ab und schloss ihren Trankbeutel, um ihn sich über die Schulter zu werfen. »Kann weiter gehen!«
Entgeistert ließen die Kinder der Sonne sie gewähren, als sie über die Leiter kletterte und ohne viel Federlesen auf der anderen Seite herunter sprang.
Danach hatte die Gruppe sich gefangen. Einer nach dem anderen überwanden Cary, Jackie und Merkanto die Barrikade. Drüben stellte sich heraus, dass Najaxis den Sturz überlebt hatte, doch er wollte Gudrun nicht verzeihen, dass sie ihn mit einem Trank abgeworfen hatte.
Stella verwandelte sich von ihrer Nachtmahrform zurück in ihre normale Form. Terziel landete neben ihnen und auch Abarax ließ sich auf den Boden fallen. Der Nachtmahr wuchs in die Höhe zu der Gestalt eines wirbelnden Tornados und hob Stella mühelos hoch.
Seiner Form fehlte die übliche ungezähmte Macht und Stella fühlte sich mehr als unwohl, während sie über den Zaun getragen wurde. Obwohl sie sich alle Mühe gab, still zu halten, konnte sie nicht umhin, nervös mit den Hufen zu wackeln und auf die Spitzen der Pfähle zu schauen. Es half auch nicht unbedingt, dass sowohl Iljan als auch Terziel zu ihren Seiten flogen, Iljan in Gestalt eines grauen Mensch-Fledermaus-Hybriden. Sie schnaubte erleichtert, als sie auf der anderen Seite ins Gras gesetzt wurde.
Sie hatten die Grenze überwunden.
Die anderen schenkten der geglückten Aktion keine Beachtung. Ihre Blicke waren von der Mauer abgewandt und als Stella den Blicken folgte, stockte auch ihr der Atem.
Das Meer lag vor ihnen. Was für ein herrlicher Anblick, besonders jetzt, da die Sonnenstrahlen des frühen Vormittags schräg durch die letzten Nebelbänke stachen und das Meer so still dalag wie ein goldener Spiegel. Der Wind roch nach Seetang und Salz und die Möwen sangen ein klagendes Lied über den Klippen am Ufer.
Zwischen Dünengras suchten sie sich ihren Weg hinunter zum Strand, wo eine kleine Holzhütte auf Stelzen stand, halb im Wasser und halb an Land. Eine Schräge führte wie eine Planke nach oben auf eine ringförmige Veranda, die das ganze Haus umlief und auf dem meerseitigen Ende als Steg ins Wasser ragte. Ein Schiff lag vertäut am Steg, kein Fischerboot, sondern ein richtiges, kleines Segelschiff.
Iljan konnte kaum glauben, dass sie solches Glück haben sollten. Das Schiff würde ihnen allen Platz bieten, sie mussten nur seinen Besitzer überzeugen, es ihnen für eine Weile zu überlassen – oder ihnen sogar zu helfen.
»Ich möchte, dass ihr draußen wartet«, wandte er sich an die Gruppe. »Ich gehe mit Cary und Merkanto rein. Wir wollen verhandeln und den Leuten da drinnen nicht den Schreck ihres Lebens einjagen.«
Die meisten nickten. Cary und Merkanto stellten ihre Bündel ab und kamen zu ihm.
»Lass mich auch mitkommen«, bat Jackie.
Iljan seufzte. »Tut mir leid. Wir sollten nicht zu viele sein.«
Die Nase der Werwölfin zuckte und sie warf einen bösen Blick auf Cary. »So ist das wohl, wie? Du hast mich durch sie ersetzt?«
»Jackie, nein … ich habe dich nicht ersetzt!«
Doch Jackie hatte sich bereits umgedreht und stapfte die Düne wieder herauf. Najaxis warf Iljan einen kurzen Blick zu und humpelte der Rothaarigen dann hinterer – er hatte sich den Knöchel verstaucht, wie er behauptete.
Iljan schloss einen Moment die Augen. Er sollte Jackie vielleicht hinterher laufen, doch ein Teil von ihm – der Vampirteil – fürchtete sich vor einem wütenden Werwolf. Also gesellte er sich zu Cary und Merkanto und gemeinsam stiegen sie die Schräge hinauf. Die Sonne knallte, doch der Wind war angenehm kühl, fast schon kalt.
Merkanto hob die Faust und klopfte gegen das Holz der Tür.
Von drinnen erklang ein lautes Krachen, der alle drei zusammen fahren ließ.
Schusswaffen waren eine Seltenheit im Schattenland wie im Sonnenland, trotzdem erkannte Iljan nach einem Schreckmoment, dass der Knall ein Schuss gewesen war – ohrenbetäubend laut und nah, doch er war gegen die Decke abgefeuert worden. Stroh rieselte um sie her zu Boden.
Doch damit war der Schrecken noch nicht vorbei, denn nun erklang Gebrüll von überall her den Strand hinauf und hinunter. Aus dem weißen Sand erhoben sich plötzlich Männer und Frauen in bunter, zusammengewürfelter Kleidung. Sie schwangen Säbel, lange Messer, kurze Armbrüste und ja, auch Revolver und Flinten. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die friedliche Strandszene in ein ausgewachsenes Gemetzel verwandelt.
»Scheiße!«, rief Cary aus. Sie griff nach ihrem Bogen und stellte fest, dass die Sehne nicht darauf gespannt war. Sie hatte nicht mit einem Angriff gerechnet. Fluchend zückte sie ihr Messer und stürmte nach vorne. Iljan verspürte ein unnatürliches Kribbeln, als Merkanto seine Macht rief.
Er konnte sich immer noch nicht rühren. Für einen Moment beherrschte ihn nur der Gedanke, wie ungerecht es doch war, dass seine Hoffnungen erneut enttäuscht und der Punkt an seine schlimmsten Befürchtungen gehen sollte.
Dann zerrte er den Degen hervor und lief, die Namen seiner Gefährten schreiend, zum Strand zurück.
Er kam nicht weit. Er bemerkte einen Schatten über sich, im nächsten Moment wurde er unter einem schweren Netz aus dicken Tauen begraben, dessen Gewichte schwer auf dem Steg und im Wasser landeten und Iljan flach auf den Holzstieg pressten. Er zappelte und versuchte, sich freizukämpfen, doch sein Degen war zu dünn, um die Taue zu zerschneiden. Schreie erfüllten die Luft, er konnte nicht einmal mehr einzelne Stimmen ausmachen. Er konnte Blut riechen, so viel Blut.
»Meine Güte. Nach so vielen Vorbereitungen ist das doch etwas enttäuschend«, sagte eine Stimme hinter Iljan. Er kannte die Stimme. »Wenn ich im falschen Moment pinkeln gegangen wäre, hätte ich alles verpasst!«
Der Kampflärm war verstummt. Iljan verrenkte sich den Hals, um zu sehen, wie es seinen Freunden ergangen war. »Cary!«, ächzte er unter dem Netz, das ihm den Hals zuschnürte – ein Glück, dass er nicht ersticken konnte! »Merkanto! Jackie!«
Das Geräusch schwerer Stiefel auf dem morschen Holz. Dann kamen zwei weiße Schuhspitzen in Sicht. Iljan drehte den Kopf zurück und konnte den Blick empor wandern lassen: Eine weiße Hose, weiße Gewänder, ein hartes Gesicht umrahmt von blondem Haar.
»Nejakai.«
Sie grinste. Dann trat sie zu. Das letzte, was Iljan für eine ganze Weile sah, war die Sohle ihres Stiefels, der auf sein Gesicht zuraste. Er war nicht schnell genug, um den Kopf zur Seite zu drehen.
Die Welt tanzte auf und ab.
Zuerst verspürte er nur den Schmerz im Kopf, in der Stirn und dort, wo sein Hinterkopf auf den Boden geschlagen war. Iljan blinzelte, doch die Welt wollte noch keinen Sinn ergeben. Sie schwankte wie ein Betrunkener, der aus der Taverne taumelte. Lichtfinger drangen durch Löcher im staubigen Holz, doch selbst sie tanzten. Iljan war noch nie zuvor so schwindelig gewesen.
Er stöhnte und versuchte, sich aufzusetzen, doch seine Beine waren bleischwer. Als er den Blick an sich herunter gleiten ließ, erkannte er, wie viel ironische Wahrheit in seinem Gedanken lag: Seine Beine waren an eine schwere Eisenkugel gekettet. Auch seine Handgelenke waren aneinander gefesselt.
»Guten Morgen, Dornröschen«, sagte eine wohlbekannte Stimme. Iljan drehte sich zurück, immer noch auf dem Bauch liegend und auf die Ellbogen gestützt.
Nejakai saß auf einem einfachen Holzstuhl vor einem Metallgitter. Das Gitter, wie Iljan erkannte, bildete die Wand einer Zelle, in der er sich befand. Zwei Wände waren aus Holz, die eine gerade, die andere merkwürdig gebogen. Er verdrehte sich, um nach hinten zu sehen: Ein weiteres Gitter, dahinter eine zusammengekrümmte Gestalt in einer weiteren Zelle. Viele Zellen in einem großen, von Staub durchfluteten Raum. Die Wände nach außen gebogen.
Iljan richtete den Blick zurück auf Nejakai, die ihn mit einem herzlosen Grinsen musterte. Ihm war nicht schwindelig, die Welt bewegte sich wirklich. Sie befanden sich im Bauch eines Schiffes. Nach dieser Erkenntnis konnte Iljan endlich ermitteln, dass die Schwäche, die er fühlte, nicht von dem angeblichen Schwindel stammte. Er hob den Blick zur Decke, und da, an die Holzbalken genagelt, prangte ein Kreuz aus Eisen.
Nejakai lachte leise, als sie seinen Blick bemerkte. »Ich werde euch nie wieder unterschätzten, Mörder.«
»Was … hast du … vor?«, jedes Wort war unendlich anstrengend. Iljan fühlte sich völlig entkräftet. Und durstig. Ach, so durstig. Wenn er sich nicht in letzter Zeit so zurückgehalten hätte, so hätte er vielleicht noch genug Kraft aufbringen können, um Widerstand zu leisten.
Nejakai stand auf. »Wir führen euch eurer gerechten Strafe zu«, erklärte sie Iljan freimütig. »Natürlich können wir euch nicht zum Weißen Schloss bringen, Gott bewahre – obwohl ich das natürlich den Fischern aufgetischt habe, für den Fall, dass ihr noch mehr kleine Freunde habt, die nach euch suchen.«
Iljan kniff die Augen zusammen. Seine Schicht verschwamm zusehends, eine Nebenwirkung der Schwäche. Seine Finger glitten auf der hoffnungslosen Suche nach Rettung über das Holz, fanden aber nur Splitter.
»Wir bringen euch fort aus diesem Land«, sprach Nejakai weiter. »Ihr werdet in die Grenzlande verbannt, von wo noch niemand zurückgekehrt ist.«
Die Magierin seufzte schwer – als ob sie die Gefangene wäre. »Zu schade. Ich hätte euch gerne alle zusammen dem Tod übergeben, doch dieser Junge hatte es einfach zu eilig mit dem Sterben.«
Wie elektrisiert versteifte sich Iljans Körper und er hob den Blick. Panisch durchsuchte er die Zellen.
Da war Jackie, in Silberketten und zerrissener Kleidung.
Stella, mit einer silbernen Trense, die jede Verwandlung unterbinden sollte.
Merkanto, die Hände zusätzlich mit isolierenden Bleihandschellen gefesselt.
Gudrun, gefesselt und ohne ihren Trankbeutel.
Cary, die Iljans Blick mit traurigen Augen erwiderte.
Terziel, die Flügel fest verschnürt.
Abarax, umgeben von Kräutern, deren Gestank durch den ganzen Raum drang: Baldrian und Kamille und anderes.
Doch einer fehlte.
»Najaxis!«, knurrte Iljan, seine Stimme war rau. »Was hast du mit ihm gemacht, du Hexe?«
Nejakai aber lachte nur, nahm den Stuhl und verließ die Zelle. Sie schlenderte den schmalen Gang entlang, der zwischen den Gittern noch frei blieb.
»Mörderin!«, rief Iljan ihr nach. »Du bist ein Monster!«
Nejakai entschwand über eine Treppe nach oben.
»Najaxis!«, rief Iljan ein letztes Mal, so laut er konnte.
Dann brach er zusammen und da war nur noch Schwärze.