https://www.deviantart.com/ifritnox/art/779035987
››Gudrun‹‹, wiederholte Iljan. Diesmal klang seine Stimme resigniert, abweisend.
››Freut mich auch‹‹, Gudrun zeigte die gelben Zähne, ehe sie sich an Cary wandte. ››Nette Familie hast du da!‹‹
Ehe sie antworten konnte, drängte sich Stella an ihr vorbei. ››Gudrun!‹‹
Das Einhorn legte den Kopf an die Schulter der Hexe, die ihr beruhigend den Hals klopfte. ››Wie geht’s dir, meine Schöne?‹‹
››Sieh mal!‹‹ Stella nahm vor Gudrun und vor den überraschten Elfen ihre neue Gestalt an. Gudrun klatschte begeistert in die Hände und umkreiste das Einhorn: ››Was ist das? Nebel? Wasser?‹‹
››Ich glaube, Illusionen‹‹, antwortete Stella, deren wabernde Gestalt im Zwielicht fast unsichtbar wurde.
Gudrun ging zurück, vernahm ein Schnauben und drehte sich um. Sie stand Aug und Auge mit Dayrquinêl. Sie starrte den weißen Hirsch an. ››Und wer bist du?‹‹
Während das elegante Tier angewidert den Kopf abwandte, nannte Cary seinen Namen. Dann: ››Du hast Glück, dass wir uns wiedergefunden haben!‹‹
››Pah! – Glück. Deine Familie hat mich abgeschleppt und meinte, du würdest irgendwann hier vorbeikommen‹‹, winkte Gudrun ab.
››Aber dass sie dich gefunden haben, grenzt schon an ein Wunder!‹‹, beharrte Cary, die noch nicht so recht glauben konnte, dass der riesige Wald die Hexe wieder ausgespuckt hatte.
››Es ist ein kleines Wunder‹‹, mischte sich ihr Vater ein, der Stella neugierig betrachtete. ››Sie hockte an einem unserer heiligen Teiche.‹‹
Cary verzog mitleidig das Gesicht. ››Sie ist ein ziemliches Trampeltier. Verzeih ihr, Vater, sie wusste es nicht besser.‹‹
Vailandamir warf der Hexe einen unergründlichen Blick zu. Dann wandte er sich dem Einhorn zu. ››Was ist mit ihr?‹‹
››Eine besondere Gabe. Gudrun ist die einzige, die etwas darüber weiß, aber auch sie versteht es nicht so ganz.‹‹
››Es ist Umira – die Wandlung.‹‹ Vailandamir sah sie eindringlich an. ››Das bedeutet nichts gutes.‹‹
››Nicht?‹‹, fragte Cary.
››Wesen mit dieser Gabe führen ein gefährliches Leben‹‹, antwortete ihr Vater unbestimmt. Er hatte sich kaum verändert – es war hoffnungslos, sie würde nicht mehr von ihm erfahren.
››Ihr müsst aufbrechen‹‹, sagte er auch gleich.
Cary nickte. ››Auf Wiedersehen!‹‹
››Ich glaube nicht daran‹‹, sagte er. ››Leb wohl.‹‹
Er tippt sich mit zwei Fingern auf die Stirn, legte die Hand auf sein Herz und verneigte sich. Cary machte es ihm nach und beide streckten die leere Handfläche nach dem anderen aus, eine Geste die ihre guten Wünsche übertragen sollte.
››Leb wohl‹‹, verabschiedete sie sich leise. Schon entfernten sich die anderen Elfen wie ein Traumgespinst. Bald zeugte nur noch Gudruns Anwesenheit davon, dass das alles nicht nur ein seltsamer Traum gewesen war.
Sie rafften ihre Sachen zusammen. Zogen weiter.
››Willst du sie einfach wieder mitziehen lassen?‹‹
Iljan sah auf. Merkanto hatte zu ihm aufgeschlossen. Zur Zeit setzten sie ihre Reise in gemütlichem Tempo fort. Sie gingen zu Fuß, statt zu reiten, denn der Waldrand – und damit ein neues, offenes Gebiet – lag direkt vor ihnen.
››Was meinst du?‹‹, fragte er den Zauberer.
››Gudrun. Du hast doch gehört, was der Elf sagte – sie hätten sie am Ufer eines Teiches gefunden.‹‹
››Vielleicht hatte sie nur Durst.‹‹
Merkanto runzelte die Stirn. ››Du nimmst Gudrun in Schutz?‹‹
Iljan zuckte mit den Schultern und sah einen Moment nach hinten, ließ den Blick auf Gudrun ruhen.
››Ich will ihr dieses Mal glauben‹‹, gestand er. Und fügte, als er Merkantos zweifelnden Blick sah, hinzu: ››Ich muss daran glauben, dass in allen Wesen etwas Gutes steckt. Wie könnte ich sonst weiter machen?‹‹
Merkanto ließ den Vampir ziehen und gesellte sich zum Rest der Gruppe. Da war etwas in den Augen des Vampirs gewesen, dass ihm zu denken gab: Eine tiefe, dunkle und stille Verzweiflung, die Iljan nicht nach außen ließ. Doch sie war da. Merkanto wusste nur zu gut, wie Verantwortung und Verlust einen Mann zerbrechen lassen konnten. Diese gefährliche Mischung, die wohl jeder Feldherr kannte: Das Abwägen zwischen taktischem Geschick und dem Leben der Untergebenen, der Druck, zu siegen und natürlich die Reue, wenn man die Hügel voller Kreuze betrachtete und wusste, dass man jeden einzelnen Tod hätte verhindern können; und auch wieder nicht verhindern könnte.
Ja, Merkanto wusste, was mit Iljan los war. Schon seit Askooks Tod schlummerte ein Dämon in dem jungen Vampir, zerfraß sein Innerstes und drängte nun nach außen. Iljan gab sich die Schuld an den vielen Toten ihrer Reise, und das nicht einmal zu Unrecht. Niemand konnte ihm darin widersprechen, dass ihre Freunde noch leben würden, wenn Iljan sich nicht zu der Reise ins Sonnenland entschieden hatte. Obwohl er nicht selbst die Waffen geführt, ja, sogar alles getan hatte, um seine Freunde zu retten, könnte Iljan die Schuld niemals loswerden.
Nicht allein.
Merkanto passte seine Schritte an, damit der weiße Hirsch zu ihm aufschließen konnte. Cary bemerkte, dass sie nicht zufällig an seiner Seite ritt, und sah ihn fragend an.
››Ich mache mir Sorgen um Iljan‹‹, eröffnete Merkanto ihr ohne Umschweife und schilderte ihr seine Bedenken.
››Der Junge ist nicht für eine solche Mission geschaffen‹‹, endete er, ››Iljan ist kein Feldherr.‹‹
››Ich weiß‹‹, sagte Cary. Sie besaß die Härte, die Iljan fehlte, das wusste Merkanto. Dennoch zögerte die Elfe. Für ihr eigenes Volk war sie noch recht jung, und natürlich wusste jeder ihrer Gemeinschaft, dass seit Antordia etwas zwischen Cary und Iljan stand.
››Kannst du mit ihm reden?‹‹, bat Merkanto mit Nachdruck.
Cary gab sich geschlagen. ››Heute Abend. Wir sind nah genug an der Grenze, um uns ein wenig entfernen zu können.‹‹
Wie versprochen ging Cary direkt zu Iljan, kaum, dass sie angehalten und ihr Gepäck abgeladen hatten. Iljan war damit beschäftigt, Moos für ein Nachtlager zusammen zu suchen. Cary blieb in seinem Rücken stehen und verschränkte die Arme, als er nicht sofort reagierte. Sie wusste, dass er sie bemerkt hatte: Gehört, gerochen, was auch immer.
Schließlich hielt er inne, drehte sich um und sah sie mit einem Seufzen an, in dem seine Wut, Trauer und Ungeduld mitklangen.
››Komm mit‹‹, befahl sie ihm und ging voraus, ohne auf eine Reaktion zu warten.
Sie ging und ging und hoffte halb, dass sie allein sein würde, wenn sie sich umdrehte. Der Ort, den sie wählte, war vom Lager aus nicht länger zu sehen. Doch hier, am Waldrand, ließ der Elfenzauber nach. Sie würden ihre Freunde wiederfinden.
Sie hielt auf einer kleinen Lichtung, auf der ein alter, verwitterter Baumstamm lag, der vor unzähligen Jahren umgefallen war. Sie setzte sich, wandte den Kopf und sah Iljan am Rand der Lichtung stehen.
Sie war erleichtert und enttäuscht zugleich. Es würde kein angenehmes Gespräch werden.
››Ich war früher sehr gerne hier‹‹, sagte sie und richtete den Blick in die Ferne. ››Damals war der Waldrand noch näher. Ich konnte in der Krone sitzen‹‹, sie klopfte auf den Baumstamm, ››und in der Ferne die Türme der Hauptstadt und die Ebene von Mîm sehen.‹‹
Iljan kam lautlos zu ihr und setzte sich mit großer Entfernung auf den Stamm. Er sagte nichts, offenbar verstand er es, ihren Tonfall zu deuten.
Cary schloss einen Moment die Augen und lächelte wehmütig. ››Hier habe ich auch Adhairos kennengelernt.‹‹
››Wer war er?‹‹, fragte Iljan, als sie nicht weiter redete. Sie konnte es nicht. Es fühlte sich falsch an.
››Es gibt etwas, dass du über uns Elfen wissen musst‹‹, sagte sie stattdessen. ››Wir kennen keine Treue, wie andere Völker sie kennen. Wir sind Geschöpfe der Anderswelt. Mit wem wir schlafen, wann, wo … das alles hat für uns nicht die Bedeutung, die es bei anderen Wesen hat. Es ist … wie Tanzen, wie die Jagd – ein Freizeitvertreib. Es ist nichts dabei, für uns jedenfalls nicht.‹‹
Sie sah zu Iljan. Wie sie es erwartet hatte, war Unverständnis und Abscheu in seinem Blick zu lesen. Andere Wesen konnten das nicht verstehen, das hatte sie gewusst, doch ein kleiner Teil von ihr hatte die ganze Zeit gehofft …
››Wir können auch nicht schwanger werden‹‹, fuhr sie trotzdem fort. ››Nicht von jedem, heißt das. Es gibt eine Ausnahme: Unser Seelenverwandter. Er oder sie ist der einzige, bei dem es anders ist. Wenn wir ihn finden … es ist, als wären zwei Dinge, die lange getrennt waren, endlich vereint. Du spürst es im ganzen Körper. Dieses Kribbeln, das Wissen, dass man zusammen gehört. Als könnte man endlich atmen, endlich sehen und hören und fühlen …‹‹
Wieder schwieg sie.
››Und dieser Adhairos … ist dein Seelenverwandter?‹‹, fragte Iljan mit bitterem Unterton.
››Du kannst dir nicht vorstellen, wie es war, als ich ihn das erste Mal sah. Mir blieb die Luft weg. Uns beiden, ehrlich gesagt. Es war wie ein Traum. Ein wunderschöner Traum. Mein Körper war wie von einem Voodoopriester gelenkt, wir sahen uns an, wussten Bescheid, wussten, dass der andere es wusste. Da war sofort diese Verbindung, noch bevor wir ein Wort gesagt hatten. Und dieses Gefühl: Berauschend, übermächtig. Es war wunderschön, aber ich habe mir auch in die Hose gemacht. Es ist beängstigend, wie eine mächtige Welle, die dich packt, der du nichts entgegenzusetzen hast. Du fühlst dich hilflos, glücklich, vollkommen um den Verstand gebracht. Du wirst von tausenden Emotionen zerrissen.‹‹
Sie schwieg. Iljan schwieg auch, aber Cary war sich sicher, dass ihm Fragen, bittere Kommentare und alles andere auf der Zunge lagen. Doch er sprach sie nicht aus.
Cary atmete tief durch und wandte den Blick von Iljan ab. Sie schloss die Augen.
››War.‹‹
››Was?‹‹, fragte Iljan überrumpelt.
››Er war mein Seelenverwandter. Wir waren sogar schon verlobt. Dann …‹‹ Ihre dumme, dumme Stimme zitterte. Cary atmete durch, aber es klang schon fast wie ein Schluchzen. Verdammt, sie wollte das nicht. Sie hatte ihre Geschichte ganz sachlich erzählen wollen. Um Iljan zu erklären, was geschehen war, warum sie nicht zusammenbleiben konnten, was sie gefühlt hatte … damals, im Schiff. Jetzt wollten die Worte plötzlich nicht mehr heraus und sie fühlte sich so jung, so verletzlich und klein …
Iljan rückte näher. Er zögerte. Dann spürte sie seine Hand auf der Schulter. Sie straffte sich.
››Er wollte unbedingt sein Land verteidigen. Also ist er zu den Weißen Wächtern gegangen. Er sollte Wache schieben, an einer Stelle, die selten im Zentrum der Kämpfe lag. Eine ungefährliche Aufgabe. Bis … bis es einen Überraschungsangriff gab. Vampire. Er hat ein Grab nahe Quyhst.‹‹
››Das tut mir leid‹‹, sagte Iljan sanft. Sie konnte spüren, dass er es aufrichtig meinte.
››Es ist schon einige Jahre her. Aber das alles‹‹, sie gestikulierte wage, ››bringt natürlich Erinnerungen wieder hoch.‹‹
Sie sah Iljan an. ››Das musste ich dir sagen. Ich werde nie wieder lieben können. Mein Herz ist zusammen mit Adhairos gestorben und lange begraben. Aber in Antordia habe ich verstanden, dass du das nicht siehst. Ich mag dich, Iljan. Ich mag dich zu sehr, um dich zu verletzen, also … musste ich es dir irgendwie sagen. Aber ich konnte nicht. Ich habe dich weggestoßen, weil ich merkte, dass du mich mochtest. Ich habe dich verletzt, absichtlich. Und zwar, weil ich genau das verhindern wollte. Es tut mir leid.‹‹
Er schwieg und sie wagte nicht, den Blick zu heben. Sie wollte sein Gesicht nicht sehen, denn allzu leicht könnte sie darin lesen, was er über sie dachte.
››Ich mag dich noch immer, Cary‹‹, hörte sie ihn nach einer Weile flüstern. Dann war seine Hand plötzlich nicht mehr auf ihrer Schulter, und als sie den Blick nun doch hob, war er verschwunden.
Abarax spürte die Veränderung sofort, als Iljan und schließlich Cary ins Lager zurückkehrten. Die Luft wirkte frischer und leichter, eine unsichtbare Wolke, die auf sie niedergerückt hatte, war verschwunden.
Die anderen nahmen es natürlich nicht so deutlich war, doch Abarax sah, dass auch sie die Veränderung mitbekamen. Schon machte Merkanto einen Scherz und wenig später pfiff Gudrun fröhlich, während sie über dem Feuer einen kleinen Eintopf zubereitete. Alle fühlten sich erleichtert, obwohl sie die Empfindung wohl kaum erklären könnten.
Schließlich saßen sie alle bei einem Essen, das Abarax mehr als dürftig vorkam. Mit der neuen Gestalt ging auch ein neuer, großer Magen einher, den das bisschen Eintopf nicht sättigen konnte. Früher war ihm Askook verfressen vorgekommen, inzwischen konnte er den stets hungrigen und stets müden Drachen aber verstehen. Ein solcher Körper brauchte auch entsprechende Energie.
Hatten sie jemals den richtigen Askook kennengelernt – so, wie er gewesen wäre, wenn er nicht die meiste Zeit halb verhungert vor sich hin vegetiert hatte? Abarax verdrängte die Frage eilig. Sie alle hatten ein großes Risiko auf sich genommen. Manche waren den Gefahren gewachsen, andere nicht.
››Wir sind dem Weißen Schloss schon sehr nah‹‹, sagte Cary plötzlich. Alle hoben den Blick und starrten sie an. Die Elfe lächelte. ››Unsere Reise ist fast zu Ende.‹‹