https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430820
Die Silbermöwe tanzte über die Wellen, weiße Gischt vor dem Bug, die Segel straff gespannt im Wind.
Ein Schiff wie dieses hatte Merkanto noch nie gesehen. Die Möwe war ein Zweimaster und besaß so viel Laderaum, wie die geringe Segelfläche zuließ. Um als ordentliches Schiff durchzugehen, fehlte ihr der vorderste, große Mast – sie wirkte wie ein Einmaster, den man mit einem Fockmast ausgestattet hatte.
Es gab sicherlich größere Schiffe auf Antordia, genauso wie wendigere und schnellere, doch für Nejakais Zwecke war die Silbermöwe perfekt gewesen. Sie war schnell, klein und konnte eine Menge Matrosen und Gefangene beherbergen. Dabei erschien sie – was den Kindern der Sonne zum Verhängnis geworden war – zu klein, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Es war eine unauffällige Schonerbrigg, der ganze Stolz ihres Kapitäns.
Iljan hatte sich in die Kajüten unter Deck zurückgezogen und der Rest der Gruppe gewöhnte sich an seine neuen Aufgaben an Deck. Falls die Kinder der Sonne geglaubt hatte, dass ihre Überfahrt ihnen Erholung von der langen Wanderschaft bieten würde, so hatten sie sich getäuscht. Es gab Segel zu setzen, Decks zu schrubben, eine Kombüse zu bedienen – Gudrun war von allen unbemerkt zum Smutje geworden – und an diversen Tauen zu ziehen. Merkanto, der als einziger Erfahrung mit der Seefahrt hatte, war zum Dolmetscher für die Fachbegriffe geworden, die Baradas vom Steuer aus bellte. Das sorgte dafür, dass der Magier in ruhigeren Minuten mit dem Seebären ins Gespräch kam.
»Seid besser als die alte Zauberin«, sagte dieser gerade. »Ihr hört zu. Die is nur rumspaziert und hat sich nix reinreden lassen.«
Merkanto war sich bewusst, dass der Steuermann um sein Leben fürchtete und sich einschmeicheln wollte. Iljan war ein paar äußerst heftige Worte losgeworden, um dem Kapitän jeden Gedanken an Hinterlist auszutreiben. Im Stillen machte Merkanto sich Sorgen um den jungen Vampirsprössling.
»Wir wissen eben, wovon wir keine Ahnung haben«, gab er zurück. Dann, damit der Mann nicht wusste, dass sie ihm in Wahrheit ausgeliefert waren und nicht andersherum, fügte der Magier hinzu: »Ich kenne mich nur mit größeren Schlachtschiffen aus. Und, um ganz ehrlich zu sein, bis auf den Kurs habe ich auch da immer alles den Kapitänen überlassen.«
Baradas warf Merkanto einen erstaunten Blick zu. Der Magier seufzte und ging an die hintere Reling, um auf das schäumende Fahrwasser zu blicken.
Iljan hockte in der abgedunkelten, reich ausgestatteten Kapitänskajüte und kaute auf seinen Fingernägeln. Er hatte die hölzernen Fensterläden geschlossen, doch die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Lücken drangen, waren schon furchtbar genug.
Als die Tür sich ohne Vorwarnung öffnete, wich Iljan in die dunkelste Ecke zurück. Herein kam eine einzelne Gestalt, die Sonne im Rücken. Und ein Geruch nach nassem Hund.
»Iljan?« Jackies Stimme zitterte ein wenig.
»Ich bin hier.« Sie schloss die Tür und Iljan trat aus dem Schatten heraus.
Jackie musterte ihn und streckte ihm dann wortlos das Handgelenk hin. »Mach schon. Ich bin immer noch sauer auf dich.«
»Hör mal, Jackie … «, begann Iljan.
»Nein. Ich will nichts hören«, fauchte Jackie. »Du hast deine Elfe und mich hast du einfach vergessen. Unsere ganze Freundschaft ist dir wohl nicht viel wert. Aber ich, ich bin nicht so wie du.«
»Und ich bin dir dankbar dafür«, Iljan umfasste ihre Handgelenke. Er wurde von dem Puls abgelenkt, den er unter ihrer Haut schlagen spürte. »Ehrlich, Jackie, ich habe dich nicht vergessen.«
Er überwand den Durst noch etwas länger und umarmte sie. »Du bist immer noch meine beste Freundin, Jackie.«
Nachdem er getrunken hatte, blieb Jackie noch eine Weile bei ihm, offenbar besänftigt.
»Du verwandelst dich nicht mehr, stimmt's?«, fragte Iljan.
Jackie sah auf ihre Hände. »In Quyhst habe ich zum ersten Mal wieder den Mond gespürt. Auf dieser Seite der Grenze ist der Fluch schwächer. Ich fühlte mich … ich fühle mich, als würde ich wieder menschlicher werden, so wie ich früher mal war.«
Sie sah auf. »Entschuldige, Iljan. Ich habe mich idiotisch benommen. Das klingt jetzt wie eine Ausrede, aber ich glaube, dass es mit den Verwandlungen zusammenhängt. Ich bin weniger Wolf und mehr Mädchen, als ich seit langer Zeit war. Wenn du verstehst.«
»Nicht wirklich«, gab Iljan zu. »Aber ich wünschte, ich könnte das Gleiche erleben.«
Die Bewegungen des Schiffes brachten Terziel ohnehin an den Rand seiner Belastungsgrenze, doch im Ausguck war das Schlingern um ein Vielfaches schlimmer. Mit viel Mühe seine Übelkeit im Zaum haltend kauerte der Engel im Krähennest und suchte unermüdlich den Horizont ab, insbesondere auf der Suche nach dem Pegasus, der unter Nejakais Leuten gewesen war, falls die Weißen Wächter Hilfe anforderten.
Die Aufgabe war ihm zugeteilt worden, da er es sich als einziger erlauben konnte, aus dem Ausguck zu fallen. Wenn einer der anderen stürzte, hätte dieser keine Schwingen, um sich noch zu retten.
Die Flügel hatten Terziel auch die zweifelhafte Ehre eingetragen, für die oberen Segel verantwortlich zu sein. Die unteren hatte Abarax übernommen und kletterte unermüdlich über die Taue. Ab und zu sah er zu Terziel hinauf und grinste. Terziel grinste jedes Mal zurück. Egal, wie die Umstände aussahen, er freute sich, seinen Bruder zurück zu haben.
Eine hohe Welle warf das Schiff herum und Terziel klammerte sich an das Geländer des Krähennests.
In diesem Moment erblickte er es. Scheinbar aus dem Nichts türmten sich gewaltige, finstere Wolken vor ihnen am Horizont auf: Eine breite, pechschwarze Gewitterfront. Sie schien riesig, lange Ausläufer erstreckten sich über die Hälfte des Horizontes. Terziel, den Blick hauptsächlich nach hinten gerichtet, bemerkte sie viel zu spät.
Einige Momente japste er nur, sprachlos, dass ihnen nun auch noch dieser Sturm bevorstand.
»Scheiße!«, rief er dann nach unten und deutete nach vorne. Das war vielleicht keine nautische Fachsprache, erfüllte allerdings den gewünschten Effekt.
Die Gruppe, bis auf Merkanto und Baradas, war im Bug zusammengelaufen. Entsetzt sahen sie dem Sturm entgegen, als Iljan und Jackie bei ihnen ankamen.
»Das hat uns noch gefehlt!«, fluchte Gudrun. »Ein verdammtes Gewitter.«
»Wir können es nicht umschiffen«, mit langen Schritten kam auch Merkanto an. »Der Sturm würde uns ohnehin einholen. Er ist, was die Leute hier einen Blitzschatten nennen, wie mir soeben mitgeteilt wurde.«
Die säuerliche Miene des Zauberers drückte sein Desinteresse für lokale Folklore und seine Vorliebe für knappe Tatsachen aus.
»Was schlägt Baradas vor?«, fragte Iljan.
»Nicht hier zu sein«, sagte Merkanto. »Wären wir an einer Insel, sollten wir vor Anker gehen, so haben wir keine Wahl, als durch den Sturm zu fahren und das Beste zu hoffen.«
»Kannst du nichts machen?«, fragte Gudrun patzig. »Du bist doch Sturmzauberer, oder nicht?«
Iljan rechnete mit einer harschen Erwiderung seitens Merkanto, doch der Zauberer trug der bedrohlichen Situation Rechnung, indem er lediglich seufzte. »Ich kann einen Sturm rufen, aber nicht aufhalten. Ich werde uns, so gut wie möglich, vor den Blitzen schützen. Aber selbst so wird es eine gefährliche Sache.«
»Gut«, Iljan trat vor uns verschaffte sich mit festem Blick Gehör. »Wir haben eine Menge Gefahren hinter uns. Wir werden auch das hier überstehen. Hört auf das, was Baradas sagt, und haltet euch immer in der Nähe von Seilen und Tauen, an denen ihr euch festhalten könnt.«
Seine Ansprache wurde davon unterbrochen, dass Terziel sich über die Reling übergab. Iljan ignorierte ihn. »Denkt an die Vorteile. Wenn Nejakai einen Boten geschickt hat, wird er durch den Sturm aufgehalten. Dieses Gewitter verbessert unsere Chancen. Und jetzt – los!«
Die Kinder der Sonne nickten, von Iljans dilettantischer Rede tatsächlich ermutigt. Merkanto lief zu Baradas und gab bald Befehle an den Rest weiter. Die Ladung im Bauch des Schiffes sichern – Gudrun war schon unterwegs, kaum dass Merkanto das Wort ›Bauch‹ gesprochen hatte. Terziel und Abarax kletterten in die Masten, um die Segel zu setzen. Merkanto rief ihnen Anweisungen zu, was sie zu tun hätten, wenn der Wind stärker oder schwächer würde.
»Jemand Starkes zum Steuer!«, rief Merkanto.
Iljan lief los. Mit wieder hergestellten Vampirkräften überstieg er das Können jedes anderen in der Gruppe.
»Du musst steuern«, rief Baradas statt einer Begrüßung, als Iljan auf die Brücke gelangte. »Der Sturm würd mir das Steuer aus den Pfoten reißen. Ich sag dir, wo lang.«
Iljan umfasste die Holzgriffe des Steuerrads.
Der Sturm traf sie mit voller Wut. Merkanto stand im Bug, über der Galeonsfigur, die Arme ausgebreitet. Er spürte das Zittern in der Luft, das Knurren, ehe der Sturm zu Brüllen begann. Das Gewitter hatte sich bis eben aufgeladen, um nun, im denkbar ungünstigsten Moment, seine ganze Kraft wieder loszulassen.
Merkantos Macht wuchs mit jedem Schritt in die Dunkelheit unter den Gewitterwolken. Doch alle Macht nutzte ihm wenig, um den Sturm aufzuhalten. Das war unmöglich, denn die Blitze mussten sich entladen. Stattdessen nutzte Merkanto die aufgeladene Atmosphäre, um ein mächtiges Gitternetz um das Schiff zu legen. Faden für Faden spann er den Schutzschild aus leuchtenden Blitzen. Die Energien, die durch seinen Körper rasten und seine Wahrnehmung erweiterten, waren wie ein Rausch. Er spürte das Schiff unter sich bocken, der Bug hob und senkte sich mit jeder Welle, das Meer war pechschwarz. Wo die Stiefel der anderen hilflos über das Deck schlitterten, stand Merkanto, ohne zu wanken. Er hob die Arme in den Himmel und fühlte den Regen, der ihm eisig kalt in das Gesicht klatschte.
Der Kampf begann, ein Kräftemessen zwischen Merkanto und dem Sturm. Er musste die Blitze vom Schiff fern halten, doch die Masten waren weithin der höchste Punkt und damit wie ein Magnet für die tödliche Gefahr aus den Wolken. Merkantos Schutzschild konnte stellvertretend als höchster Punkt gelten, damit die Blitze von dort ausgingen, doch jeder Blitz raubte dem Schild ein wenig seiner Kraft.
Schon ging eine wahre Kaskade nieder, die Blitze zu zählen, war unmöglich, so viele kamen in schneller Folge aufeinander. Sie flackerten über dem Krähennest und Merkanto spürte, wie der Schutzschild erbebte.
Rufe schallten über das Deck. Wer keine spezielle Aufgabe hatte, der schöpfte mit Eimern das Wasser aus dem Laderaum, doch der Regen strömte schneller nach, als die Eimerkette schöpfen konnte. Oben riss Abarax an einem Segel, das sich zu straff spannte.
Merkanto spreizte die Finger. Im Regen war es schwer zu sagen, doch er fühlte sich schweißgebadet. Der Wind riss wütend an seinen Roben.
»Oh nein«, brüllte Merkanto Donner und heulendem Sturm entgegen. »Dieses Schiff wird überstehen!«
Seine Stimme verlor sich in den Naturgewalten.
Baradas und Iljan brüllten sich die Seele aus dem Leib und gestikulierten so wild, dass sie beinahe über Bord gingen. Trotzdem hätte Abarax sie nicht bemerkt oder gehört, denn jedes Geräusch wurde vom rollenden Donner verschluckt und selbst ein zufälliger Blick in Richtung der Brücke hätte ihm wohl nur verschwommene Gestalten im dicht strömenden Regen gezeigt. Nein, der Nachtmahr spürte die Panik vom hinteren Teil des Schiffes, worauf er den Blick hob und nach Iljan suchte.
Der Vampir und der Kapitän deuteten wild nach links und nach vorne. Abarax wandte den Kopf und endlich entdeckte auch er den großen Felsen, der wie aus dem Nichts vor ihnen erschienen war, ein dunklerer Schatten vor der Dunkelheit.
»Verdammt und zugenäht!«, fluchte er. Das Schiff würde nicht rechtzeitig manövrieren können. Die Spitze stand kurz davor, auf den Felsen zu fahren und zu zersplittern. Alles, was sie noch retten konnte, war ein dramatisches Manöver.
Abarax hob eine Hand, deren blutrote Klauen in die Länge wuchsen, dann durchschlug er das rechte Tau am ersten Segel. Sofort brach das Leinen aus und riss den Querbalken hart nach Backbord. Der Wind fuhr in das schwere Tuch und drängte das Schiff zur Seite ab. Nicht genug.
Abarax entfaltete die Flügel und zischte zum nächsten Segel, einen Mast weiter vorne. Diesmal durchschlug er nicht das Tau, sondern riss nur die Verankerung auf, die das Seil daran hinderte, durch die metallene Rolle zu gleiten. Peitschend löste sich das Seil und auch dieses Segel schlug einen harten Richtungswechsel ein. Unten an Deck eilten Gestalten zu den unteren Seilwinden, um die Segel wieder zu befestigen.
Die Silbermöwe drehte sich träge, viel zu träge. Der Fels kam näher und es fehlte noch ein Segel, das breite untere Segel am Vormast.
Abarax ließ sich fallen, die Flügel halb aufgespannt, und landete auf dem Querbalken. Wieder hob er die Hand und zielte auf das Seil.
Ein Ruf von oben ließ ihn innehalten, wenigstens für einen Moment. Terziel sah zu ihn herunter, blass und leicht grünlich im Gesicht, Entsetzen in den Augen.
Abarax erwiderte den Blick seines Bruders stumm, denn es gab nunmal keinen anderen Weg.
Er durchschlug das Seil, der Balken sprang zur Seite wie ein bockendes Pferd. Obwohl er sich mit der anderen Hand fest an den Balken klammerte, verlor Abarax beinahe den Halt. Er fiel in die Tiefe, doch seine Krallen blieben im Holz hängen. Erstaunlicherweise hatte er überlebt.
Da schrammte das Schiff hart gegen den Felsen. Holz splitterte und ein Ruck durchlief die Silbermöwe, obwohl sie den Felsen nur seitlich streifte.
Abarax verlor den Halt und trudelte in die Tiefe, nicht mehr fähig, seine Flügel zum Einsatz zu bringen.
Er schlug hart auf den Planken auf.