Kapitel 8
Tim war schrecklich aufgeregt. Das hier war das erste Mal, dass er ein Flugzeug betrat. Schon allein die Sicherheitskontrolle hatte ihn nervös gemacht, aber jetzt befand er sich endlich im Inneren der Maschine und konnte nur hoffen, dass er nichts Wichtiges zu Hause vergessen hatte. Noch während er diese Gedanken hatte, kramte er in seiner Tasche nach seinem Reisepass und war froh, als er die eckigen Formen seiner Geldbörse erkannte.
Das erste Mal, dass er ein Flugzeug betrat, hatte er sich anders vorgestellt! Vielleicht unterwegs zu einer tropischen Insel, die Welt erkunden, Urlaub machen – vielleicht sogar mit seiner Familie zusammen. Er hatte gedacht, dass er Bauchkribbeln vor Aufregung und Angst haben würde. Er hatte sein Herz bei dem Gedanken daran schon vor Vorfreude hüpfen spüren. Neue Abenteuer, neue Orte, neue Menschen. Aber obwohl nun all das auf ihn wartete, spürte er nichts von diesen Dingen. Er fühlte sich unsicher, nur das. Und nichts, was er tat oder tun könnte – keine einzige dieser Optionen – fühlte sich richtig an.
Er hätte bei seiner Schwester bleiben können; warten können auf eine zweite große Chance. Er hätte diesen Traum als eben solchen abtun können, um sich einen handfesten Beruf in seiner Heimat zu suchen, der ihn ebenso ausfüllen konnte. Nur dass sein Herz sich nicht mehr heimisch in Deutschland fühlte. Irgendwie entzweit. Allein. Wieso nur hatte er das schwachsinnige Gefühl, dass er sich gerade jetzt – einen Ozean entfernt von allem, was er kannte – besser fühlen würde? Feigheit? War das richtig so?
Es ist ja nur eine Woche., beruhigte er sich dann. Er würde nach New York fliegen, das Wichtigste wegen den Papieren und seiner WG erledigen, und dann wieder für ein paar Tage nach Deutschland zurückkommen. Damit Jill die Beerdigung nicht allein durchstehen muss.
Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf rauschte, lief es ihm wieder eiskalt den Rücken hinunter. Ihm graute vor diesem Tag und er versuchte, die Gedanken daran so gut es eben ging, zu verdrängen. Aber wie war das möglich, wenn ständig Anfragen kamen, welche Blumen benötigt wurden, welche Musik gespielt und welche Rede gehalten werden sollte?
Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er das alles nicht gebraucht. Er war der Meinung, dass sich alle auch ohne diesen ganzen Schnickschnack an seine Eltern erinnern würden. An die Menschen, die sie wirklich gewesen sind. Aber seine Schwester meinte, dass sie so leichter würden loslassen können.
Und obwohl Tim diese ganzen Verabschiedungsrituale für reine Mythen hielt, tat er sein bestes, damit seine Eltern an diesem einen Tag noch einmal aufleben würden – Jillian zuliebe. Er hatte bereits alte Arbeitskollegen seines Vaters angerufen, Blumen bestellt, dem Pfarrer in kurzen Worten erklärt, was seine Eltern für Menschen gewesen sind und alles dafür getan, dass seine Schwester von all dem so wenig wie nur möglich mitbekam.
Als ein Flugbegleiter Tim freundlich anwies, sich auf seinen Platz zu begeben, erwachte er endlich aus seinen Gedanken und ließ sich neben einer geschäftig wirkenden, jungen Frau nieder. Sie hatte einen Fensterplatz, schien die Sonnenstrahlen, die durch die kleine Luke fielen, jedoch gar nicht wahrzunehmen. Wie besessen hackte sie auf den Tasten ihres Labtops herum. Tim zog eine Augenbraue in die Höhe und sagte schließlich: „Wenn Sie mich fragen, sollten Sie das Teil vorerst wegpacken. Wir starten gleich, das Ding wird Ihnen noch unter den Sitz rutschen.“
Gereizt wandte die Frau sich ihm zu und sagte: „Auf diesem Ding ist jahrelange Arbeit gespeichert und Gefühle festgehalten.“
Überrascht sah Tim sie an, erst jetzt bemerkte er, dass sie Thailänderin zu sein schien. Ihre schmalen, dunklen Augen funkelten ihn wütend an. Sie war außergewöhnlich hübsch und besaß jene Mischung von Stärke und Zerbrechlichkeit, die er sonst nur von seiner Schwester kannte. „Die Wut steht Ihnen sehr gut. Sind Sie Sekretärin oder so?“
Die junge Frau klappte ihren Labtop geräuschvoll zu und sah ihren unerwünschten Gesprächspartner beleidigt an. „Ich bin Schriftstellerin. In diesem kleinen Teil steckt mein ganzes Leben. Aber was erwarte ich eigentlich? Jemand wie Sie wird das sicher nicht verstehen.“ Sie warf sich schwungvoll das schwarze Haar in den Nacken und packte den Computer trotz aller Widerworte weg.
Tim sah sie belustigt und mit einer Spur von Bewunderung an. „Sie sind ziemlich temperamentvoll für eine Schriftstellerin.“
Es war dieser eine Satz, der die Frau zum Lachen brachte. „Das ist schon immer mein Problem gewesen. Ich habe keine innere Ruhe. Meiner Arbeit tut das im Allgemeinen aber gut, ich bin schneller als die meisten meiner Kollegen und Kolleginnen. Ich heiße übrigens Hannah.“
Tim ergriff lächelnd ihre ausgestreckte Hand. „Tim, freut mich. Der Flug könnte angenehmer werden, als ich ihn mir vorgestellt hatte.“
Hannah lachte. „Da seien Sie sich mal nicht zu sicher. Ich kann ganz schön anstrengend sein, und wenn mich jemand bei der Arbeit stören sollte, könnte es durchaus Morde geben.“
„Danke für die Warnung. Ich werde es mir merken.“, lachte Tim vergnügt.
Wie sich herausstellte, wurde der Flug neben Hannah genauso angenehm, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Sie war wirklich eine außergewöhnliche Frau, er konnte mit ihr einfach über alles reden. Und zum aller ersten Mal verstand er, was Jillian an Jonas so sehr schätzte. Hannah und er hörten die gleiche Musik, sie lasen dieselben Bücher und mochten die gleichen Filme. Sie hatten sogar das gleiche Ziel – New York. Aber im Gegensatz zu Tim, lebte Hannah schon seit elf Jahren dort. Ihr Vater war Journalist und hatte eine Stelle bei der New York Times bekommen, nachdem er die Redaktionen der Zeitung mit Hunderten von Bewerbungen überflutet hatte.
Hannah sprach ein ausgezeichnetes Englisch, doch auch das Deutsch hatte sie über all die Jahre nicht verlernt. „Ich telefoniere regelmäßig mit alten Bekannten und Verwandten aus Deutschland. Ich komme auch so oft es geht hierher zurück, aber mein zu Hause ist Amerika.“, erzählte die junge Frau begeistert.
In den letzten paar Stunden hatte sie ihren kleinen Labtop, der noch immer sicher verwahrt unter ihrem Sitz ruhte, ganz vergessen. Sie war froh, endlich einmal wieder jemanden aus Deutschland um sich zu haben. Es war gut, Vergangenes nicht zu vergessen. Und auch auf eine andere, unerklärliche Weise reizte sie ihr neuer Gesprächspartner. Er schien irgendetwas zu verbergen, gab bei seinen Antworten nie zu viel von sich preis. Er war verschwiegen, ohne still zu sein. „Jetzt erzählen Sie doch mal. Was macht Ihre Familie? Die leben doch sicher in Deutschland, oder? Sind sie stolz auf Sie?“
„Meine Familie ist in Deutschland, ja. Und sie sind sehr stolz auf mich, vor allem meine kleine Schwester Jillian. Es war nicht leicht, sie so allein zurück zu lassen.“, antwortete Tim nachdenklich.
„Wieso allein? Sie hat doch noch ihre Eltern.“
„Ja... stimmt.“, erwiderte Tim hastig.
Hannah bemerkte sein wechselndes Mienenspiel nicht. „Jillian... das ist ein sehr schöner Name.“
„Es ist ja auch ein sehr amerikanischer Name.“
Hannah grinste. „Erzählen Sie mir von ihr.“
Das musste er sich nicht zweimal sagen lassen. Er brauchte jetzt Bilder von seiner Schwester, Erinnerungen. Nun fiel ihm das Foto von ihr und Jonas wieder ein, was sich nach wie vor in seiner hinteren Hosentasche befand. Er holte es heraus und zeigte es Hannah. „Das sind meine Schwester und ihr bester Freund. Das Foto ist zwar schon über ein Jahr alt, aber die beiden haben sich seit dem kaum verändert.“
Interessiert nahm Hannah Tim das Foto aus der Hand. „Sie sieht wie eine Elfe aus.“, sagte sie schließlich. Mit offenem Mund sah Tim sie an. Besser hatte er es nie zu beschreiben gewusst. Ob Hannah wohl wusste, wie ähnlich sie seiner Schwester war?
„Das ist ihr bester Freund? Er sieht so lieb aus. Wie heißt er?“
„Jonas.“
„Ja, das passt zu ihm. Die beiden scheinen sich sehr nah zu stehen. Erzählen Sie mir von Jillian!“, forderte Hannah erneut.
„Sie ist...“ Tim überlegte. „Anders. Anders als alle Mädchen, die ich je gekannt habe. Sie ist für jeden Spaß zu haben, ohne lächerlich zu sein. Sie ist ein sehr nachdenklicher Mensch und oft viel zu gutgläubig und naiv. Sie verfügt über die seltene Gabe, Menschen blind zu vertrauen und braucht ständig Menschen um sich herum... ich kenne niemanden, der meine Schwester nicht mag.“
Hannah lächelte warm. „Sie lieben sie über alles.“
„Ja, das tue ich.“, erwiderte er mit gemischten Gefühlen.
Jillian gähnte herzhaft und ließ sich noch etwas tiefer in den Sitz von Hills Auto sinken. Aus den Lautsprechern des Radios schallte lautstark ihr Lieblingslied von Ronan Keating. Ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass es viertel nach sechs am Abend war. Tim befand sich also schon seit über einer halben Stunde in luftiger Höhe.
Sie, Jonas und seine Eltern hatten ihren Bruder zum Flughafen gebracht, sodass sie sich noch einmal richtig hatte von ihm verabschieden können. Sie erinnerte sich noch genau an die letzten Worte, die er ihr, während ihrer vorerst letzten Umarmung, ins Ohr geflüstert hatte: „Tu mir bitte einen Gefallen, Jill und vergiss niemals dein schönes Lachen.“
Nein, das werde ich nicht!, dachte sie nun. Sie war sich sicher, dass ihre Eltern, wo immer sie jetzt auch waren, sie sehen konnten und schon allein deshalb wollte sie immer die Jillian bleiben, die sie schon immer gewesen ist. Erschöpft schloss sie nun die Augen. Die Lichter, die an ihrem Fenster vorbei flogen machten sie schläfrig, kurze Zeit später war sie auch schon eingeschlafen.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm Jonas wahr, dass sich Jillians Unruhe gelegt zu haben schien. Ihr Atem ging wieder gleichmäßig und das unablässige Wippen ihrer Fußsohlen hatte endlich aufgehört. Erst als er sich ganz zu ihr umwandte, bemerkte er, dass sie schlief. „Mutti? Kannst du bitte das Radio etwas leiser drehen? Ich glaube, Jill schläft.“, flüsterte Jonas seiner Mutter zu, die sich sofort zu Jillian umdrehte.
„Das wurde auch Zeit. Ich dachte, sie kommt nie zur Ruhe. Sie braucht viel Schlaf.“ Lächelnd strich sie mit einer Hand über die rechte Wange des Mädchens.
„Ich glaube kaum, dass sie letzte Nacht überhaupt ein Auge zugemacht hat. Ist sie heute wieder in der Schule gewesen?“, fragte Jonas’ Vater nun, wobei er einen fragenden Blick in den Rückspiegel warf.
Jonas schüttelte bedrückt mit dem Kopf. „Nein, immer noch nicht. Aber sie will ab nächsten Montag wieder gehen.“
„Das ist gut. Sie ist ein starkes Mädchen und jetzt ist ja erst einmal Wochenende.“, erwiderte Jonas’ Mutter.
„Das Wochenende wird bestimmt besonders schwer für sie werden, in dem großen leeren Haus.“, sagte Martin Hill nachdenklich.
„Ich finde, sie sollte heute bei uns übernachten, was meinst du, Jonas?“, wollte Samantha Hill von ihrem Sohn wissen, der nun völlig überrascht aussah.
„Ja, das wollte ich dich auch fragen. Jill ist stark, aber von heute auf morgen allein in diesem Haus und all den Erinnerungen? Das schafft selbst sie nicht.“
Als Martin Hill langsam in die Einfahrt zu seiner Garage fuhr, schlief Jillian immer noch. Sie hörte weder den Kies unter den Reifen knirschen, noch das laute Knallen der Autotüren, als Jonas und seine Eltern ausstiegen, um dann unentschlossen in der Garage stehen zu bleiben.
„Jetzt müssen wir sie wohl oder übel wecken.“, seufzte Martin Hill und machte Anstalten, Jillian wach zu rütteln.
„Nein!“, zischte Jonas eindringlich und schob seinen Vater dann bei Seite. Er sah das entspannte Lächeln auf Jillians Gesicht. In welcher Traumwelt sie sich auch immer gerade befand, er wollte sie nicht herausreißen. Der Alltag würde sie noch früh genug wieder einholen. Vorsichtig gurtete er sie ab und hob ihren schlaffen Körper mit einiger Anstrengung aus dem Sitz.
Jonas’ Eltern warfen sich erstaunte Blicke zu und Samantha fragte schließlich: „Willst du sie etwa ganz allein in dein Zimmer hoch tragen?“
„Jemand muss mir die Tür aufschließen.“, antwortete Jonas nur und schaute seinen Vater auffordernd an, der endlich den Schlüssel aus dem Auto holte.
Als Jonas und seine Eltern ins Haus kamen, machte er sich sofort daran, Jillian ins Bett zu bringen. Als er die Treppe hochstieg, hatte er einige Schwierigkeiten, weil er aufpassen musste, dass ihr Kopf, der wie leblos herunterhing, nirgendwo anschlug. Sie selbst war federleicht, geradeso als hätte sie Flügel.
Als Jillian aufwachte, war sie für einen Moment völlig orientierungslos. Das Bett, in dem sie da gerade lag, war definitiv nicht ihr eigenes. Sie setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen, bevor sie sich irritiert im Zimmer umsah. Erst als sie im schwachen Kerzenlicht Jonas’ schwarze Gitarre neben der Tür stehen sah, wusste sie, dass sie sich im Zimmer ihres besten Freundes befand. Aber wo war er? Langsam erinnerte sie sich wieder daran, dass sie Tim zum Flughafen gebracht hatten. Sie musste wohl auf der Rückfahrt im Auto eingeschlafen sein.
Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster stellte sie an den vielen Sternen, die zu ihr herunter leuchteten, fest, dass es wohl schon ziemlich spät sein musste. Schnell schlüpfte sie unter der Decke, mit der Jonas sie zugedeckt haben musste, hervor und ging leise aus dem Zimmer, um ihn zu suchen.
So leise sie nur konnte schlich sie die Treppe hinunter, um Samantha und Martin Hill – falls diese schon schliefen – nicht aufzuwecken. Leise öffnete sie die Küchentür, aber Esstisch und Anrichte lagen still im Dunkel. Jillian wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und schielte dann zur Uhr. Erst viertel vor neun! Sie seufzte erleichtert auf. Jetzt konnte sie das Haus verlassen, ohne Gefahr zu laufen, jemanden zu wecken. Kurzentschlossen öffnete sie die Tür, die ins Wohnzimmer führte. „Jonny?“
Jonas und seine Eltern drehten sich erschrocken um, als sie die leise Stimme vernahmen. „Hey, du bist ja wach.“ Jonas sprang sofort auf.
„Tut mir Leid, ich wollte gar nicht einschlafen.“ Jillian lachte verlegen.
„Als ob das ein Verbrechen wäre!“, tadelte Martin Hill das Mädchen für ihre unnötige Entschuldigung. „Leg dich lieber gleich wieder hin.“
„Nein, nein. Ich bin nicht mehr müde.“, lehnte Jillian lachend ab.
„Du hast heut bestimmt noch nichts Richtiges gegessen. Ich mach dir jetzt ein schönes Abendessen.“ Samantha Hill war dabei aufzustehen, als Jillian heftig mit dem Kopf schüttelte. „Nein, das ist nicht nötig, Samantha. Wirklich nicht. Ich gehe jetzt nach Hause und mach mir etwas.“
Panisch sah Jonas seine Eltern an und forderte sie mittels Blicken auf, Jillian nicht aus dem Haus zu lassen. „Wir haben gedacht, du möchtest heute vielleicht hier übernachten.“, sagte sein Vater deswegen hastig.
Jillian blieb unentschlossen stehen und überlegte einen Moment. Sie hätte das Angebot nur zu gern angenommen, aber wenn sie sich jetzt nicht an die plötzliche Stille in ihrem Zuhause gewöhnte, dann würde sie es sicher niemals tun. „Das ist sehr lieb von euch, aber ich... ich muss jetzt wirklich nach Hause gehen.“
„Bist du dir sicher, Jillian? Du kannst sehr gerne hier übernachten.“
Jillian lächelte warm. „Das weiß ich, Martin. Aber ich muss wirklich gehen.“ Dieses Mal lag eine unüberwindbare Entschlossenheit in ihrer Stimme, sodass Jonas’ Eltern es aufgaben, zu versuchen, das Mädchen zum bleiben überreden zu wollen.
„Na gut. Dann wünsch ich dir eine gute Nacht. Vergiss nicht, dir noch etwas zu essen zu machen!“, verabschiedete sich Samantha.
„Nein, das werd ich nicht.“, erwiderte Jillian ehrlich und wandte sich zum gehen. „Schlaft gut.“
„Du auch!“ Martin winkte ihr zum Abschied, bevor sie zusammen mit Jonas das Wohnzimmer verließ.
Als Jonas die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, musterte er Jillian mit forschenden Blicken. „Wieso bleibst du nicht hier? Findest du nicht, dass es noch zu früh für dich ist, eine Nacht allein in diesem Haus zu verbringen?“
„Für einen Neuanfang ist es niemals zu früh, Jonny.“ Ihre Augen sprühten vor lauter Entschlossenheit fast Funken, dann wurde ihr Blick plötzlich weicher. „Hast du mich vorhin nach oben getragen?“
„Du hast geschlafen. Ich wollte dich nicht wecken.“, antwortete Jonas, während er ihr die Jacke reichte.
„Danke.“ Jillian warf sie sich nur schnell über, sie hatte ja keinen besonders weiten Weg.
„Komm rüber, wenn etwas ist.“
„Na klar. Schlaf gut.“
„Du auch.“, seufzte Jonas leise, aber da war die Tür schon hinter ihr zugeschlagen.
Jillian beeilte sich, ins Haus zu kommen. Die Kälte der Nachtluft war unerträglich scharf und brannte auf der Haut. Der Geruch von Schnee hing in der Luft. Sie summte leise ihr Lieblingslied vor sich hin, um die gespenstige Stille zu übertönen, während sie an ihrem Schlüsselbund herum nestelte. Das Schloss der Tür war vereist und es gelang ihr nur mit großer Mühe, den Schlüssel in dem zugefrorenen Schlüsselloch herumzudrehen, aber endlich öffnete sich die Tür.
Schnell schlüpfte sie ins Haus und vergaß dabei völlig, wieder hinter sich abzuschließen. Sie warf ihre Schuhe in eine Ecke und ging schnurstracks in die Küche, um sich ihr verspätetes Abendessen zuzubereiten. Die Jacke warf sie achtlos über einen Stuhl. Sie schaltete alle Lichter und das Radio ein, so fühlte sie sich doch gleich viel besser. Die Radiomoderatoren und ihre Lieder leisteten ihr Gesellschaft, während sie sich ein Brot mit Schinken und Käse belegte und dabei leise vor sich hin summte.
Als sie fertig war, setzte sie sich auf ihren Platz am Küchentisch und biss in die Schnitte. Appetitlos schob sie den Bissen von einem Winkel ihres Mundes in den anderen. Wem versuchte sie hier eigentlich etwas vorzumachen? Sie musste keine falsche Normalität mehr vorspielen, niemand sah ihrem kleinen Theater zu. Sie war allein.
Mit großer Anstrengung würgte sie den Bissen ihre ausgetrocknete Kehle hinunter, bevor sie aufstand und den Rest des Brotes wegwarf. „Heute kein Abendessen!“, beschloss sie nun, schaltete Licht und Radio aus und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Jedes Knarren der Treppenstufen hallte im ganzen Haus wider. Jillian beeilte sich, in ihr Zimmer zu kommen, um die gespenstige Dunkelheit und die Geräusche der Nacht hinter sich lassen zu können. Hektisch riss sie die Tür zu ihrem Zimmer auf und warf sich sofort auf die Couch.
Es kam ihr so vor, als würden die Wände immer näher rücken. Die trostlose Schwärze, die sie umgab, schien sie verschlucken zu wollen. Alles war still und das Wissen, dass sie sich allein in dem leeren Haus aufhielt, jagte ihr plötzlich Angst ein. Sie schnappte sich eines ihrer Kuschelkissen und zog es nah an sich heran.
Der Mond schien gespenstisch direkt auf ihr Kopfkissen und nahm sie in seinem Licht gefangen. Wasser –und Heizungsrohre knackten unaufhörlich. Hatten diese Geräusche immer schon existiert? Jillian hatte sie vor dieser Nacht niemals wahrgenommen. Bei jedem ungewohntem Geräusch zuckte sie zusammen. Kurz ertappte sie sich bei dem Wunsch, Tim wieder bei sich zu haben, schüttelte diesen Gedanken dann jedoch schnell wieder ab. Neben sich hatte sie ihr Handy liegen, aber es schien ihr einfach nichts sagen zu wollen. Tränen der Verzweiflung strömten aus ihren müden Augen. Kurze, unregelmäßige Schluchzer ließen ihren Körper kurz aufbeben und sie weinte sich in den Schlaf.
Sie wurde mitten in der Nacht von ihren eigenen Schreien geweckt. Ihr Puls raste und das Kissen unter ihren Kopf war nass geweint. Zitternd richtete sie sich auf. Sie hatte einen schrecklichen Alptraum gehabt. Sie hatte jedes Bild noch ganz genau vor Augen. Sie hatte mit ihren Eltern ins Kino fahren wollen, es hatte wie verrückt geschneit. Die Straße war spiegelglatt gewesen. Ihr Vater hatte in einer Kurve die Kontrolle über den Wagen verloren. Panisch hatte er das Lenkrad hin und her gerissen. Plötzlich waren Schreie von überall hergekommen und diese schreckliche Kälte...
Jillian schüttelte den Kopf, um die schrecklichen Traumbilder zu vertreiben. Sie war hier und sie lebte. Auch ihre Eltern schliefen sicher und ruhig in ihren Betten. Und trotzdem hatte sie noch immer diese Kälte in sich. Wieso raste ihr Puls so schnell? Warum war das Haus so viel stiller als sonst? Da war plötzlich diese große Leere.
Jillian fühlte sich unbehaglich und stand auf, um ihr Zimmer zu verlassen. Verschlafen tapste sie die Treppe hinunter und blieb vor der Schlafzimmertür ihrer Eltern stehen. Das ist unsinnig, sagte sie sich selbst, konnte der Versuchung nach dem Rechten zu sehen, aber nicht widerstehen und öffnete leise die Tür.
Als sie die Betten ihrer Eltern leer vorfand, stieß sie vor Schreck einen kleinen Schrei aus. Panisch rannte sie in die Küche, doch auch hier war alles dunkel. Die Uhr zeigte bereits drei. Wo waren sie denn nur?
„Mama! Papa!“ Laut hallten Jillians hilflose Rufe durch das leere Haus, bis ihr endlich klar wurde, dass der Alptraum nicht vorbei war, nur weil sie aufgewacht ist.
Ja, sie lebte. Aber sie war allein. Und als sie das feststellte, fühlte es sich so an, als würden ihre Eltern noch einmal sterben. „Nein!“ In verzweifelter Wut knallte sie ihre zur Faust geballte Hand auf die Anrichte. Das Dröhnen in ihrem Kopf ließ langsam nach, die Nebel des Schlafes hatten sich gelichtet. Sie war hier und Tim war in Amerika. Sie lebten und ihre Eltern waren tot.
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen und machte sich mit einem Glas Wasser wieder auf den Weg zurück in ihr Zimmer. Sie hatte Mühe, das Glas festzuhalten und auch auf den Beinen war sie plötzlich sehr wackelig. Mühevoll stieg sie die ersten zwei Stufen hoch, bevor plötzlich alles vor ihren Augen verschwand.