https://www.deviantart.com/ifritnox/art/753484203
Ein kleines Holzschild, halb in einem Holunderbaum versunken, verkündete den Reisenden, dass sie Eschenhügel erreicht hätten.
Noch war von der Siedlung nicht viel zu sehen als der Weg, der gut gepflegt und mit weißen Steinen gesäumt durch das Dickicht führte. Je weiter ihr Weg die Kinder der Sonne fort von Antordia führte, desto mehr Sträucher und Büsche waren auf der immer weiter wachsenden Klippe erschienen, bis sie unmerklich ein kleines Wäldchen betreten hatten. Im Vergleich mit dem Wald der Seen und den Dschungeln machte sich dieser Klippenwald wie ein junges Kind aus. Die Bäume und Büsche waren niedrig, nur am Rand der Klippe standen einige hohe, vom Wind zerzauste Eschen. Immer wieder kamen sie an großen Hainen vorbei, Apfel- und Kirschbaumwiesen, von weißen Holzzäunen eingerahmt. Es gab große Lichtungen voller Blumen, die zum Spielen einluden. Schließlich glitt die Straße aus dem Wald heraus und die Gruppe fand sich zwischen weiten Feldern wieder, die zumeist bereist abgeerntet waren. Die Straße wurde hier von Sonnenblumen gesäumt, es gab Weiden mit großen, braunen Kühen oder Schafen darauf, einige liebevoll dekorierte Vogelscheuchen und unzählige Vögel, die sich nicht abschrecken ließen. Die Szenerie wirkte im Sonnenschein so friedvoll wie in einem Märchen und Iljan fühlte sich überdeutlich daran erinnert, was er in diesem Land überhaupt suchte. Vor seinen Augen ausgebreitet lag das Ziel dieser gefährlichen Mission: Ein friedliches, beschauliches Leben im Grünen, ohne Prunk und Förmlichkeit.
»Lasst uns ein wenig in Deckung gehen«, Merkanto riss Iljan unsanft aus den Träumereien. Der Magier wies nach einer Scheune, die am Rand eines leeren Feldes stand.
Sie überquerten das Feld eilig, doch auf den umliegenden Feldern rührte sich nichts als die Vögel. Die Scheune erwies sich als gefüllt mit Heu und Stroh, doch es blieb noch genug Platz für die kleine Gruppe und ihr Gepäck. Stella versenkte überglücklich den Nüstern im nächsten Heuhaufen.
»Wir warten hier bis zur Dämmerung«, sagte Merkanto leise. »Solange niemand kommt, aber lasst uns hoffen, dass wir hier ungestört bleiben. Sobald es dunkel wird, suchen wir nach dem Friedhof. Am besten ist es vielleicht, wenn nur Iljan und Jackie gehen und uns holen, sobald sie den Friedhof gefunden haben.«
Iljan nickte und Jackie tat es ihm gleich. Dann war bis auf das leise Kauen von Stella und das Krächzen der Vögel auf dem Feld nichts mehr zu vernehmen. In der Scheune war es nicht warm, doch um einiges wärmer als draußen. Bald sank die Gruppe auf dem weichen Stroh in einen sanften Dämmerschlaf.
Als das Licht nachließ, stand Iljan schließlich auf und Jackie setzte sich schweigend an seine Seite, als er hinaus trat. Sie liefen Seite an Seite über das Feld, fast wie früher, wenn sie gemeinsam durch die Eislande gestreift waren, fernab von allen anderen Lebewesen (oder Untoten), ganz auf sich allein gestellt und frei.
»Wie geht es dir?«, fragte Iljan leise, während Jackie die Nase in den Wind hob und schnupperte.
Sie sah ihn überrascht an. »Gut …«
Er lächelte, legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. »Ich hab dich nicht vergessen, Jackie. Tut mir leid, wenn du das geglaubt hast.«
Sie erwiderte die freundschaftliche Umarmung. »Schon gut. Du kommst eben nach deinem Vater!«
»Miststück«, zischte Iljan. Jackie hatte sich, in weiser Voraussicht auf die Attacke, die auf einen solchen Vorwurf folgen musste, nach vorne fallen lassen, in eine Wölfin verwandelt und war davon geschossen. Er hielt nur noch ihr Hemd in den Händen.
Iljan hörte sie vor sich übermütig bellen, doch die kleine, rote Wölfin war im hohen Gras nicht mehr zu sehen.
»Na warte!«, rief er – nicht besonders laut, aber er wusste, dass sie ihn hörte – und nahm die Verfolgung auf.
Zielsicher folgte Jackie dem Duft nach Chrysanthemen. Sie konnte die kleine Siedlung riechen, die einen gemütlichen, erdigen Geruch ausströmte. Einzelne Häuser lagen weit voneinander entfernt, Eschenhügel bestand hauptsächlich aus Wiesen und Weiden und Feldern. Hier und da mischte sich der Duft von Fallobst in die Nachtluft, doch Chrysanthemen gab es nur an einem einzigen Ort, der abgelegen, von Teichen und Trauerweiden umringt, im Wald verborgen lag.
Sie wusste, dass Iljan ihr folgte, doch konnte sie ihn nicht länger hören. Zusätzlich zu ihrer Geschwindigkeit und der Fähigkeit zur Hypnose besaßen Vampire auch die enervierende Fähigkeit, lautlos durch die Luft zu gleiten wie eine Eule. Er könnte direkt über ihr sein, doch sie würde ihn nur kurz vor dem Angriff bemerken. Es war geradezu unheimlich, wie sich Vampire und Werwölfe dazu entwickelt hatten, den jeweils anderen zu übertrumpfen und zu jagen.
Jackie erreichte den offenen Bereich im Wald un verlangsame ihre Schritte. Sie witterte aufmerksam, konnte aber nichts riechen. Sorge machte sich in ihr breit. Wenn Iljan nun etwas zugestoßen war? Konnten Jäger im hohen Gras verborgen gelauert haben und sie hatte nicht mitbekommen, wie man ihren besten Freund gefangen nahm?
Im nächsten Moment fand sie sich seitlich auf der Erde wieder und spuckte Dreck aus. Eine Hand war an ihrem Hals, eine andere drückte ihre Flanke nach unten. Sie schnappte nach dem Fremden und beruhigte sich erst, als sie ein vertrautes Lachen hörte.
»Iljan!«, sie hatte sich verwandelt und presste sich mit dem Bauch an den Boden. »Was sollte das!«
»Das, meine Liebe«, Iljan warf ihr das Hemd zu, das sie fallen gelassen hatte, »war die süße Rache!«
»Mistkerl!«, schimpfte sie und zog sich das Hemd über, ehe sie aufstand. Ihre Beine und Arme waren mit schwarzer Erde bedeckt. Sie sah an sich herunter und seufzte.
»Wir finden noch einen Bach, um dich abzuwaschen«, lachte Iljan, ehe auch er ernst wurde. »Ist das hier der Friedhof?«
Sie sahen sich um und Jackie erkannte, dass ihr Instinkt sie nicht getrogen hatte. Sie befanden sich zwischen unzähligen Seen in einem sumpfähnlichen Abschnitt des Waldes. Große Trauerweiden wuchsen rings um sie, doch ansonsten war der Wald hier eher leer. Der Boden war bedeckt mit länglichen Hügeln. Die großen Grabsteine, aus grauem Stein, waren schlicht beschriftet, die Wege und die Bereiche zwischen den Gräbern sorgsam gepflegt. Und auf jedem Grab wuchsen Chrysanthemen oder standen in schlanken Vasen, hier und da flackerte sogar eine abbrennende Kerze. Mondlicht spiegelte sich auf den Seen.
»Das ist der schönste Friedhof, den ich je gesehen habe«, murmelte Iljan.
Jackie nickte. Friedhöfe gab es im Schattenland wahrlich genug, doch sie waren Heimat von Geistern, Zombies und ähnlichen Schrecken, unheimliche Steinstädte mit verwitterten Statuen und den gähnenden Öffnungen der Mausoleen.
»Er verdient den Namen, hier ist es wirklich friedlich«, sagte sie. »Komm, holen wir die Anderen.«
Im Schuppen war Gudrun auf eine Ansammlung von Gartengeräten gestoßen und so war die Gruppe, als sie Jackies Führung zum Friedhof folgte, mit Harken, Schaufeln und Hacken ausgestattet.
Es war so dunkel, dass Terziel kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, doch Jackie – zeitweise abgewechselt von Abarax – führte sie geschickt auf breite Wege, sodass sie nicht in Gefahr gerieten, zu stürzen.
Der Friedhof war dunkel, jedoch nicht still. Mäuse raschelten im Unterholz, Eulen raschelten missmutig in den Bäumen, Igel schnauften gemütlich über die Gräber. Für einen Ort der Toten blühte der Friedhof nur so vor Leben, vermutlich, da die Tiere hier die meiste Zeit ungestört verleben durften. Zwar waren die Gräber gepflegt, doch dazwischen erhoben sich Inseln der Wildnis, die möglicherweise kein Lebewesen außer der Tierwelt je betrat.
Iljan erwartete sie bereits.
»Dieses hier ist erst eine Woche alt«, erklärte der Vampir leise und führte sie zu einem Grabhügel, den er in der Wartezeit ausgesucht hatte. »Ein Mann, er ist 111 Jahre alt geworden. Er könnte ideal sein, was denkst du, Abarax?«
Jackie erstarrte und dann wurden ihre Augen noch dunkler, als der Nachtmahr übernahm. »Das müsste reichen. Ich denke nicht, dass er einen gewaltsamen Tod gestorben ist.«
Iljan warf einen Blick zum Himmel. Die Nacht war bereits vorangeschritten.
Dem Engel gefiel die Sache nicht, nun, da sie hier waren. Er wusste, dass Abarax einen Wirtskörper brauchte und dass Jackie, selbst wenn sie ihn akzeptiert hatte, ihn unterbewusst dennoch abstieß. Ein Nachtmahr brauchte, wie die meisten Dämonen, Kraft, um ein fremdes Bewusstsein zu übernehmen. Sogar eine Übernahme, die in Einstimmung erfolgt war, kostete Kraft, denn der Wirt focht unterbewusst einen heftigen Kampf aus.
Doch einen Friedhof zu entehren … Terziel hätte vor einigen Wochen noch jeden getötet, der einen solchen Gedanken nur in Betracht zog. Auch jetzt fühlte er sich unwohl. Der Widerstreit in ihm war heftig: Er musste seinen Bruder retten, natürlich, aber er verstieß damit gegen seine felsenfesten Prinzipien.
Schließlich drückte er Gudrun die kleine Gartenschaufel in die Hand, die er bei sich trug. »Ich halte Wache.«
Mit schnellen Schritten, den Kopf gesenkt, entfernte er sich von dem Grab. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit angepasst, auch strahlte der Mond hell. Terziel suchte sich einen Ort im dichten Unterholz, verbarg sich in dessen Schatten und wartete.
Ein dumpfes Geräusch, als die Schaufel auf Holz stieß. Abarax konnte es nicht länger erwarten und drängte sich vor an Jackies Augen. Plötzlich mit Blindheit geschlagen, stieg Panik in der Werwölfin auf, doch sie verstand schnell, dass ihr keine Gefahr drohte.
Abarax spürte, dass sie sich danach sehnte, ihn loszuwerden. Es war keine persönliche Abneigung, auch das wusste er. Für sie beide war es eine harte Zeit gewesen, für ihn mehr als für Jackie. Er musste, bildlich gesprochen, durch ihren Geist wandern, immer auf der Hut vor gefährlichen Schutzmechanismen, die ihm schaden könnten. In Jackies Geist gab es keinen aktiven Widerstand, trotzdem versuchte ihr Geist, sich seine Individualität zu behalten. Auf Dauer konnte Abarax die Wölfin in den Wahnsinn treiben. Viel zu leicht könnte er ihre Gedanken mit einer Berührung vergiften, schon jetzt wuchs Jackies Paranoia darüber, welche Gedanken ihr und welche ihm gehörten.
Jede dieser Fragen war wie eine Speerspitze, die Abarax zur Flucht zwang. Er musste metaphorisch in Bewegung bleiben, keine leichte Übung, nachdem er kurz zuvor beinahe gestorben war. Er war erschöpft. Doch auch Schlaf konnte er hier nicht wirklich finden, nicht, solange Jackies Körper wach blieb. Dann konnte er sich zwar zurückziehen, einigeln und ausruhen, doch Erholung fand er nicht.
Als der Sarg geöffnet wurde und er das Antlitz eines ältlichen, doch freundlichen Hobbits erblickte, war das Ende der Marter gekommen.
Der Leichnam war frisch, doch die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Der Halbling war untersetzt und dicklich, er hatte ein gemütliches Leben geführt, ganz anders als die Hüllen, die Abarax bevorzugte. Die Angehörigen hatten den Verstorbenen fein angezogen und seine weißen Haare gekämmt. Für einen kurzem Moment fühlte Abarax ein schlechtes Gewissen. Doch niemand würde erfahren, was geschehen war. Der Tote würde sich kaum beschweren und seine Familie würde nicht wissen, dass die Leiche fort war. Es entstand kein Schaden.
»Das kann eine Weile dauern«, teilte er über Jackies Mund mit, dann strömte er hinaus in die kalte Luft und hinein in den Leichnam, der etwas weniger kalt war.
Sofort machte er sich an die Arbeit. Der Halbling war friedlich im Schlaf gestorben, was für Abarax bedeutete, dass er zum Glück keine tödlichen Wunden heilen musste. Doch er musste eingetrocknete Blut- und Nervenbahnen in Bewegung bringen, die Leichenstarre vertreiben und den beginnenden Verfall rückgängig machen.
Jackie fand sich auf der kalten Erde wieder. Iljan half ihr langsam auf die Beine.
»Wie fühlst du dich?«
Sie fühlte sich leer, unsicher, wie ein Greis, dem man den Stock abgenommen hatte.
»Besser«, antwortete sie und rieb sich die Stirn.
Abarax' neuer Körper lag neben dem geöffneten Sarg. Gerade setzte Merkanto den Deckel zurück auf die Holzkiste.
Sie ließen den Sarg zurück in die Erde. Dann schritt Iljan ein.
»Wartet«, sagte der Vampir. Er griff an sein Hemd und löste die rote Nadel, die es am Hals zusammen gehalten hatte und seit ihrem Aufbruch von Wisan nur noch als Dekoration diente. Iljan warf die Nadel in das leere Grab.
»Wir haben nichts von Askook und Najaxis, um sie zu begraben«, erklärte er dann leise. »Aber wir haben hier ein Grab, das sonst leer wäre.«
Ein Seil schien sich um Jackies Kehle zu legen und zuzuziehen. Sie hatte den Verlust noch lange nicht überwunden und war nicht darauf vorbereitet gewesen, hier und jetzt damit konfrontiert zu werden. Tränen stiegen ihr in die Augen, die zum Teil wohl auch von der Angst herrührten. Es hätte jeder von ihnen sein können. Najaxis war ganz in ihrer Nähe gewesen, als er gestorben war.
Sie hätte jetzt tot sein können.
»Wir werden euch nie vergessen«, sagte Iljan und warf die ersten zwei Schaufeln Erde hinunter, eine für Askook, eine für Najaxis. Dann reichte er die Schaufel an Jackie weiter, doch sie konnte nicht sprechen, und selbst wenn, hätte sie keine Worte gefunden.
Reihum zollten sie ihren Respekt, die meisten schwiegen wie Jackie, neigten stumm die Köpfe. Selbst Gudrun kam nach vorne und Stella schob die Erde mit den Hufen hinunter.
Terziel kehrte zurück von seinem Wachposten und erkannte, was sie taten.
»Lebt wohl«, sagte der Engel leise. »Najaxis, Askook. Ihr werdet nie vergessen sein. Möget ihr Frieden finden.«
Danach schaufelten sie das Grab in Schweigen vollständig zu. Terziel saß neben dem Körper des alten, weißhaarigen Halblings und wartete auf Abarax. Die Haut des Toten, zuerst nur blass und bleich, verfärbte sich langsam grau, bis sie so anthrazitfarben war wie die Haut von Abarax' früherer Hülle gewesen war. Dann begann die schmale Brust, sich lautlos zu heben und zu senken.
»Hallo, Bruderherz«, sagte Terziel leise, als Abarax sich aufsetzte. Die Kinder der Sonne hatten ihre Arbeit getan und umringten Engel und Nachtmahr wartend. Das Grab zeigte kaum Anzeichen ihrer nächtlichen Plünderung. Die Erde war wieder festgeklopft und die Blumen geschickt zurückgesetzt worden.
»Oh, Götter!«, stöhnte Abarax, streckte die Arme und Finger. »Der hatte Gicht!«
Terziel musste lächeln. Auch Jackie war mehr als erleichtert, dass immerhin Abarax gerettet war. Sie hatten viel zu viele ihrer Gruppe verloren.
»Kannst du aufstehen?«, fragte Terziel.
Statt einer Antwort erhob Abarax sich stöhnend und fasste sich dabei an den Rücken. Er machte ein paar vorsichtige, schlurfender Schritte.
»Ja, aber es kann eine Weile dauern, bis ich wieder Schritt halten kann. So eine Gicht zu überwinden, dauert.«
»Das kannst du?«, mischte sich Merkanto ein. »Kannst du auch die Gicht einer lebenden Hülle heilen?«
Abarax warf dem Magier einen leicht misstrauischen Blick zu. Sein eines Augenlid zuckte ein wenig. »Im Moment, Zauberer, kann ich überhaupt nichts.«
Merkanto machte einen Schritt zurück. »War eine rein hypothetische Frage.«
»Natürlich.«
»Du kannst solange auf Stella reiten«, verkündete Gudrun und das Einhorn neigte bestätigend den Kopf.
»Wir sollten tatsächlich ein wenig Abstand zwischen uns und das Dorf bringen«, ließ sich nun auch Cary vernehmen. »Hobbits sind zwar klein und gemütlich, aber man darf sie nicht für ungefährlich halten. Jedenfalls nicht in unserer Position.«
Jackie fuhr herum. Ein plötzliches Geräusch hatte sie wieder an ihre Umgebung erinnert. Gebannt von der Wiedererweckung des Nachtmahrs waren sie unvorsichtig geworden. Jetzt dämmerte der Morgen.
»Wir müssen hier weg!«, zischte Jackie. »Ich höre Stimmen und da hinten nähert sich ein Licht!«