Du bist Elred Aramys Nuvian.
Du zückst deine Waffe. „Gut, verdammt, aber lass dich nicht umbringen!“
Du trittst an Arthrax' Seite, bereit, gemeinsam mit ihm bis auf den Tod zu kämpfen. Der Krieger sieht dich einen Moment entgeistert an, dann … steckt er die Waffe weg. „Gehen wir.“
Völlig verdattert brauchst du einen Moment, um zu verstehen, was vor sich geht. Arthrax hat sich bereits einen Weg durch die Menge gebahnt und du stehst dem riesigen Ork vollkommen alleine gegenüber. Einen Moment starrst du deinen Gegner an, dann steckst du dein Jagdmesser weg, das im Vergleich zu dem schartigen Schwert des Orks eh wie ein Brotmesser wirkt. Schnell eilst du Arthrax hinterher, einen farbenfrohen Fluch auf den Lippen.
In Erwartung des Kampfes haben die Orks einen großen Ring in der Menge geöffnet, Jetzt, wo alle zurückströmen, bricht Chaos aus. Die frustrierten Wesen zücken ihre Waffen, um selbst für einen ordentlichen Kampf zu sorgen. Brüllend prügeln sie aufeinander ein.
Im Rücken der Kämpfenden könnt ihr durch das Tor und hinein in die Orkstadt schlüpfen. Auch hinter dem Tor haltet ihr nicht an. Du läufst weiter, bis der Lärm vermutlich verklungen ist. Überall in der Stadt erklingen Schreie und Waffengeklirr, aus welchem der offenbar zahlreichen Kämpfe sie stammen, ist schwer zu sagen.
Arthrax stützt sich keuchend auf die Knie. „Das war ja sehr elegant, der Herr Elf!“, schnauft er.
„Verfolgen sie uns?“, fragst du und spähst zurück über die gesprungene Treppe, die ihr soeben hinauf gelaufen seid.
Arthrax macht sich nicht einmal die Mühe, zu gucken. „Die Orks können sich doch überhaupt nicht für so lange Zeit auf eine Verfolgungsjagd konzentrieren.“
„Vielleicht schon, wenn sie sich darauf freuen, die Opfer am Ende zu vierteilen“, gibst du bissig zurück. Wie kann man als Krieger bloß so phlegmatisch sein?
°°°
Sobald Arthrax halbwegs bei Atem ist, gehst du weiter und überlässt es dem Menschen, mit dir Schritt zu halten. Ihr seid mitten im Feindesland und solltet keine Pausen einlegen. Außerdem kannst du den Schöpferstein immer deutlicher spüren: Von ihm geht eine fast schon greifbare Aura der Macht aus, ein Prickeln und Knistern in der Luft über euch. Der Stein muss irgendwo im Inneren der Stadt sein, bei eurem Glück wohl in den hohen, streng bewachten Türmen, die über den Dächern aufragen.
Die Luft vibriert vor Magie. Während du weiter gehst, kommst du endlich dazu, dich in Ruhe umzusehen.
Dich wundert, dass Orks etwas von solcher Schönheit und Kunstfertigkeit schaffen können. Zwar sieht man jeder Mauer an, das sie zum Kriegshandwerk geschaffen wurde – mit schwarzen Dornen im Mauerwerk, die nach oben zeigen, Schießscharten und Kanälen für kochendes Pech – doch die Art, wie die tausend Burgen ineinander übergehen, wie sich in jedem Winkel und jeder Ecke noch ein kleiner Hof für einen Hinterhalt findet, verlangt nach Bewunderung. Mit vollendetem Geschick haben die Orks jeden Flecken Erde mit Steinen überpflastert und jede Handspanne ihrer Stadt für einen langen, verwirrenden Krieg gerüstet. Fast schon liebevoll willst du ihren Blick für das Detail nennen.
Ihr scheint eine gute Zeit für euer Eindringen erwischt zu haben. Obwohl die Stadt von Kampflärm durchzogen ist, sind die Straßen größtenteils verlassen. Ab und zu torkelt ein betrunkener Ork an euch vorbei, der zweifellos aus einer der vielen schäbigen Tavernen kommt. Obwohl heller Tag ist, herrscht in den Straßen die Atmosphäre einer späten Sommernacht. Vielleicht, so überlegst du, mögen die Orks das Sonnenlicht nicht besonders und sind eher nachtaktiv. Verstehen kannst du es, denn die grässliche Rüstung wird in der Sonnenhitze immer schwerer und unbequemer. Langsam wird jeder Schritt zu einer unerträglichen Qual. Unter dem vielschichtigen Metall staut sich die Hitze, du bist dir bald sicher, dass es in deiner Rüstung heißer ist als außerhalb.
„Lass uns eine Pause machen!“, keucht auch Arthrax schließlich. „Ich kriege hier drin einen Hitzeschlag!“
Du nickst und bedauerst zutiefst, dass ihr eure Vorräte (und Wasserschläuche) bei den Pferden und dem Esel gelassen habt. Doch jedes Stück kalynorisches Gepäck könnte euch hier drinnen verraten.
In schweigender Übereinkunft sucht ihr euch einen schattigen Hinterhof und lasst euch erschöpft auf den Boden fallen.
Arthrax nimmt auch sofort den Helm ab und wischt sich den Schweiß von der dunklen Haut. Seine Dreadlocks und der geflochtene Bart kleben feucht an ihm.
„Was tust du da?“, zischt du dem Menschen zu. „Setz den Helm auf, was, wenn uns jemand sieht?“
„Hier ist doch niemand!“, protestiert Arthrax, zieht den Helm danach allerdings seufzend über sein allzu menschliches Gesicht. Du lehnst den Kopf gegen die Mauer und schließt für einen Moment die Augen. Als ihr die Rüstung angezogen habt, habt ihr eure Alltagskleidung darunter angelassen. Jetzt wünscht du dir, du hättest darauf verzichtet. Zuvor hast du dich davor geekelt, das Orkmetall mit zu viel ungeschützter Haut zu berühren. Jetzt ist dir einfach nur noch heiß.
„Zum Ork bin ich jedenfalls nicht geboren“, quatscht Arthrax nach einer Weile. „Wie halten die das aus?“
Du machst dir nicht die Mühe, zu antworten.
°°°
Die Pause erweist sich als tödlich, denn du merkst schnell, wie dich Müdigkeit überkommt. Deine Augen fallen immer wieder zu, deine Glieder werden warm und schwer. Du hast Kopfschmerzen und diverse Kratzer von der Rüstung. Es ist so verlockend, einfach für einen Moment die Augen zu schließen.
Aber nicht in der prallen Sonne, rufst du dir ins Bewusstsein. Ihr würdet beide in euren Rüstungen gebraten werden wie in einem Ofen. Mühsam streckst du dich, um die Benommenheit aus deinem Körper zu kriegen, dann stehst du auf.
„Arthrax. Wir müssen weiter.“
„Hä?“, grunzt der Krieger, der dem Schlaf offenbar weniger entgegenzusetzen hatte als du.
„Weiter“, wiederholst du ungeduldig. „Los, hoch mit dir!“
Du zerrst den Menschen an einem Ellbogen auf die Beine. Arthrax macht ein paar müde, schwammige Abwehrbewegungen. Du achtest nicht darauf, denn mit einem Mal nimmst du ein Geräusch wahr: Schritte. Schwere Schritte von eisenbeschlagenen Stiefeln, die immer näher kommen.
„Los, Arthrax!“, drängst du und willst den erschöpften Menschen aus dem Hof zerren.
„He!“, erklingt eine grunzende Stimme, zu deiner Erleichterung in der Gemeinsprache. Die Erleichterung hält nicht lange an, denn es sind Orks, die euch sofort umzingelt haben.
„Gortaqs Jungs, wie?“, fragt dich einer. „Was ist mit deinem Kumpel?“
„Betrunken“, sagst du und versuchst, den rauen, platten Akzent der Orks nachzuahmen.
Arthrax versteift sich, dann grunzt er plötzlich und lallt etwas, was niemand versteht.
„Was macht ihr hier draußen?“, geht deine Befragung weiter. „Hab gehört, am Tor hätt es Ärger gegeben.“
Du schluckst – wissen die Orks schon, dass ihr den Turm überfallen und alle Wächter niedergemetzelt habt? Du gehst davon aus, dass Gortag ein Orkanführer ist, dem auch der Turm unterstand, den ihr geräumt habt.
„Heut is unser freier Tag“, grunzt du in deiner besten Orkimitation. „Was'n für'n Ärger?“
Du weißt nicht, ob du es mit der Stimme übertrieben hast oder ob es deine Frage war – jedenfalls verengt der Ork dir gegenüber die Augen und späht nun konzentriert in deine Rüstung. „Welcher von Gortaqs Jungs biste denn?“
„Ich bin neu“, lügst du verzweifelt. Arthrax' Hand hat deinen Arm in einem Schraubstockgriff gepackt. Der fremde Ork macht einen Schritt auf euch zu und zieht mit einem lauten, schniefenden Geräusch die Luft durch die breiten Nüstern ein. „Wieso rieche ich hier Angstschweiß?“
„Scheiße“, sagt Arthrax und verliert die Nerven. Er haut dem nächststehenden Ork die Faust auf die Nase und springt durch die Lücke, deinen Arm immer noch gepackt. Im nächsten Moment rennt ihr auf die Straße hinaus und die Orktruppe nimmt heulend die Verfolgung auf.
„Schneller!“, brüllt Arthrax dir zu.
Du keuchst bereits und hast das Gefühl, das keine Luft durch die Lücken in deiner Rüstung dringt. Trotzdem folgst du Arthrax, der dich eine flache Treppe hinaufführt.
Zu deiner Linken siehst du Wasser aufblitzen. Du wirfst einen Blick zurück: Ihr seid um eine Ecke gebogen, die Verfolger sind für den Moment außer Sicht, doch schon kommen ihre Waffenspitzen hinter der Hauswand zum Vorschein.
Du packst Arthrax' Arm und lässt dich zur Seite fallen. Der Mensch stößt einen erstickten Schrei aus, als ihr fallt, dann schlagt ihr auf das Wasser auf.
Sekunden später dringt willkommene, kühle Nässe durch die Löcher im Metall. Ihr seid in einem Burggraben gelandet und die Rüstungen ziehen euch schnell nach unten. Über dir kannst du die Verfolger sehen, die auf die Treppe stürmen und sich dann verwirrt umsehen. Ihr seid in dem braunen, brackigen Wasser außer Sicht, sogar die Wellen von eurem Einsturz legen sich bereits, als die ersten Orks auf die Idee kommen, nach unten zu sehen.
Sie haben eure Spur verloren!
Dann macht sich die Panik bemerkbar: Du steckst in einer schweren Orkrüstung, die dich gnadenlos auf dem schlammigen Grund festhält, und bekommst keine Luft mehr. Mit zitternden Fingern löst du die Riemen, in deinen Ohren rauscht es laut. Der Druck auf deine Brust wächst, während du dich strampelnd aus deiner Rüstung befreist. Endlich – endlich! – fällt die Rüstung von dir und du kannst nach oben schwimmen, wo die Sonne ein verschwommener Fleck im Braun ist. Mit schnellen Stößen schwimmst du hoch, da schießt dir durch den Kopf, dass Arthrax ja auch noch irgendwo in dieser Brühe ist.
Du hältst inne und siehst dich um, aber deine Brust platzt bereits schier von der Anstrengung, die Luft anzuhalten.
Du entscheidest dich …
- … Arthrax zu suchen. Lies weiter in Kapitel 14.
[https://belletristica.com/de/books/20828/chapter/21234]
- … nach oben zu schwimmen. Lies weiter in Kapitel 15.