https://www.deviantart.com/ifritnox/art/767246643
››Cary – warte!‹‹
Erst Jackies Ausruf alarmierte die Kinder der Sonne, während ihre Führerin flinken Fußes im sanften Dämmerlicht verschwand.
››Verdammt!‹‹, fluchte Merkanto. ››Hinterher! Ohne sie sind wir verloren!‹‹
Unter Fluchen, Grummeln und Rufen rannte die kleine Gruppe los. Stella eilte ihnen mit großen Sätzen voran, dann folgte Abarax, der sich mit seinem neuen, massigen Körper erstaunlich geschickt um die großen Baumstämme wand. Iljan folgte dem Drachen dicht auf den Fersen, in einem für ihn eher langsamen Tempo, um auf einer Höhe mit Jackie zu laufen.
Hinter ihnen folgten Gudrun mit ihrem riesigen, klappernden Rucksack, der angeschlagene Terziel und Merkanto.
Iljans Mut sank, als er Stella in den Trab verfallen sah. Wenig später traf die Gruppe bei dem Einhorn ein, das stehen geblieben war und den Kopf mutlos senkte.
Caryellê war spurlos im Elfenwald verschwunden.
Sie lief mit federnden, lautlosen Schritten, ihr Atem war ein Flüstern, jedes Geräusch, das sie verursachte, ging in dem sanften Orchester der Bäume und Tiere des Waldes unter.
Vorsichtig bremste sie ihre Schritte aus und lauschte. Dort! Nicht weit entfernt erklang hastiger Flügelschlag, ein kleiner Vogel, aufgeschreckt von ihrer Beute.
Sie wich Büschen und Stellen von trockenem Laub aus, während sie lief. Ihre Beute rannte mit dem Wind, doch Cary wich von der direkten Spur ab. So würde der Hirsch sie nicht riechen.
Sie lief leicht geduckt und hatte die Ohren gespitzt.
Ihr Herz schlug im gleichen Rhythmus wie der Wald. Sie war zuhause!
Eine schwache Hufspur an einem weichen Flussbett. Cary lauschte auf den Wind und ließ sich von ihm treiben. Dort lagen einige geknickte Äste, dort blinzelte ein Eichhörnchen aus seinem Bau, in den es sich kurz zuvor gerettet hatte. Cary folgte der Spur unermüdlich. Für ihre Augen schien die Fährte des Hirsches zu leuchten, ein Schimmern, das sie vorwärts zog wie ein unsichtbares Band, ein Licht, das sie rief, zu sich rief.
Tiefer und tiefer in die Dunkelheit des Waldes, fort von den Elfenpfaden und Elbenbrücken, hinein in die Anderswelt.
Mit einem Stöhnen ließ Gudrun ihren Rucksack auf den Boden fallen. Scheppern und Klirren schloss sich an, das für eine ganze Weile nicht aufhören wollte, als die unzähligen Fläschchen und Gefäße im Gepäck durcheinandergerieten.
››Ihr übertreibt. Cary ist doch nicht derartig wichtig für unsere Mission!‹‹, teilte sie ihren Mitreisenden mit, die sich mit depressiven Mienen auf den Boden hatten sinken lassen.
››Du verstehst nicht – wir sind in den Elfenwäldern‹‹, sagte Merkanto.
››Das weiß ich‹‹, gab Gudrun zurück.
››Über diesen Wäldern liegt ein Zauber, der – ach, vergiss es‹‹, der Zauberer stöhnte laut auf und erhob sich, um einige Schritte in den Wald zu gehen.
››Merkanto!‹‹, rief Iljan.
››Ich weiß, ich weiß!‹‹, kam es von dem Zauberer zurück. ››Ich gehe nicht weit. Ich brauche nur Ruhe vor törichten Fragen.‹‹
Grimmig verschränkte Gudrun die Arme vor der Brust. Doch sie löste die verschränkten Gleidmaßen wieder, als Stella neben sie trat. Irgendwas an der Gegenwart des Einhorns vermochte sie zu besänftigen.
››Was Merkanto sagen wollte, ist, dass wir eine Elfe benötigen, um hier den Weg zu finden‹‹, sagte das Einhorn mit seiner melodischen Stimme. ››Über den Elfenwäldern liegt ein Zauber. Kein aktiv erschaffener Zauber, er ist eher eine Nebenwirkung seiner Bewohner. Die Leben von Elfen und Elben folgen anderen Gesetzen, den Sternen und Träumen statt Plänen und Ordnung. Der Wald hat sich ihnen angepasst und nun kann kein Fremdling hier den Weg finden. Wir würden uns auf der Stelle verirren, wir haben es sogar bereits getan.‹‹
››Du machst Witze‹‹, unterbrach Gudrun den Vortrag. ››Wir sind kaum einige Schritte in den Wald gerannt. Wir müssen nur umkehren und -‹‹
Sie stockte, als sie sich den Bäumen in ihrem Rücken zuwandte. Waren sie von dort gekommen? Oder aus einer anderen Richtung?
››Und welchen Weg willst du einschlagen?‹‹, fragte das Einhorn mit einem leicht spöttischen Unterton, als es Gudruns Verwirrung bemerkte. ››Schon hat dich der Zauber des Waldes verhext. Deswegen darf sich niemand von der Gruppe entfernen – verlieren wir einander aus den Augen, finden wir nicht wieder zusammen.‹‹
››Aber … ‹‹, Gudrun wollte sich nicht mit der Situation abfinden. ››Wir müssen doch den Weg zurück zu den Bergen suchen. Vielleicht, indem einer von uns auf einen Baum klettert – natürlich nicht ich, Terziel oder Jackie sollten das tun. Aber die Berge werden sie ja wohl sehen.‹‹
››Und trotzdem könnten wir sie nicht erreichen, glaube mir‹‹, sagte Stella.
Die Hexe warf dem Einhorn einen langen Blick zu. ››Wir … sitzen hier fest?!‹‹
››Bis Cary hoffentlich zu uns zurückkehrt‹‹, bestätigte Gudrun.
››Und wenn sie nicht kommt?‹‹
Statt eine Antwort zu geben, wandte das Einhorn den Kopf ab.
Cary kniete sich neben den Flusslauf. Tief im Bett konnte sie noch schwach die Spuren des leichtfüßigen Hirsches erkennen. Er war im Wasser langsamer gelaufen. Ein solches Wesen wurde nicht müde, doch vielleicht glaubte er sich nicht länger verfolgt.
Sie hielt den Atem an und horchte wieder auf den Wind. Er bließ von der Seite, also mochte es sein, dass der Hirsch sie nicht witterte. Sie konnte sich nicht erlauben, seine Spur zu verlassen, denn nun war es unmöglich, noch auffliegende Vögel zu hören. Nicht, wenn der Hirsch seinen Lauf verlangsamt hatte.
Schnell, doch die Augen nah am Boden, folgte sie den Hufen, die selbst in der weichen Erde kaum zu erkennen waren.
Wo der Hirsch über Moos gelaufen war, gab es überhaupt keine Spuren, und keine einzige Blume in seiner Spur war geknickt. Cary gab Acht, selbst keinen Halm zu biegen.
Sie musste lautlos werden, ein elfischer Schatten der Wälder.
Unfähig, die auswegslose Situation einfach hinzunehmen, hatten Terziel und Abarax einen Plan geschmiedet.
Jackie, die zufällig Gudruns Gespräch mit Stella mitgehört hatte, war mit der Idee zu ihnen gekommen. Die beiden Brüder hatten den Plan weiter verfeinert und nun waren sie bereit.
Aus Stoffresten, in Streifen geschnitten, Gürteln und Bändern hatten sie ein langes Seil geknüpft, das sie nun um den Stamm eines Baumes geschlungen hatten. In ebenjenen Baum kletterte nun Iljan, der weder Jackie noch Terziel auf die gefährliche Mission hatte schicken wollen.
Immer höher und höher stieg der Vampir hinauf, bis er von unten schon lange nicht mehr zu sehen war. Die Kinder der Sonne warteten. Und warteten.
Terziel atmete erleichtert auf, als Iljan endlich zurückkehrte – am Stamm eines anderen Baumes einige Schritte entfernt.
››Das Geäst ist sehr eng ineinander verschlungen‹‹, teilte der Vampir ihnen auf ihre verwirrten Mienen hin mit.
››Kennst du die Richtung?‹‹, fragte Jackie gespannt.
Iljan nickte und nahm das lose Ende des Seils auf. ››Hier entlang.‹‹
Sie folgten dem Vampir durch das ewig gleiche Dämmerlicht, eine Hand stets am Seil, denn sonst konnte es leicht geschehen, dass sie in Träume verfielen und von der Gruppe fort wanderten.
Das Seil half ihnen, in einer direkten Linie zu gehen, denn wenn sie begannen, sich im Kreis zu bewegen, so schrappte es warnen über die Baumstämme, die sie passierten.
Terziel bewegte die Flügel testweise. Die Schmerzen mochten ihn wachhalten, doch sie bedeuteten ihm auch, dass er erneut für lange Zeit nicht fliegen können würde. Wenn er Pech hatte, so könnte es sich nie wieder in den Himmel schwingen! Wenn die Knochen falsch zusammenwuchsen, wäre jede Hoffnung dafür zunichte.
Dabei liebte er nichts so sehr wie einen unbeschwerten Flug durch die blauen Weiten eines Sommertages. Allein die Vorstellung, nie wieder zu fliegen … genauso gut könnte man ihm sagen, dass er das Atmen aufgeben müsste oder das Singen. Seine Flügel schmerzten vor Sehnsucht, wollten ihn dazu verleiten, egal wie töricht es wäre, aufzusteigen. Er durfte dem nicht nachgehen, doch die Verlockung … die Sehnsucht!
››Halt! Bleibt stehen, bleibt stehen!‹‹
Terziel schreckte aus den wehmütigen Gedanken auf. Merkanto ahtte gerufen. Der Zauberer deutete alarmiert auf das Seil, das sie alle miteinander verband.
Ihre Führungslinie verließ kreuz und quer zwischen den Baumstämmen, ein einziges Gewirr bunter Tücher und Stofffetzen, verteilt zu einem unübersichtlichen Spinnennetz, das sie effektiv in einer kleinen Lichtung einschloss.
››Wo waren wir nur mit unseren Gedanken!‹‹, rief Iljan klagend aus. ››Der Plan ist dahin.‹‹
››Wenigstens zum Teil hat er funktioniert‹‹, meinte Merkanto. ››Lasst uns diesmal wach bleiben und unseren Weg zurück zur Lichtung suchen. Irgendwie müssen wir diesen Knoten auflösen können.
Einige Haare weißen Fells hatten sich in einem Dornenstrauch verfangen und flatterten sacht im Wind. Cary kniete sich vor den Flaum und berührte ihn sacht mit den Fingerspitzen.
Ja.
Ihre Beute war hier entlanggekommen. Und ihr Vorsprung schrumpfte – Cary holte auf.
Sie musste nun wachsam sein. Ein Fehler, ein einziger falscher Schritt, und alles wäre umsonst.
Und sie musste den Hirsch erwischen, das fühlte sie deutlich, obwohl sie nicht sagen konnte, woher dieses Wissen stammte.
Niedergeschlagen hatten sie sich auf der ursprünglichen Lichtung versammelt. Ihr Seil türmte sich als großer Haufen vor ihnen auf, eine Erinnerung an den Fehlschlag.
››Dieser Wald kann uns doch nicht alle auf einmal verhexen!‹‹, schimpfte Gudrun. ››Wir müssen doch irgendwie aus diesem Wald herauskommen können!‹‹
››Gib es auf‹‹, knurrte Abarax grimmig. ››Wir sitzen hier fest und werden hier sterben. Ein ruhmreiches Ende! Der Traum zerplatz in einem Wald der Tagträume!‹‹
Dieser Satz versetzte Iljan einen Stich.
Sein Traum. Es war sein Traum, der sie alle hier versammelt hatte, der Askook, Najaxis und nun auch ihnen den Tod eingebracht hatte.
››Sprich nicht so!‹‹, fuhr Jackie Abarax an. Der Nachtmahr in Drachengestalt bleckte die Zähne und fauchte leise.
››Aber wir müssen doch etwas tun! Wir können nicht einfach auf dieser Lichtung sitzen bleiben und nichts tun!‹‹, schimpfte Gudrun weiter.
››Hier zu bleiben stellt untere beste Chance dar‹‹, griff Merkanto, dessen Gemüt sich inzwischen abgekühlt hatte, schlichtend ein. ››Cary kann uns finden, wenn sie hierhin zurückkehrt. Doch wenn wir durch den Wald laufen, wo soll sie dann beginnen, uns zu suchen? Ganz zu schweigen davon, dass wir einander noch verlieren könnten. Dann wäre das Unglück komplett.‹‹
››Das Unglück ist bereits komplett‹‹, äffte Gudrun ihn giftig nach. ››Wer sagt, dass Cary zurückkehrt?‹‹
››Sie muss kommen. Sie wird‹‹, war Merkantos nicht besonders beruhigende Antwort.
Iljan erhob sich und machte einige Schritte vom Lager weg, darauf bedacht, in Hörweite seiner Freunde zu bleiben, in Sichtweite. Zu leicht verlor man in diesem Wald den Verstand.
Er teilte Merkantos Vertrauen nicht. Sehr wünschte er sich, dass Cary zurückkehrte, dann könnte er beginnen, erneut an sie zu glauben, ihr zu vertrauen.
Doch er verstand Cary nicht. Hatte er sie überhaupt je gekannt? Seit jener Nacht auf der Silbermöwe war sie eine Fremde für ihn.
Würde sie kommen? Würde sie wirklich kommen?
Oder hatte sie ihre Freunde bereits vergessen?
Dort war er!
Cary hielt den Atem an.
Langsam, ganz langsam ging sie in die Hocke. Der Bogen war bereits gespannt, nun legte sie sorgfältig einen Pfeil auf die Sehne und strich über die weichen Federn, die sich in einer Spirale um den Schaft wanden.
Ein Elfenpfeil, der sang, wenn er flog.
Sie spannte den Bogen, dessen Holz das leiseste aller Knarzen von sich gab.
Der weiße Hirsch, bis eben noch grasend auf der Lichtung, hob langsam den Kopf. Misstrauen färbte seine dunklen Augen. Das Licht spielte auf seinem Fell wie Silber, auf seinem Geweih.
Cary zog die Hand bis zum Ohr und zielte mit dem Auge über den Schaft des Pfeils gleitend. Der Hirsch stand starr. Ein Ohr zuckte.
Cary ließ den Pfeil fliegen.
Iljan schreckte auf. Hatte er geschlafen? Die anderen schliefen, nur Jackie war wach und sah ihn besorgt an.
Iljan rieb sich die Stirn.
››Geht es dir gut?‹‹
››Nur ein seltsamer Traum‹‹, antwortete er. Sie alle wurden von Träumen verfolgt.
Dann erinnerte er sich an die Schlafbilder und Visionen.
››Sie kommt nicht zurück.‹‹
››Was?‹‹, Jackie wusste, dass er von Cary sprach. ››Iljan, das ist nur die Angst … ‹‹
››Nein, ich weiß es. Es ist das Blut. Wenn Blut fließt, ist es ihr nicht erlaubt, zurückzukehren. Sie ist gefangen und unser Schicksal besiegelt!‹‹
Er merkte, dass er weinte. Unkontrolliert schluchzte. Er fühlte sich, als wäre er von einem Pfeil durchbohrt worden.
Jackie kam zu ihm und zog ihn sanft in ihre Arme. ››Ganz ruhig, Iljan. Es war nur ein Traum. Nur ein böser Traum.‹‹
Sie fuhr ihm über die Haare, doch Iljan konnte sich nicht beruhigen.
Der Hirsch fuhr zusammen, als der Pfeil nach einem kurzen Flug durch sein Geweih in den Stamm des Baumes hinter ihm einschlug. Das schneeweiße Tier schnaubte und sein dunkler Nüstern weitete sich.
Cary gab ihre Deckung auf und erhob sich.
›Du hättest mich töten können, Jägerin.‹ Anerkennend neigte der Hirsch seinen majestätisch gehörnten Kopf.
Furchtlos trat Cary näher. ››Ich verschone dich, Wächter des Waldes.‹‹
Die dunklen Augen des Hirsches musterten sie ohne jede Regung von Angst oder Hass. ›Caryellê Assadar. Du bist würdig. Ich gewähre dir einen Wunsch.‹
Ein Lächeln stahl sich auf Carys Lippen, verträumt wie früher, als sie noch ein Mädchen gewesen war. ››Sieh in mein Herz. Meine Freunde und ich bedürfen deiner Hilfe.‹‹