https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430985
Iljan stemmte sich mit aller Macht in das Steuerrad. Seine Füße rutschten über das Deck und das Holz knirschte bedrohlich unter seinen Fingern. Der Sturm konnte ihm das Steuer jeden Moment aus den Händen reißen.
Neben ihm stieß Baradas eine Reihe unschöner Flüche aus und warf sich dann mit Iljan ins Steuer.
In diesem Moment stürzte Abarax wie ein schwarzer Stein aus der Takelage und knallte an Deck.
»Abarax!«, schrie Iljan, so laut er konnte. Der Nachtmahr blieb liegen, wie er gefallen war. Das Schiff donnerte gegen den Stein und schrammte am Felsen vorbei, dann wieder hinaus in vermeintlich offene See. »Abarax!«, rief Iljan nochmals. Aus den Segeln kam Terziel herangerauscht und landete neben seinem Bruder auf dem Holzdeck.
Zuerst wusste Iljan nicht, was Baradas wollte, der ihm auf den Oberarm schlug. Der Schiffer hatte das Steuerrad losgelassen und bedeutete Iljan mit Gesten – Worte konnten im Sturm nicht bestehen – das Gleiche zu tun.
Das Steuer brach frei und drehte sich so schnell, dass es eine Person hätte köpfen können.
»Anker!«, brüllte Baradas Iljan ins Ohr. Das Wort konnte gerade noch den Sturm durchdringen, der Kapitän scheuchte Iljan von der Brücke.
Der Vampir stolperte los, rutschte auf dem Deck aus, das sich plötzlich schief legte, und kam bis zur Mitte des Schiffes.
Neben Abarax und Terziel fiel er auf die Knie und rutschte das letzte Stück zu dem gefallenen Nachtmahr heran. Dunkles Blut tränkte die Holzplanken.
»Er lebt noch!«, rief Terziel. Die Macht des Sturms schien nachzulassen. »Aber sein Körper ist zerstört. Er braucht einen neuen, schnell!«
Iljan konnte nichts sagen. Vor seinem Inneren Auge wiederholte sich immer wieder der Sturz. Was sollte er nur tun? Er streckte eine Hand nach Abarax aus und zog sie wieder zurück. Er konnte nicht denken.
Mit lautem Rumpeln schoss der Anker plötzlich von der Kette und in die Tiefe, dann folgte ein letztes Bocken des Schiffes, das sich anfühlte, als würden sie kentern. Der Bug senkte sich nach unten, Merkantos Gestalt, die neben der Ankerwinde stand, leuchtete einen Moment vor einer Reihe hoher, schwarzer Klippen auf, an denen sie beinahe zerschellt wären.
Der Magier drehte sich um und merkte erst jetzt, was geschehen war.
Die Zeit vollführte seltsame, zusammenhangslose Sprünge. Wenig später waren alle Kinder der Sonne da.
»Er braucht einen Körper!«, flehte Terziel nochmal. »Mich kann er nicht nehmen, ich bin ein Engel.«
Abarax' Leib erzitterte, schwarzer Rauch stieg in den Regen auf. Mehrere Kinder der Sonne riefen seinen Namen.
Der Rauch kräuselte sich und schoss dann zielstrebig auf Jackie zu. Einen Moment stand die Werwölfin da, den Rücken durchgedrückt, den Mund weit aufgerissen, während der Rauch in sie hinein strömte.
Dann brach sie zusammen.
»In meine Kajüte«, Baradas war hinter ihnen aufgetaucht. Er packte Iljan an der Schulter, als er den anderen folgen wollte. Abarax' toter Körper blieb an Deck liegen, ein kleiner, grauer Gargoyle, der sich langsam in eine dickflüssige Schwärze auflöste und versickerte.
»Wir müssen die Segel hochholen!«, rief Baradas zu Iljan. »Los, du übernimmst die Seite.«
Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, befolgte Iljan den Befehl. Sie zerrten die Segel mit vereinter Kraft nach oben, bis das Schiff schließlich nur noch von den Wellen geschaukelt wurde. Der Sturm heulte unvermindert weiter, doch sie waren in einem Flecken verhältnismäßiger Ruhe angelangt. Dann, ohne jede Vorwarnung, stach ein greller Lichtschein durch die Dunkelheit in Iljans Augen. Ein kurzes Aufblitzen, und das Licht war fort. Doch es kehrte wieder, in regelmäßigen Abständen, fast wie ein Herzschlag.
»Der Leuchtturm von Siebenhoch«, sagte Baradas, der schwerfällig neben Iljan getreten war. »Kreuzfeuer und Piraten, wir haben es geschafft.« Baradas spuckte auf Deck und wandte sich zum Gehen. »Komm, Junge. Geh'n wir ins Trockene.«
Sie hatten Jackie auf das Bett des Kapitäns gelegt und zugedeckt. Als die Tür aufflog, peitschte der Sturm Kälte und Regen herein. Baradas und Iljan kamen gebeugt ins Innere und schlugen die Tür wieder zu.
Sie alle tropften und zitterten vor Kälte. Merkanto kniete neben Jackie und fühlte ihre Stirn, die von einem plötzlichen Fieber glühte. Terziel beugte sich über seine Schulter und erdrückte den Magier fast.
»Wie geht es ihm? Wir er es schaffen?«
»Das kann ich noch nicht sagen«, brummte Merkanto schlecht gelaunt. Ihm war der Schreck wie allen anderen in die Glieder gefahren. Immer wieder ertappte er sich bei der verwunderten Frage, wo zur Hölle Najaxis sich herumdrückte, ehe ihm alles wieder einfiel – und nun hätten sie um ein Haar ein weiteres Mitglied ihrer Gemeinschaft verloren.
Baradas stampfte zum Kamin seiner luxuriösen Kabine und entfachte ein kleines Feuer. Dann entkorkte er eine Tonflasche mit Rum und brachte alle außer Jackie, Merkanto und Terziel dazu, sich an den großen Tisch im Raum zu setzen und der Verletzten etwas Raum zu lassen.
Langsam füllte Wärme den kleinen Raum. Merkanto seufzte erleichtert, als Jackies Atem sich normalisierte.
Wenig später flatterten ihre grünen Augen. Jackie stöhnte und setzte sich auf.
»Was ist mit Abarax?«, fragte Terziel sofort.
Merkanto drängte den Engel sanft beiseite, während auch die anderen wieder zu ihm strömten.
»Zurück! Lasst ihr doch ein wenig Platz zum Atmen!«, fauchte er, dann fügte er an Jackie gewandt sanfter hinzu: »Wie geht es dir?«
»Ah, mir tut alles weh«, waren ihre ersten Worte. »Oder nein. Das ist nur eine fremde Erinnerung.«
»Dann ist Abarax bei dir?«, fragte Terziel.
Jackie nickte. »Aber er schläft gerade. Das ist … das ist ein wirklich seltsames Gefühl.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung sank Terziel auf den Boden. Jackie schwang die Beine aus dem Bett und stand vorsichtig auf. Iljan drängte sich an Merkanto vorbei und umarmte sie.
»Wir werden einen anderen Körper für ihn suchen«, versprach er Jackie leise.
Sie lächelte müde. »Glaub ja nicht, dass du dich so leicht wieder einschleimen kannst!«
Ein bisschen später hatten sie alle von Baradas' Rum getrunken und wärmten sich an der Hitze des Kamins auf. Ihre Kleidung war endlich getrocknet und der Schreck zu einer unangenehmen Erinnerung verblasst, obwohl Abarax immer noch nicht wieder aufgewacht war.
Baradas warf einen Blick aus dem Fenster. »Scheint, als hätt' sich der Sturm verzogen. Ich denk', ihr könnt jetzt einen guten Blick auf Siebenhoch werfen.«
Sie folgten dem Seefahrer an Deck und wurden von klarem Sonnenschein und Möwenschreien begrüßt. Das Schiff war noch feucht vom Sturm, gleichfalls waren die Felsen und das Land mit glitzernden Wasserperlen bedeckt.
Sie hatten es in eine Bucht geschafft, die von einem Ring hoher Klippen umarmt wurde. Nur an der landinneren Seite wichen die Klippen hellem Strand, von dem mehrere Holzstege ins Wasser führten. Hinter der Strandlinie erhoben sich kleine, bunt angemalte Holzhäuser, die mit großen Muscheln oder Bildern von Meerestieren verziert waren, bis an den Fuß der zerklüfteten Felsen rings um die Stadt. Hinter dem Städtchen war die große Holzgrenze zu sehen, die hier jedoch von einem massiven Tor durchbrochen wurde. Dieses lag am Ende einer großen, breiten Straße, die schnurgerade wie eine Lebensader von einem Marktplatz am Stand bis zum Tor durch die Stadt verlief.
Sieben hohe Klippen umgaben Siebenhoch. Zwei davon flankierten die einzige Öffnung in der Bucht und waren so hoch, dass ihre Spitzen über dem Wasser zusammenstießen. Eine davon musste der Felsen sein, den sie kurz zuvor geschrammt hatten. Drei Klippen ragten im Ring um die Bucht auf, auf jeder einzelnen stand ein kleiner Wachtturm. Offenbar führte ein (sicherlich sehr gefährlicher) Weg einmal im Kreis um die Bucht. Eine weitere Klippe erhob sich außerhalb des Rings und wurde von einem mächtigen Leuchtturm gekrönt, der auch jetzt noch sein Licht bis auf's Meer hinaus sandte. Eine letzte Klippe schließlich stand am hinteren Ende der Stadt und durchbrach den Grenzzaun. Auf ihrer Krone war eine Festung aus Stein errichtet worden, die sowohl die Stadt als auch die Lande jenseits der Grenze überblickte.
Die Silbermöwe lag verdächtig tief im Wasser, offenbar hatte sie bei der rasanten Fahrt einige Lecks geschlagen. Jetzt lag sie im seichten Wasser auf einer Sandbank auf. Die Wellen wiegten sie sanft hin und her.
»Wunderschön!«, hauchte Jackie.
»Aber auch riskant«, murmelte Merkanto. »Die Stadt ist von Bergen umgeben, wir müssen also durch das Tor oder einen großen Umweg fahren.« Er warf Baradas einen Blick zu. »Werdet ihr sie warnen?«
»Vor wem sollt' ich jemanden warnen?«, fragte der Kapitän zurück. »Falls ihr damit meint, dassich euch verraten würd', nein, das werd' ich nicht. So wahr ich ein Seefahrer bin, ich hab' nicht vor, euch zu verraten. In meinem Leben hab' ich schon viel gesehen, aber das – erst eine Gruppe dunkler Wesen und dann auch noch diese Höllenfahrt! Kreuzfeuer und Piraten und Seeteufelalgen, ihr seid Helden! Mit höchsten Ehren solltet ihr in die Stadt einziehen und gefeiert werden!«
»Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee wäre«, unterbrach Merkanto den Seemann säuerlich.
»Natürlich nich'«, seufzte Baradas. »Ich hab' gehört, was diese Nejakai über euch erzählt. Zuerst hab' ich's ja auch geglaubt, dass ihr Teufel und so seid. Aber ihr habt diese Mission, nich'? Hier leben?« Die Kinder der Sonne nickten. »Nachdem ich 'ne Weile mit euch gesegelt bin, find' ich, dass ihr es verdient hättet. Ihr seid keine Teufel, nich' mehr als auch diese Zauberin. Ihr seid anständige Leut', ich sehe sowas, wenn ich mit Leuten segel'. Hab mich noch nie in jemandem getäuscht, den ich an Bord hatte!«
Merkanto lächelte. »Wenn nur alle das so sehen würden wie du!«
»Das werd'n sie schon noch«, versprach Baradas.
Statt sie direkt in die Stadt zu entlassen, bestand Baradas darauf, sie noch einen Tag an Bord zu behalten. Scherzhaft warf er ihnen vor, seine wunderschöne Möwe zerstört zu haben und verlangte, dass sie ihm bei den Ausbesserungsarbeiten halfen. Die Kinder der Sonne willigten nur zu gerne ein. Bald stellte sich heraus, dass Baradas noch einige wertvolle Tipps für sie hatte, was die Durchquerung von Siebenhoch anging. Während sie Bretter vor Lecks nagelten und die Lücken mit Teer ausfüllten, Wasser schöpften und Segel flickten, schlug Baradas ihnen vor, sich als Seeleute verkleidet in die Stadt zu schleichen. Ihm zufolge waren die Bewohner der Stadt so vielfältig, dass man ihrer Gruppe keinen zweiten Blick schenken würde.
»Und Seefahrer geh'n häufiger mal nach draußen, als Karawane, um Geld zu machen. Schätze verkaufen und all das«, berichtete er, die Arbeiten überwachend und selbst keinen Finger rührend. »Ihr könnt es bis zur nächsten Stadt schaffen und die Sache fliegt nur auf, wenn ihr nix zu verkaufen anbietet.«
»Wir können die Verkleidung aufgeben, ehe wir die nächste Stadt erreichen«, überlegte Iljan laut. Der Plan hatte nur einen Nachteil: Um als Karawane zu überzeugen, mussten sie den Weg in die Elfenwälder einschlagen, statt den direkten Weg zum Weißen Schloss zu nehmen. Dann allerdings befänden sie sich auf der Kuppe einer langen, hohen Klippe, die das ganze Sonnenland durchschnitt. Bis sie einen Abstieg hinunter auf die Ebene vor dem Weißen Schloss fanden, konnten Tage und Wochen vergehen.
»Wir haben Proviant«, sagte Cary, als sie am Abend die Sterne beobachteten. »Und in den Wäldern kann ich euch führen. Es könnte funktionieren.«
Iljan nickte. »Aber es lohnt sich noch nicht, Pläne zu schmieden. Ein Schritt nach dem anderen.«
Dann standen sie schweigend beieinander. Zum ersten Mal seit dem Ausbruch hatten sie Zeit für sich, die einzigen anderen in ihrer Nähe waren Gudrun und Stella, die in einiger Entfernung im flachen Wasser spielten. Ab und zu schallte ihr Lachen herüber.
»Hör mal, Cary«, sagte Iljan leise. »Ich weiß, du hast nur getan, was du tun musstest, aber es will mir trotzdem nicht aus dem Kopf.«
»Was denn?«, fragte Cary verwirrt.
»Deine … Geschichte … mit dem Elfenwächter«, Iljan gestikulierte hilflos. »Ich hab das Gefühl, dass es dir sehr leicht fiel, mit … mit ihm zu schlafen.«
»Warum auch nicht?«, fragte Cary und warf die Haare zurück. Sie sah Iljan nicht an. »Es hat uns zur Flucht verholfen, oder nicht?«
Iljan schwieg. »Und du fühlst dich nicht … schlecht oder so?«
Cary runzelte die Stirn. »Worauf willst du hinaus, Iljan? Ich hab mit ihm geschlafen. Und? Nichts weiter dabei.«
Iljan schluckte. »Und … und ist auch sonst nichts weiter dabei? Wenn du mit mir … «, er sprach nicht zu Ende.
Cary schnaube ungeduldig. »Jetzt werd' nicht albern, Iljan. Ich mag dich. Das ist alles.«
Iljan sah auf seine Hände, die sich an der Reling verkrampften. Er war wohl wirklich albern, wie Cary ihm vorgeworfen hatte.
Seine Zunge machte sich selbstständig. »Das heißt, es bedeutet dir alles nichts?«
Carys Blick war unerwartet frostig und ihre Antwort ein giftiges Zischen. »Ich bin nicht dein Eigentum, Iljan. Ich gehöre weder dir noch sonst jemandem. Falls du diesem Trugschluss unterlegen sein solltest, dann schlag es dir aus dem Kopf.«
Damit marschierte sie davon und ließ Iljan mit tausend Fragen und stummer Wut zurück.