https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430787
Seefahrten waren schon an sich eine Zumutung für den ungeübten Magen. Doch Jackies Übelkeit rührte nicht allein vom Schwanken der Bretter unter ihr, dem unvorhersagbaren Rollen und Stampfen des Schiffes. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Najaxis vor sich.
Das bleiche Gesicht des Inkubus, als der plötzliche Angriff begann. Sein schwaches Lächeln wenige Herzschläge davor, als er versucht hatte, sie zu trösten – ob er diese unbegreifliche Wut verstanden hatte, die sie gegenüber Iljan empfand? Und dann war da der Geruch nach Blut gewesen. Sie alle hatten im Kampf Verletzungen erlitten, doch den Inkubus hatte ein schwerer Schwertstreich in den Rücken erwischt.
Jackie erinnerte sich an die weit aufgerissenen Augen von Najaxis, an sein Gewicht, als sie ihn im Arm gehalten hatte und sein Stammeln – vorher oder nachher? Unverständliche Worte, seine letzte Botschaft, die Jackie einfach nicht verstanden hatte.
Doch am Schlimmsten wog die Erinnerung an ihre Verwirrung. Den Hunger. Den wilden, wölfischen Durst auf Blut. Als ihr Herzschlag in ihren Ohren alle anderen Geräusche übertönt hatte, als der Blutduft, stechend und süß, ihre ganze Welt ausgefüllt hatte. Das dunkle Drängen in ihrer Brust, der Schmerz im Kiefer.
Sie hätte versuchen sollen, Najaxis zu helfen. Stattdessen hatte sie ihren sterbenden Freund fliehen müssen. Im Stillen hegte Jackie Zweifel daran, dass Nejakai wirklich im Unrecht war. Sie konnte nicht leugnen, dass ein Schatten in ihr wohnte, seit sie gebissen worden war. Es musste Verblendung sein, sich trotzdem für zurechnungsfähig zu halten, trotzdem auf eine Heilung zu hoffen.
Tränen liefen ihr über die Wangen. Die Silberketten verhinderten, dass sie sich rühren konnte. Ihr Magen zog sich vor Übelkeit zusammen, dabei hatte sie längst seinen gesamten Inhalt ausgekotzt. Sie wusste, dass sie in einer stinkenden Pfütze ihres eigenen Erbrochenen lag, doch jede Bewegung sandte silbriges Feuer durch ihren Körper. Sie blieb liegen, lautlos weinend.
Sie war eben doch nur ein Monster, verdorben bis in die tiefste Schwärze ihrer Seele.
Cary starrte missmutig auf die Gitterstäbe. Sie hätte sich selbst den Arm abhacken können, dass sie nicht mit einer Falle gerechnet hatte. Das viel zu große Schiff am Steg der winzigen Hütte hätte ihr nicht wie ein gutes Zeichen vorkommen sollen. Vielleicht fehlte ihr der streng regulierte Tagesablauf unter den Weißen Wächtern und sie wurde langsam zu weich.
»Terziel«, flüsterte sie halblaut. Der Engel hockte im Käfig zwischen ihrem und Merkanto.
Mit müden Augen sah Terziel sie an. »Ja?«
»Frag Merkanto, ob er eine Idee hat«, wisperte Cary ihm zu.
Terziel seufzte, tat aber, wie ihm geheißen. Tatsächlich flüsterte Merkanto eine ganze Weile mit dem Engel. Cary behielt derweil die Wachen an der Treppe im Auge, doch die kehrten ihnen den Rücken zu.
»Er hat keine Idee«, berichtete Terziel schließlich.
»Was?«, entfuhr es Cary ein wenig zu laut. Eine der beiden Wachen wandte den Kopf und die Gefangenen bemühten sich um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. Die Wache blieb, wo sie war.
»Er hat mir aufgezählt, was wir tun müssten. Wir müssten die ganzen Fesseln und Banne entfernen, aus den Zellen raus, Nejakai und ihre Leute überwältigen und dann fliehen. Unmöglich, sagt er«, fuhr Terziel flüsternd fort, sobald sie sicher waren, dass die Wachen ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkten. Einer von beiden, ein fettleibiger Mann, der nur einen Lendenschurz trug, war offenbar ein Buddha und mit seiner Rolle als Gefängniswärter alles andere als zufrieden. Der andere war ein junger Elf.
»Wir haben es noch gar nicht versucht«, flüsterte Cary zurück. »Was genau brauchen wir?«
Terziel rollte mit den Augen, zählte aber gehorsam auf: »Die Schlüssel oder etwas, um die Schlösser aufzubrechen. Eine Zange und vielleicht eine Brechstange, um unsere jeweiligen Fesseln zu entfernen. Und dann eine Ablenkung, während wir das Schiff stürmen.«
Cary bewegte ihre Schultern, die von der unbequemen Haltung aufgrund ihrer gefesselten Handgelenke schmerzten. Ihre Gedanken rasten.
Ihr Mittagessen bestand aus einem grauen Eintopf, offenbar extra für sie zusammengerührt – Cary bezweifelte, dass Nejakai und die Ihren dasselbe essen würden. Als die Wachen ihnen je einen Holzlöffel und eine hölzerne Schale brachten, nahmen sie ihnen auch die Handschellen ab. Einer nach dem anderen bekam sein Essen, der Elf ging mit den Schlüsseln in die Zelle und der Buddha blieb mit geladener Pistole im Eingang stehen. Dann warteten beide, bis der Gefangene das Essen von sich schob, erst dann war der Nächste an der Reihe.
Während sie darauf wartete, dass sie selbst an die Reihe kam, musterte Cary die beiden Wachen. Die Rollenverteilung erschien kontraintuitiv, waren Buddhas doch für ihre Friedfertigkeit bekannt und Elfen generell bessere Schützen. Sie konnte nur erraten, dass der Buddha ihnen im Zweifelsfall zugehört hätte, weswegen Nejakai seinen Kontakt mit den Gefangenen auf ein Mindestmaß beschränken wollte. Doch das brachte Cary auf eine neue Idee.
Als der Elf in ihre Zelle trat, hob sie schwermütig den Kopf. Sie hatte bis gerade eben, von den Wachen unbemerkt, an ihren Fesseln gezerrt, jetzt waren ihre Handgelenke wund und aufgescheuert. Sie konnte spüren, wie der Elf in der Bewegung stockte, als er ihr die Fesseln löste.
Cary tat, als unterdrückte sie ein Stöhnen. Dann bewegte sie die Schultern so vorsichtig, als wären die Schmerzen unerträglich. Ihre Arme fühlten sich tatsächlich an, als wären sie in einen Schraubstock gequetscht worden, da war es nicht weiter schwer, zu übertreiben. Cary spielte die Tapfere, die ihre Schmerzen verbergen wollte, achtete aber darauf, dass der Elf jedes Zusammenzucken sah und jedes leise Zischen hörte. Sie war noch nie eine besonders gute Schauspielerin gewesen, deswegen hoffte sie einfach, dass sie nicht zu sehr übertrieb.
Vorsichtig rieb sie sich die Handgelenke. An ein paar Stellen hatte sie sich die Haut bis zum Blut aufgescheuert. Sehr gut. Sehr dramatisch.
Sie nahm die Schale entgegen wie den heiligen Gral, obwohl der Eintopf längst kalt war, und schlang das Essen eilig herunter. Der Elf, der sie für den Fall eines Fluchtversuchs bewachen musste, stand die ganze Zeit vor ihr, während Cary gekünstelt zitterte. Als sie ihm die leere Schüssel zurückgab, hatte sie es auch geschafft, sich ein paar Tränen in die Augen zu drücken. Sie hauchte ein keuchendes »Danke!« und lächelte den Elfen schwach an. Zu ihrem heimlichen Vergnügen konnte sie förmlich sehen, wie er ein schlechtes Gewissen herunter schluckte, ehe er ihr die Handschellen wieder anlegte, diesmal sehr viel lockerer. Cary lehnte sich für einen kurzen Moment an ihn, ließ jede Kraft aus ihrem Körper weichen, und achtete darauf, dass ihre Haare seinen Hals streiften. Dann setzte sie sich wieder auf den Boden ihrer Zelle und hielt den Kopf gesenkt, bis die beiden Wachen ihre langsame Runde abgeschlossen hatten. Als Elf und Buddha gingen, hob Cary den Blick. Der Elf sah zurück, ganz wie sie gehofft hatte. Sie schenkte ihm ein wohldurchdachtes, trauriges, tapferes Lächeln ohne jeden Kampfgeist.
Während Schritte die Treppe hinauf entschwanden, wurde ihr Lächeln im Verborgenen breiter.
Am Abend marschierte der Elf den Gang zwischen den Zellen ab und blieb vor Carys Zelle stehen. Sie hob den Blick und spielte vor, sich über seine Anwesenheit zu freuen.
»Ich hab von dir gehört«, sagte der Elf leise.
Cary mimte die Überraschte. Die meisten Elfen hatten von ihr gehört.
»Ich bin nicht weit von deinem Heimatdorf groß geworden«, fuhr der Elf fort.
»Und jetzt sind wir beide hier gelandet.« Ein resigniertes Lächeln. Ein kleiner, verborgener Teil von Cary wunderte sich darüber, wie leicht ihr die Lüge fiel.
»Warum?«, fragte der Elf leise und umfasste die Gitterstäbe. »So viele junge Elfen haben dich bewundert. Wieso enttäuscht du sie alle?«
Cary zuckte mit den Schultern, zuckte dann zusammen. Nur ganz leicht. Der Elf bemerkte es.
»Wir alle machen Fehler«, sagte sie frei heraus, den Kopf erhoben, die Schultern zitternd. Der Elf durchschaute die Fassade, die er durchschauen sollte, aber nicht die darunter, die verriet, dass Cary keine Schmerzen empfand. »Ich würde es gerne ungeschehen machen, aber dafür ist es jetzt zu spät. Vielleicht kann ich wenigstens als Warnung dienen.«
Sie wusste, dass die Kinder der Sonne ihnen lauschten, jede Bewegung beobachteten. Keiner zeigte eine Reaktion, die meisten taten einfach, als schliefen sie. Doch Cary wusste, dass sie wach und wachsam waren.
Der Elf seufzte schwer. »Es gibt wohl kein Zurück mehr.«
»Nein«, Cary gab sich stolz. »Für das, was ich getan habe, muss ich auch die gerechte Strafe erhalten.« Sie richtete sich auf die Knie auf, schwankte leicht, krümmte sich wieder zusammen.
Der Elf fasste einen Entschluss, warf einen Blick zur Treppe, wo der Buddha nicht zu sehen war, und öffnete dann den Käfig.
Cary fuhr zusammen, als der Elf zu ihr trat. Er löste ihre Fesseln.
»Wo … wo ist der Andere?«, fragte sie gehetzt, stand auf und wich an die hintere Wand zurück. Der Blick, den sie der offenen Tür zuwarf, hätte auch dem aufgerissenen Maul eines Trolls gelten können.
»Er hat Pause und wird erst Morgen früh zurückkommen«, berichtete der Elf. »Du brauchst keine Angst haben. Caryellê.«
Dann runzelte er die Stirn und sah zur Tür. Hastig, als würde ihm sein Fehler jetzt erst bewusst, trat er darauf zu.
»Danke«, sagte Cary.
Der Elf blieb stehen und sah ihr in die Augen.
»Wie … wie heißt du eigentlich?«, wagte sie sich vor. Der Elf durfte ihre Zelle nicht mehr verlassen, doch sie hatte ihn schon am Haken wie einen Fisch.
»Ellyntar«, antwortete ihr Bewacher. Er drehte dem Ausgang wieder den Rücken zu, zog aber die Tür ins Schloss.
»Ellyntar«, wiederholte Cary und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Sie lächelte schüchtern. »Ein schöner Name.«
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Iljan zu ihnen herüber blickte. In seinen rotgeränderten Augen lag ein Ausdruck, der sie erschreckt hätte, hätte sie nur Zeit gehabt, sich darum zu sorgen.
Sie atmete langsam ein und aus. Jetzt durfte sie keinen falschen Schritt machen. Die Tür war bereits wieder zu, aber Ellyntar würde sich nicht entspannen, solange die Zelle nicht auch verschlossen war. Cary senkte den Blick zu Boden und hob die Schultern hoch. Sie gab sich alle Mühe, verletzlich zu wirken, gebrochen.
»Danke, dass du so nett zu mir bist. Das hab ich nicht verdient.«
Das Klicken des Schlüssels im Schloss. Cary sah auf. Ellyntar stand noch in ihrer Zelle und ließ den Schlüssel in die Hosentasche gleiten. Cary verschleierte die Bewegung, mit der sie dem Schlüssel folgte, indem sie die Hände vor das Gesicht schlug und trocken schluchzte.
Wenig später wurde sie von seinen Armen umfangen. Für Ellyntar schien es, dass er eine hemmungslos schluchzende, verzweifelte Kriegerin an seine Brust drückte, ihr erlaubte, wieder ein junges Mädchen zu sein, sich an ihn zu kuscheln, um Trost zu finden. Er kannte natürlich ihre Geschichte.
Cary dagegen errechnete sich, dass am Boden eine höhere Chance auf Erfolg bestand. Sie ließ ihre Beine einknicken und sich von Ellyntar sanft auf das Stroh setzen. Oh, wie sie es hasste, in den Armen eines Anderen zu hängen wie ein Kind. Sie ließ sich wiegen, doch es hatte nur eine Person gegeben, die ihr dabei auch das Gefühl der Geborgenheit geben konnte. Und Iljan … bei Iljan störte es sie nicht so sehr wie bei anderen.
Ihr Gesicht ruhte jetzt an Ellyntars Hals, ihre Hand kroch langsam auf seine Schulter. Sie flüsterte einen Dank nach dem anderen, durchsetzt mit seinem Namen. Dann berührten ihre Finger sein Ohr und er zog sich zurück, um ihr in die Augen zu sehen. Cary hob das Gesicht und Ellyntar beugte sich ihr entgegen, ihre Lippen trafen sich.
Seine Hände wanderten sanft über ihren Körper. Cary spielte mit einem Knopf seiner Uniformjacke und er strich ihr die Träger ihres Hemdes von den Schultern. Sie erschauerte und drückte sich an ihn, öffnete den ersten Knopf. Ellyntar sank rückwärts auf das Stroh, Cary bedeckte ihn mit Küssen.
Alles in allem waren sie immer noch Elfen. Man konnte einen Elf in eine Uniform stecken, aber – ironischerweise genau, wie die Rekruten es schon immer behauptet hatten – man konnte die Anderswelt nicht aus dem Elfen heraus treiben. Kleidungsstück um Kleidungsstück glitt davon. Cary zog geschickt an Ellyntars Hose und ihre Finger fanden nur wie zufällig den Schlüssel. Als die Hose herab fiel, ließ sie den Schlüssel von Ellyntar unbemerkt in ihre Hand gleiten. Während sie ihn küsste, schielte sie zu Terziel.
Der Engel sah in ihre Richtung und wartete, doch sein Kopf war hochrot und er starrte betont auf den Boden, wo das Gitter zwischen ihren beiden Zellen an die Planken genagelt war. Beinahe hätte Cary gegrinst. Doch jetzt ertasteten ihre Finger etwas anderes, hartes, unter Ellyntars Hemd.
Sie stockte und zog einen langen Dolch hervor.
Ellyntar lachte. »Entschuldige.« Er legte den Dolch zur Seite und nahm Carys Gesicht in beide Hände.
»Oh, Herr Soldat«, flüsterte sie. »Ich muss für meine Verbrechen bestraft werden!«
Damit glitt sie über Ellyntars Hüfte und senkte ihre eigene herab. Sie beugte sich über ihn und konnte die Spitze seines Glieds genau dort spüren, wo es sein musste. Er sah sie mit offenem Mund an, ganz gefangen, gefangener als sie selbst, und merkte nicht, wie die den Dolch zusätzlich in die Hand mit dem Schlüssel nahm. Sie stieß die Hüfte nach unten und stöhnte im Gleichklang mit Ellyntar, ein Geräusch, dass ein anderes übertönen sollte: Das leise Kratzen, mit dem Dolch und Schlüssel über den Boden und zwischen den Gittern hindurch in Terziels Zelle rutschten.