Mina staunte nicht schlecht, als am nächsten Abend erneut Daniel an ihre Bürotür klopfte. Noch immer war sie fest davon überzeugt, dass er auch nur ein Spiel spielte, doch seine Beharrlichkeit imponierte ihr.
„Worauf steht dir heute der Sinn?“, erkundigte er sich, während er im Türrahmen lehnte, als wäre seine Anwesenheit das Natürlichste der Welt.
Sie schloss die Programme ihres PCs und fuhr ihn runter, während sie versuchte, die Situation zu analysieren. Sollte sie einfach so tun, als fände sie sein Verhalten nicht merkwürdig? Sie legte den Kopf schräg und schaute zu ihm auf: „Ich glaube, heute brauche ich was richtig Ungesundes. Einen Burger oder so.“
Sie konnte sehen, wie Daniels Augenbrauen hochwanderten: „Burger? Du?“
Sie ließ sich in ihrem Bürostuhl nach hinten sinken, die Arme vor der Brust verschränkt: „Was? Darf ich nur grüne Smoothies trinken und Avocados essen?“
Das brachte ihr ein Lachen ein: „Wenn du es so ausdrückst, ist das natürlich Blödsinn. Trotzdem hätte ich dich nicht für jemanden gehalten, der so etwas Primitives mag.“
Noch immer ließ sie Arme vor der Brust gefaltet: „Primitiv? Hast du überhaupt schon einmal Burger gegessen? In einem guten American Diner sind solche Burger höchste Kunst! Das ist eine Geschmacksexplosion!“
Abwehrend hob Daniel beide Hände: „Schon gut, schon gut. Ich sag ja schon gar nichts mehr. Also, holde Maid, darf ich dich zu einem Burger einladen?“
Sie erhob sich, um ihren Mantel anzuziehen, doch ihre Skepsis blieb: „Warum habe ich das Gefühl, dass du mit niederen Motiven an diese Sache rangehst?“
Er grinste sie schief an: „Kommt immer darauf an, was du als niedere Motive bezeichnest.“
Kopfschüttelnd folgte sie ihm zu seinem Auto. Obwohl er sich zuvor so abfällig über Burger geäußert hatte, schien er genau zu wissen, wo er hinfahren wollte. Während sie schweigend neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, grübelte sie erneut darüber nach, was seine Motive sein konnten. Er hatte es bei ihrem ersten Wiedersehen deutlich gemacht, wie wenig er von ihr hielt. Offensichtlich konnte er ihr noch immer nicht verzeihen, dass sie seiner Charmeoffensive während der Uni widerstanden hatte und dass Henrik ihr bester Freund war. Jetzt jedoch war davon nichts mehr zu spüren. Vielleicht versuchte er auch einfach nur das zu erreichen, was er damals nicht schaffen konnte? Vielleicht musste er sich selbst beweisen, dass er sie doch noch ins Bett bekommen konnte? Wenn dem so war, hätte er leichtes Spiel. Sie würde sich seinen Avancen dieses Mal nicht entziehen, zumindest solange nicht, wie es nicht ernst wurde. Zwei konnten das Spiel der Verführung spielen.
Erfreut registrierte sie, dass Daniel tatsächlich das Hard Rock Café angesteuert hatte. Es mochte nicht so hip und angesagt sein, wie irgendein kleiner Geheimtipp am Rande der Stadt, doch hier wusste sie, dass sie auf jeden Fall einen richtig guten Burger bekommen würde.
Sie ließ zu, dass er ihr den Mantel abnahm, nachdem sie das Restaurant betreten hatten, und setzte sich an einen der wenigen freien Tische. Unter der Woche konnte man hier tatsächlich spontan vorbeikommen, an anderen Tagen war ohne Reservierung nichts möglich.
„Also, erzähl mal“, forderte sie Daniel auf, nachdem sie beide bestellt hatten, „was genau machst du eigentlich? Führst du tatsächlich an Stelle deines Vaters das Unternehmen?“
Er hob beide Hände: „So kann man es ausdrücken. Es war nicht unbedingt mein Plan gewesen, obwohl natürlich mein Studium mich darauf vorbereitet hat. Aber eigentlich hatte ich zumindest für einige Jahre unabhängig von der Familie leben wollen.“
Mina grinste breit: „Du meinst, das wilde Party-Leben genießen?“
Gespielt verärgert beugte Daniel sich über den Tisch und hob einen Zeigefinger: „Kluge Mädchen glauben nicht alles, was die Klatschpresse so schreibt.“
„Die Bilder sprachen für sich.“
Naserümpfend verschränkte er seine Arme vor der Brust: „Ich habe nie verstanden, was die alle so schlimm fanden. Welcher ungebundene Mann Mitte zwanzig geht nicht ab und zu am Wochenende Party machen und nimmt dann ein hübsches Mädel mit nach Hause? Ich finde, das ist völlig normal, aber bei mir wird direkt ein großer Wirbel drum gemacht.“
„Man sollte meinen, als Sohn einer reichen Familie, die regelmäßig in der Presse ist, hättest du irgendwann gelernt, dass für das einfache Volk andere Regeln gelten als für die Reichen und Schönen“, gab Mina ungerührt zurück. Sie hatte sich nie für Klatsch und Tratsch interessiert, aber natürlich war das etwas anderes, wenn man die involvierten Personen kannte.
„Gelernt hab ich das“, schoss Daniel zurück, „aber das heißt nicht, dass ich das toll finde. Vor allem ist es völlig heuchlerisch. Wenn die eine schöne Frau an meinem Arm sehen, schreiben sie immer Lobeshymnen über mich, aber wenn ich dann später mit einer anderen gesehen werde, hassen mich alle. Entweder bin ich ein wohlhabender Bachelor und Gentleman, für den sich jede vernünftige Frau natürlich interessieren muss, oder ich bin ein aufgeblasener Casanova, der nur die dummen, naiven Frauen um den Finger wickeln kann. Beides gleichzeitig geht nicht.“
Mina nahm einen Zug von dem Cocktail, der ihr gerade gebracht worden war, und dachte nach. So hatte sie das tatsächlich noch nicht betrachtet. Sie hatte nur immer gewusst, wie sehr Daniel das Rampenlicht liebte. Die Schattenseiten davon waren ihm aber vermutlich trotzdem nicht lieb. Sie stellte ihr Getränk zurück und legte den Kopf schief: „Und trotz all den Problemen gehst du mit mir aus, sogar mehrfach hintereinander? Hast du keine Angst, dass die gleiche Geschichte wieder losgeht?“
„Noch gibt es ja keine Bilder von uns beim Rummachen“, gab Daniel gelassen zurück, doch die Art, wie er ihr danach für einen Moment länger als üblich in die Augen schaute, sandte eine deutliche Botschaft an Mina. Er hätte nichts dagegen, wenn es soweit kommen würde.
Mit einem Hauch von Rot auf den Wangen wehrte sie direkt ab: „Die wird es auch nicht geben. René und ich haben zwar theoretisch eine Pause, aber das heißt nicht, dass ich mich dir an den Hals schmeiße.“
„Der Hass auf mich sitzt wohl zu tief?“
Beinahe hätte Mina sich an ihrem Cocktail verschluckt. Musste Daniel immer so plötzlich die Stimmung ändern? War das seine Masche, mit der er andere Frauen so spielen leicht ins Bett bekam? Er beobachtete sie aufmerksam, ernst, mit derselben Intensität, die auch in seiner Stimme gelegen hatte. Mina wusste, dass es nur aufgesetzt war, dass er es nicht ernst meinte, dass er nur versuchte, irgendeinen Vorteil aus der Situation zu schlagen.
Und doch.
Ihr Herz schlug schneller und scherte sich nicht um der Warnung ihres Verstandes. War sie so ausgehungert, dass jedes Anzeichen von Verlangen sie so aus der Bahn warf? Erst Henrik, jetzt Daniel? Warum nur konnte René ihr nicht auch dieses Gefühl geben, dieses wundervolle Gefühl, als Frau mit Haut und Haar begehrt zu werden?
„Ich hasse dich nicht“, entgegnete sie schwach: „Schon gar nicht nach all der Zeit. Ich bin nur einfach … wir kennen uns doch gar nicht wirklich, Daniel.“
Wieder beugte er sich weit über den Tisch zu ihr, wieder schaute er sie so aufmerksam an, dass sie beinahe den Wunsch hatte, vor ihm zu fliehen: „Ich arbeite aber doch gerade daran, das zu ändern.“
Es war ihr Plan gewesen, ihm näher zu kommen, doch das hier ging zu schnell. Sie wollte einfach nur seine Gunst, damit ihre Vergangenheit nicht mehr zwischen ihnen stand und sie einen guten Geschäftsabschluss organisieren konnte. Vielleicht war es besser, wenn sie auf die Bremse trat, ehe er sie so in die Ecke drängte, dass sie am Ende noch etwas Dummes tat. Sie gab sich einen Ruck: „Das sehe ich und ich gebe zu, es überrascht mich. Wenn du so weiter machst, werden wir am Ende doch noch Freunde.“
„Freunde?“
Sein überrascht-ironischer Tonfall signalisierte Mina deutlich, dass das definitiv nicht sein Ziel gewesen war, doch sie würde ihm nicht mehr geben. Nicht jetzt, nicht so früh. Nicht, wenn diese ganze Scharade ihr Herz so durcheinander brachte: „Mann und Frau können auch Freunde sein, weißt du? Man muss nicht zwingend miteinander im Bett landen.“
Zu ihrer Erleichterung verschwand der intensive Ausdruck von Daniels Gesicht und machte stattdessen wieder der typischen, leicht überheblichen Miene Platz: „Sicher, das hat bei Harry und Sally ja auch so gut geklappt.“
Überrascht schaute sie ihn an: „Du kennst den Film?“
Amüsiert zuckte er mit den Schultern: „Wer kennt den Film nicht? Die Orgasmus-Szene ist doch legendär. Und es ist doch der Film schlechthin, wenn es um die Frage geht, ob Männer und Frauen auch bloß Freunde sein können.“
Streng blickte sie ihn an: „Der Film beweist gar nichts. Die zwei hatten von Anfang an so eine deutliche Spannung zwischen ihnen, das wäre nie was geworden. Ganz schlechtes Beispiel. Und überhaupt, was ist mit homosexuellen Menschen? Eine Frau, die nur auf Frauen steht, kann nach der Theorie also nicht mit einem Mann befreundet sein, der nur auf Männer steht?“
Zufrieden beobachtete sie, wie Daniel plötzlich verwirrt dreinschaute: „Das … das hab ich jetzt ja auch nicht gemeint. Mensch, Mina, mit dir kann man echt nicht reden.“
„Wieso?“, gab sie angriffslustig zurück: „Weil ich am Ende immer die besseren Argumente hab? Sorry, dass ich klüger bin.“
Schmollend verzog Daniel den Mund: „Besserwisserin. Ich wollte einfach nur … ach, egal.“
Lachend tätschelte sie ihm den Arm: „Schon gut, Dan, kein Grund, dich schlecht zu fühlen. Es haben schon ganz andere gegen mich verloren.“
„Das ist ja nicht zum Aushalten!“, beschwerte Daniel sich, doch Mina konnte sehen, dass er selbst kaum ein Lachen unterdrücken konnte.
Ihre Burger kamen und für den Rest des Abends genoss sie es, mit einem Menschen zusammen zu sein, der so ganz anders war als René und Henrik. Sein Selbstbewusstsein und seine so ganz andere Lebensanschauung machten ihn zu einem erstaunlich interessanten Gesprächspartner, vor allem dann, wenn er nicht auf Teufel komm raus mit ihr flirten wollte.
***
Der Rest der Woche verging für Mina in einem Wirbel aus komplizierten Gefühlen, wundervollen Abendessen und kurzen Nächten. Irgendwie hatte es sich in ihre Routine geschlichen, dass sie abends noch einige Zeit mit Henrik auf der Couch verbrachte, entweder beide still lesend oder bei einem Glas Rotwein in eine Unterhaltung vertieft, nur um später in der Nacht schwitzend und mehr als befriedigt nebeneinander zu liegen, nachdem sie sich stundenlang durch die Laken gewälzt hatten. Henrik lernte immer mehr, ihr zu geben, was sie brauchte. Es fühlte sich gut an, es fühlte sich wie eine Beziehung an, und nach ihrem letzten Streit war die aggressive, besitzergreifende Seite von Henrik auch nicht erneut zum Vorschein gekommen. Er machte ihr morgens ein Frühstück, stellte keine Fragen, wenn sie spät heimkam, sondern im Gegenteil hörte aufmerksam zu, wenn sie sich über ihre Arbeit beklagte oder davon schwärmte, welche Fortschritte sie mit diesem oder jenen Projekt erreicht hatten.
Und spät heimkommen tat sie inzwischen jeden Abend. Jeden Tag in dieser Woche war Daniel von Hohenstein kurz vor Feierabend bei ihr aufgetaucht, immer dann, wenn alle ihre Kolleginnen gerade nicht da waren, hatte angeklopft, einige freundliche Worte mit ihr gewechselt und sie dann in ein immer neues Restaurant zum Essen ausgeführt. Er hatte ihr keine weiteren Fragen über ihr Liebesleben gestellt, sondern sich stattdessen mit ihr über politische Entwicklungen im Land unterhalten oder ihr den neuesten Tratsch aus der Gesellschaft der oberen Zehntausend erzählt. Und obwohl sein Auftauchen von Tag zu Tag merkwürdiger wurde, entspannte sie sich doch von Tag zu Tag mehr in seiner Gegenwart.
***
Wie immer mehr als gesättigt ließ Mina sich auch an diesem Freitagabend von ihm in ihren Mantel helfen. Sie waren irgendwo im Norden der Stadt in einem winzigen Dorf, das noch im vorigen Jahrhundert stehengeblieben zu sein schien, und hatten in einer kleinen Kneipe ein herrliches Bauerfrühstück gegessen. Zufrieden mit sich und der Welt wickelte Hermine sich in ihren warmen Schal. Sie hatte die Woche über keinen Kontakt zu René gehabt, wollte ihm aber am Wochenende sagen, dass es wohl endgültig vorbei war. Ihre Beziehung zu Henrik entwickelte sich prächtig, und Daniel erwies sich als guter Zuhörer, der vielleicht auch über ihre Aufgabe vom FFF hinaus eines Tages ein Freund für sie werden könnte. Innerhalb von nur wenigen Tagen hatte sich die Misere ihres Lebens grundlegend gedreht. Das einzige, was sie noch immer belastete, war, dass sie sich fühlte, als würde sie fremdgehen und ihren Freund betrügen.
In einer inzwischen vertrauten Geste legte Daniel ihr eine Hand auf den Rücken, um sie durch die Kneipe nach draußen zu begleiten. Kaum waren sie durch die Tür getreten, blieb Mina überrascht stehen.
„Es schneit!“, rief sie begeistert.
Fröhlich trat sie unter dem Vordach hervor, breitete sie Arme aus, das Gesicht zum Himmel gereckt, und ließ sich von den lautlosen, dicken Flocken berieseln. Es musste schon eine ganze Weile unbemerkt von ihnen geschneit haben, denn die Landschaft war von einer dicken Schicht Puderzucker überzogen. Unwillkürlich musste sie lachen, als eine Schneeflocke genau auf ihrer Nasenspitze landete.
„Noch nie Schnee gesehen, Mina?“, fragte Daniel amüsiert.
Sie ließ sich von seinem abfälligen Getue nicht die Laune verbergen. Grinsend erklärte sie: „Natürlich hab ich das! Aber der erste Schnee im Jahr ist doch immer was Besonderes! Jetzt ist wirklich Weihnachten!“
Übermütig packte sie ihn bei der Hand und zog ihn hinaus ins Schneegestöber: „Komm schon, du Eiszapfen, geselle dich zu deinesgleichen!“
„Eiszapfen?“, kam es spöttisch von Daniel, der sich gespielt unwillig von ihr aus dem Schutz des Vordaches ziehen ließ.
„So, wie du da stehst, siehst du aus, als wärst du an der Stelle festgefroren“, erwiderte sie lachend. Dass seine helle Haut und seine elegante Haltung eher an einen Eisprinzen erinnerten, sagte sie ihm lieber nicht. Sie musste sein Ego nicht noch mehr streicheln.
„Ich hätte mich wirklich mehr um dich bemühen sollen!“, murmelte Daniel: „Wenn ich gewusst hätte, dass du so locker drauf sein kannst …“
Mina, die sich noch einige Male überglücklich um sich selbst gedreht hatte, hielt in ihrer Bewegung inne und schaute Daniel ernst an. Sie wollte ihm so gerne sagen, dass sie seine Gegenwart genoss. Aber sie wusste nicht, wie sie das tun sollte, ohne dabei komisch zu wirken. Und sie hatte Angst, dass er sich verraten fühlen würde, wenn sie bald wieder auf den eigentlichen, geschäftlichen Sinn ihrer erneuten Bekanntschaft zu sprechen kam.
„Du siehst aus wie ein Kind“, meinte Daniel abfällig: „Schnee in den Haaren und deine rote Nasenspitze. Und wie du hier rumtanzt. Ehrlich, wie alt bist du?“
Gespielt verärgert stemmte sie ihre Fäuste in die Hüften: „Tut mir leid, dass ich Spaß habe, Opa!“
„Hey, so viel älter bin ich nun auch wieder nicht! Wenn ich ein Opa bin, dann bist du eine Oma!“
Laut lachte Mina auf. Trotz ihrer freundschaftlichen Annäherung war doch eines gleich geblieben: Daniel hatte noch immer seine scharfe Zunge und setzte sie gerne gegen sie ein. Doch ohne die giftige Arroganz von früher dahinter waren seine Kommentare längst nicht mehr so beleidigend. Im Gegenteil, Mina genoss das Schäkern mit ihm. Wo sie sich früher von seinen Flirtversuchen bedrängt gefühlt hatte, konnte sie jetzt seinen ganzen Charme sehen.
„Wer weiß“, antwortete sie grinsend: „Vielleicht stehst du ja auf alte, faltige Frauen?“
Daniel verzog angewidert sein Gesicht, was ihm einen spielerischen Schlag gegen die Schulter einbrachte. Mina fragte sich, ob irgendetwas in ihrem Wein gewesen war, dass sie sich so gut, so aufgekratzt fühlte.
Und plötzlich hatte Daniel sie mit beiden Armen umschlungen, sie an seine Brust gezogen und fest an sich gepresst. Ihr Lachen erstarb. Das war neu. Das hatte er vorher nie getan. Mit klopfendem Herzen wartete sie darauf, dass er irgendeinen spitzen Kommentar brachte, doch er hielt sie einfach nur fest.
„Dan?“, fragte sie vorsichtig und legte den Kopf in Nacken, um ihm in die Augen schauen zu können.
Ein undeutbares Funkeln lag in seinen Augen, als er ihren Blick erwiderte. Eine Hand wanderte hoch, griff in ihre Locken, während die andere tiefer als zuvor wanderte und auf ihrem Hintern zu liegen kam. Ehe Mina realisierte, was hier geschah, hatte Daniel sich ein Stück hinunter gebeugt und seine warmen Lippen auf ihre gepresst.
Entsetzt stieß Mina ihn von sich: „Was zur Hölle sollte das denn?“
In offensichtlicher Verwirrung richtete Daniel sich wieder auf: „Ich dachte… ich dachte, du magst mich?“
„Ja, das tue ich ja auch!“, erwiderte sie heftig nickend: „Aber doch nicht so!“
„Wie denn dann?“
„Ich dachte, wir wären Freunde!“, erklärte sie, während sich plötzlich ein Schwindelgefühl in ihr breit machte: „Oder zumindest, dass wir auf dem Weg dahin sind, Freunde zu werden.“
„Freunde?“, wiederholte Daniel, der offenbar noch immer noch verstand, was sie da sagte: „Freunde? Mina, wie können wir denn Freunde sein?“
Unwillkommene Tränen stiegen in ihr auf: „Was soll denn das jetzt heißen? Warum können wir keine Freunde sein? Wir verstehen uns doch gut! Ich verbringe gerne Zeit mit mir. Und du auch mit mir! Oder nicht?“
Wortlos starrte Daniel sie an, dann wandte er sich ab und ging einfach davon. Er konnte nicht glauben, dass er sich gerade so blamiert hatte. Wenn Mina Richter nicht in ihn verliebt war, sah seine Aktion gerade ganz schön peinlich aus. Er war sich so sicher gewesen. Sie hatte doch gesagt, dass es da einen anderen Mann neben René gab. Und sie hatte sich bereitwillig von ihm zum Essen ausführen lassen. Hatte heftig mit ihm geflirtet, ganz natürlich und nicht verstellt. Er selbst hatte sogar Spaß daran gehabt. Und jetzt wollte sie sich nicht küssen lassen? Nur Freunde? Zum Teufel damit! Dafür hatte er nicht seine ganze Zeit investiert!
„Dan!“, erklang ihre Stimme hinter ihm: „Warte! Jetzt bleib doch mal stehen.“
Unwillig drehte er sich wieder zu ihr um: „Was gibt es denn noch?“
Er wollte nur noch weg von hier, weg von ihr. Was musste sie denken? Am Ende kam sie noch auf die Idee, dass er in sie verliebt war. Er verfluchte seine Mutter, dass sie ihn dazu angestiftet hatte, nett zu Mina zu sein. Das war gründlich schief gegangen.
„Es tut mir leid“, sagte Mina leise: „Ich wusste nicht, dass du so fühlst. Ich dachte wirklich, dass wir … als Freunde abends zusammen essen.“
Wenn es für ihn nicht so blamabel gewesen wäre, hätte Daniel am liebsten gelacht. Er in sie verliebt? Was Mina sich da einbildete. Seufzend fuhr er sich durch sein Haar: „Sorry. Das mit dem Kuss. Ich dachte, wir wären uns da einig. Hab ich wohl falsch interpretiert.“
Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, diese Worte zu sagen. Er durfte jetzt nicht einfach wegschmeißen, was er die Woche über so mühevoll aufgebaut hatte. Er musste seinen Stolz schlucken, um seine Familie zu schützen. Er musste einen Weg finden, dass er sie auch nach diesem Debakel wiedersehen konnte. Er musste sie einfach wiedersehen.
„Nein, nein!“, entgegnete Mina heftig: „Ich sollte mich entschuldigen! Ich hätte viel früher schalten sollen … ich war einfach zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Es tut mir leid, Dan. Ich mag dich, aber als Freund.“
Er nickte. Was sollte er dazu auch groß sagen? Wenn er ihr nicht ins Gesicht sagen wollte, dass er gar keine Gefühle für sie hatte, konnte er gar nichts dazu sagen. Tief holte er Luft: „Okay. In Ordnung. Es ist okay. Ich würde dich trotzdem gerne wiedersehen. Als Freunde.“
Er hatte das Gefühl, an seinen eigenen Worten ersticken zu müssen. Als Freunde, ja sicher. Als ob er sich mit Mina anfreunden wollte. Doch er musste sich die Tür offen halten. Ungeduldig und mit rasendem Herzen wartete er auf ihre Antwort.
„Klar, gerne“, nickte sie eifrig: „Ich meine es wirklich ernst. Ich glaube, wir sind alle erwachsen geworden. Ich kann ganz offen sagen, ich mag dich. Unsere Gespräche sind toll. Ich will dich auch gerne wiedersehen.“
Daniel zwang sich ein Lächeln auf die Lippen: „Danke. Aber wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gerne … einfach nicht mehr drüber reden. Okay?“
Wieder nickte Mina bloß übertrieben verständnisvoll: „Aber klar, verstehe ich. Lass uns einfach fahren. Du kannst mich an irgendeiner Bushaltestelle absetzen.“
Sofort schüttelte Daniel den Kopf: „Hey, Madam. Ich mag ja in deinen Augen immer noch ein Arschloch sein, aber ich werde sicher keine Frau um Dunkeln und in der Kälte irgendwo absetzen. Ich fahre dich gerne bis zur Tür.“
Dankbar lächelte Mina ihn an. Sie wollte nicht es nicht zugeben, aber sie hatte auf so ein Angebot gehofft. Die Vorstellung, irgendwo am Stadtrand auf einen Bus warten zu müssen, hatte ihr nicht behagt. Und zu ihrer Erleichterung gelang es ihnen, auf der Rückfahrt zu unverfänglichem Smalltalk zurückzukehren.
Erst, als Daniel sie in ihrer Straße abgesetzt und davon gefahren war, ging Mina auf, dass sie gerade eine einmalige Gelegenheit versäumt hatte. Es war doch ihr Anliegen gewesen, Daniel um den Finger zu wickeln. Warum hatte sie den Kuss unterbrochen, statt die Situation auszunutzen und ihn endgültig auf ihre Seite zu ziehen? War es wirklich so schlimm, dass er sie geküsst hatte?
Immerhin hatten sich seine Lippen wundervoll weich und einladend angefühlt.
Kopfschüttelnd stapfte sie das Treppenhaus hoch. Es wurde wirklich Zeit, dass sie René reinen Wein über den Status ihrer Beziehung einschenkte, damit sie sich ganz auf ihre Gefühle für Henrik konzentrieren konnte. Dass jeder dahergelaufene Mann ihre Hormone plötzlich so in Aufruhr versetzen konnte, war ein deutliches Zeichen, dass sie ihre Beziehung beenden und ganz langsam eine neue aufbauen musste.