https://www.deviantart.com/ifritnox/art/681601254
Jackie schluckte, als sie in den hellen Raum geführt wurden. Durch ein großes Fenster fiel heller Sonnenschein und glitzerte auf dem Metall, das bereit gelegt worden war. In Sonnenlicht gebadet stand ein Stuhl in der Mitte des Zimmers.
Jackie konnte die Augen nicht davon abwenden, während sie in den kleinen angrenzenden Raum geführt wurden. Der Engel stellte sich mit dem Rücken zur Tür und sah sie an. Das kleinere Zimmer hatte eine riesige Fensterfront – ebenso der größere Raum – allerdings war es unwahrscheinlich, dass die gefesselten Gefangenen daraus fliehen könnten.
Es dauerte nicht lange, bis Caryellê erschien. Das Einhorn folgte ihr, übervorsichtig in dem geschlossenen Raum, und übernahm genau wie Terziel die Bewachung der Tür.
Cary musterte die Kinder der Sonne aus unergründlichen Augen.
Dann deutete sie auf Najaxis: »Du zuerst!«
Ehe irgendjemand reagieren konnte, war Iljan scheinbar aus dem Nichts vor dem Inkubus erschienen.
»Nimm mich als ersten. Ich erzähle dir alles«, sagte er.
»Iljan!«, rief Jackie entgeistert aus. »Das kannst du nicht tun!«
Gudrun lachte dreckig, weil Terziel sein Schwert gezogen hatte. »Du machst sie nervös, Iljan. Prima Leistung!«
Iljan trat auf Caryellê zu und streckte beschwörend die Hand aus. »Nimm mich als ersten, Cary. Bitte.«
»Willst du deine Freunde schützen?«, fragte sie trocken und nickte Terziel zu. »Den Inkubus.«
Während der Engel nach Najaxis griff, drängte sich Iljan mit einem Aufschrei dazwischen. Terziel zeichnete mit der Hand etwas in die Luft, und plötzlich blitzte goldenes Licht auf und Iljan taumelte zurück, als hätte er einen Schlag erhalten. Terziel wiederholte das Zeichen, oder ein ähnliches, und Iljan donnerte in die Ecke der kleinen Kammer.
Jackie stürzte an seine Seite, während Najaxis aus dem Raum gezerrt wurde. Cary löste die Fesseln des Inkubus, allerdings wohl nur, um ihn an den Stuhl im Nebenzimmer zu binden.
»Iljan! Alles in Ordnung?«
Der Vampir stöhnte und rieb sich die Stirn. »Ich hasse diesen Engel!«
»Das tun wir alle«, sagte Merkanto trocken. Gudrun dagegen grinste. »Ich mag ihn!«
Das Einhorn musterte sie mit unergründlichem Blick. Wenig später öffnete sich die Tür und Terziel kam zurück. Er warf einen mitleidslosen Blick auf Iljan, der sich eben auf die Füße quälte.
»Bleib liegen«, sagte der Engel mit rauer Stimme und hob die Hand, um wieder ein Zeichen zu wirken. Iljan fletschte einen Moment die Zähne, sodass seine spitzen Eckzähne zu sehen waren, dann ließ er sich wieder auf den Boden fallen.
»Und auch von den anderen will ich keinen Mucks hören!«, sagte Terziel etwas lauter. »Sonst tue ich eurem Anführer noch mehr weh!«
»Au fein! Was tust du ihm an, wenn ich singe?«, fragte Gudrun begeistert.
Terziel zückte sein Schwert und war so schnell bei ihr, dass selbst Iljan überrascht war. Ein paar Federn trudelten hinter dem Engel durch die Luft. Die Schwertspitze berührte Gudruns Kehle.
»Frag lieber, was ich dir antun werde!«, drohte Terziel, dann sah er zu Iljan. »Na, keine große Klappe mehr?«
Iljan zog sich an der Wand in eine sitzende Position. Jackie konnte die Wut in seinen Augen sehen, aber als Iljan sprach, war seine Stimme ganz ruhig.
»Töte sie. Gudrun gehört nicht zu uns.«
Jackie hielt die Luft an. Gudrun schnaubte. »Natürlich gehöre ich zu euch! Ich gehöre doch zur Familie, Iljan!«
»Sie gehört nicht zu uns«, wiederholte Iljan und fixierte Terziel mit einem festen Blick seiner roten Augen.
Terziel zögerte einen Moment und steckte das Schwert dann weg. »Interessant.«
Gudrun stieß hörbar die Luft aus.
In die plötzliche Stille drang ein lauter Schrei hinein. Iljan und alle anderen zuckten zusammen.
»Najaxis!«, entfuhr es Jackie. Der Schrei des Inkubus wurde lauter und endete in einem heiseren Röcheln. Aus dem Nebenzimmer hörten sie Carys Stimme, die wütend Fragen stellte. Der genaue Wortlaut war nicht zu verstehen.
Die Kinder der Sonne tauschten beunruhigte Blicke. Selbst Terziel war blass geworden.
»Was tut sie mit ihm?«, fragte Iljan alarmiert. »Ich sage doch, ich werde alle Fragen beantworten!«
»Offenbar vertraut sie dir nicht«, sagte Terziel und streckte die Hand aus: »Nicht bewegen!«
Jackie drehte sich um. Iljan hatte sich bereits halb in die Höhe gestemmt. Jackie trat zwischen ihn und den Engel. Sie wurde langsam wütend.
»Du musst dich hier nicht so aufführen! Wir sind doch bereit, euch alles zu sagen!« Wieder erklang ein lauter Schrei. »Ich dachte, ihr seid diejenigen, die Gnade zeigen!«
»Nicht gegenüber solchen Monstern wie euch«, sagte Terziel. Seine Stimme zitterte vor Hass.
Jackie ballte die Hände zu Fäusten. »Wir sind keine Monster!«
Terziel gab ein kurzes, freudloses Lachen von sich: »Ihr habt gemordet, oder etwa nicht?«
»Jackie«, sagte Iljan leise in ihrem Rücken. Sie wusste, was er sagen wollte: Sie musste sich beruhigen.
»Ja, schon«, gab sie Terziel gegenüber zu. »Aber nicht freiwillig.«
»Ihr habt Leben genommen«, sagte Terziel schon fast hochmütig. »Diese Schuld könnt ihr nicht verlieren! Ihr seid Monster.«
»Aber wir sind nicht freiwillig zu Monstern geworden«, sagte Iljan. Jackie drehte sich um und entdeckt, dass Iljan inzwischen stand. Er wirkte angeschlagen. Die blonden Haare fielen ihm in die Stirn, und seine Beine wirkten schwach. Er hatte eine Hand gegen Terziel ausgestreckt, eine Geste, als ob er ein Wildpferd zähmen wollte. »Wir sind alle als das geboren worden, was wir sind, oder wir wurden gegen unseren Willen dazu gemacht. Die einzige Ausnahme ist Gudrun.«
Iljan hielt Terziels Blick fest und ging langsam an der Wand entlang, aus Jackies Rücken heraus. »Wir wollten dieses Leben nicht. Wir wollen eine zweite Chance.«
Najaxis schrie wieder. Jackie lief es eiskalt über den Rücken. Was tat Caryellê dem Inkubus nur an?
»Ihr seid Monster, und das wird sich auch niemals ändern«, sagte Terziel kalt. Er bewegte sich schneller, als irgendjemand reagieren konnte. Im nächsten Moment spürte Jackie einen stechenden Schmerz in der Seite. Sie taumelte zurück.
Terziel reinige die blutbefleckte Klinge an seinem Gewand. Jackie rang zitternd nach Luft.
Sie hörte Iljan ihren Namen schreien, im nächsten Moment stolperte sie gegen die Wand. Dann spürte sie Iljans Arme um sich, aber ihr Herz schlug nur noch schneller. Sie war verletzt, und die tiefen Instinkte übernahmen die Kontrolle. Seit Jahrhunderten waren Werwölfe und Vampire Todfeinde.
Sie wand sich und spürte, wie ihr Körper sich verändern wollte. Iljan umklammerte ihre Handgelenke.
»Jackie!«, rief er sie leise und drückte sie an sich. »Es ist keine gefährliche Wunde! Jackie, keine Angst.«
Er spürte sie zittern. Aus einer flachen Wunde über ihren Rippen sprudelte das Blut warm auf seine Hände. Überdeutlich spürte Iljan Terziels Blick auf sich ruhen. Und er spürte, wie seine Reißzähne länger wurden.
»Ihr seid Monster«, wiederholte Terziel. »Ihr könnt eure Natur nicht bekämpfen.«
Wie hypnotisiert starrte Iljan auf das rote Blut. Es war beinahe Neumond, und damit die Macht eines Vampirs am stärksten. Und er hatte viel zu lange verzichtet. Seine Augen juckten und brannten. Seine Hände zitterten.
Er hörte, wie Jackie knurrte und dann nach Luft rang. Sie griff nach seinem Arm. »Iljan!«
Terziel steckte sein Schwert weg. »Tu es schon, Vampir. Du wirst deine Kraft brauchen.«
Mit selbstzufriedenem Blick beobachtete Terziel, wie Iljan die blutbedeckte Hand vorsichtig zum Mund führte und Jackies Blut davon leckte. Er schloss die Augen. Das Blut rann durch seine Kehle, so süß und warm. Für einen Moment spürte Iljan die Kälte, die ihn schon sein Leben lang begleitete, und wurde gleichzeitig davon erlöst. Sein Magen verlangte nach mehr. Die Zähne waren jetzt so lang, dass Iljan die Lippen nicht mehr schließen konnte. Die Haut straffte sich um den Mund.
Er strich wieder über Jackies Wunde. Sie wimmerte leise. Als er den Blick senkte, beobachtete sie ihn.
Er konnte nicht aufhören. Iljan fühlte sich furchtbar, als er weiteres Blut von seinen Fingern leckte. Er konnte schmecken, dass Jackies Wunde sich bereits schloss. Sie versteifte sich in seinen Armen, er konnte ihr Herz wild trommeln hören. Dadurch wurde ihr Geruch nur noch intensiver. Vorsichtig beugte er sich über sie. Seine Welt zog sich zusammen, er war allein auf das Blut konzentriert. Die anderen Kinder der Sonne, die die Gesichter abwandten, Najas Schreie und Terziels höhnisches Grinsen traten in den Hintergrund. Er tauchte die Lippen in das strömende Blut und schloss die Augen.
Dann gab es für eine ganze Weile nichts anderes mehr.
Cary hob überrascht die Augenbrauen, als sie die Tür öffnete.
Der Boden der kleinen Kammer war mit Blut verschmiert. Die Werwölfin lag schluchzend in einer Ecke, umwickelt mit einem kurzen schwarzen Mantel. Den Mantel erkannte Cary als den von Iljan wieder. Der Vampir stand in der anderen Ecke und starrte mit verschränkten Armen gegen die Wand, nun nur noch mit einem weißen Hemd bekleidet. Terziel wirkte überaus selbstzufrieden.
»Was ist hier geschehen?«, fragte Cary.
»Nur eine kleine Lektion«, sagte Terziel. »Wen willst du jetzt?«
»Iljan«, sagte Cary.
Der Vampir trat mit schweren Schritten nach draußen. Cary umklammerte ihr Messer, als er an ihr vorbei ging. In seinen Augen lauerte mit einem Mal etwas Dunkles. Er machte ihr Angst.
Iljan warf nur einen beiläufigen Blick auf Najaxis, der zusammen gekrümmt vor dem Fenster lag und auf den Steinboden blutete. Cary bekam den Eindruck, dass Iljan nur überprüfte, ob der Inkubus noch atmete, bevor er sich auf den Stuhl setzte. Seine roten Augen beobachteten sie ungerührt, während sie ihn fesselte. Er saß starr wie ein Stein.
Als Cary seine Arme an die Lehne band, streifte sie seine Haut. Sie zuckte zurück, ihre Fingerspitzen kribbelten vor Kälte. Iljan sah sie so ungerührt an, dass sie für einen Moment erwog, einfach aus dem Raum zu laufen und zu fliehen. Er wirkte völlig verändert, als wäre er nur ein Trugbild, erschaffen von einer größeren und dunkleren Macht.
Stattdessen drehte sie sich nur zu dem Tisch mit den vorbereiteten Geräten um und atmete tief durch. Sie griff ein Messer.
»Also gut. Was ist euer Auftrag?«, fragte sie Iljan.
»Wir haben keinen Auftrag, nur eine Mission«, antwortete der Vampir. Seine roten Augen wirkten tot. Caryellê erschauerte.
»Bist du dann der Oberbefehlshaber? Ihr Anführer? Gibt es noch jemanden, der höher steht als du?«, fragte sie weiter.
Iljan schüttelte den Kopf. »Ich bin der Anführer. Und ich trage die Verantwortung. Die anderen folgen mir freiwillig, aus Überzeugung. Bis auf Gudrun.«
»Was ist mit Gudrun?«, fragte Cary.
Endlich zeigte Iljan eine Emotion. Cary war schon beinahe erleichtert, als sie sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte. »Sie ist eine Verräterin.«
»Und was wollt ihr?«, fragte Caryellê.
»Wir wollen eine zweite Chance«, sagte Iljan ruhig.
»Sag die Wahrheit«, zischte Cary und hob ihr Messer. Iljan wirkte nicht einmal eingeschüchtert.
»Das ist die Wahrheit.«
Cary drehte das Messer in der Hand um, sodass die Klinge jetzt unten aus der Hand ragte. Sie stieß auf Iljans Hand herab.
Der Vampir öffnete den Mund und ein seltsam tierischer Laut drang heraus, stimmlos wie ein Fauchen. Cary fuhr zurück. Ihr Herz raste, mit einem Mal hatte sie furchtbare Angst vor ihrem Gefangenen. Schwarzes Blut sprudelte aus der Wunde. Mit gesenktem Kopf schlug Iljan nur die Augen auf und starrte zu ihr hoch.
»Wenn dir die Antworten nicht gefallen, solltest du keine Fragen mehr stellen«, knurrte Iljan mit tiefer Stimme. Caryellê tastete nach dem filigranen Reif um ihren Hals und starrte den Vampir an.
»Es ist unmöglich«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Es ist unmöglich.«
Die Wunde in ihrer Seite brannte wie Feuer. Jackie wusste zwar, dass die Blutung aufgehört hatte, aber der Schmerz blieb. Die Klinge musste mit Silber versetzt gewesen sein, denn das würde das Brennen erklären. Dazu kam die Demütigung, dass sie beinahe die Kontrolle verloren hatte. Sie fühlte sich hilflos und verloren. In dem kleinen Raum der Gefangenen war es still. Terziel, der sich jetzt in der mächtigeren Position wusste, stand vor der Tür und betrachtete sie.
Jackie zuckte zusammen, als ihre empfindlichen Ohren einen gedämpften Schmerzlaut von Iljan wahrnahmen. Sie kauerte sich enger zusammen. Caryellê würde sie alle einen nach dem anderen töten. Jackie kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen steigen wollten.
Hier war das Ende ihrer Reise. Ihre Hoffnungen wurden zerstört. Es würde kein gutes Leben für sie geben, keine Besserung. Denn die Wesen des Lichts, ihre einzige Hoffnung, wollten sie nicht aufnehmen.
Jackie drückte sich in die Ecke und zog den Kopf auf die Brust. In der winzigen Lücke, die zwischen ihrem Gesicht und der Wand war, rauschte ihr Atem laut und lud die Luft mit Wärme auf. So konnte sie die Geräusche aus dem Nebenzimmer nicht mehr hören.
Jetzt liefen doch Tränen über ihre Wangen. Alles war vorbei.
Die Tür schlug auf und Caryellê erschien. Die Kinder der Sonne starrten die Elfe verschreckt an, die auf Gudrun zeigte und wieder davon rauschte. Die Hexe blieb sitzen.
»Ähm ... ich gehöre nicht zu -«
»Hoch mit dir!«, rief Terziel und zerrte Gudrun aus dem Raum. Jackie hörte noch, wie die Hexe mit nervöser Fröhlichkeit »Hallo Iljan!« rief.
Jackie rollte sich fester zusammen, obwohl ihre Wunde dann schmerzte. Es blieben nur noch Askook, Abarax und Merkanto mit ihr in dem Raum zurück. Sie sah hoffnungslos zu dem Einhorn, das sie scharf beobachtete.
Wenig später kam Terziel zurück. Im Nebenzimmer zeterte und bettelte Gudrun Cary an und schwor, ihr alles zu verraten, sogar das Geheimnis ewigen Lebens und ähnliche Dummheiten. Jackie vergrub die Hände in den Haaren. Es war alles vorbei!
Ein seltsames Geräusch ließ sie aufblicken. Verwirrt suchte sie den Raum ab, als ein unterdrücktes Schnaufen erklang. Es schien von Stella zu stammen.
Alle Blicke richteten sich auf das Einhorn.
Stella stolperte rückwärts. Plötzlich bäumte sie sich auf und wieherte laut. Ihre Hufe schlugen durch die Luft und Terziel brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Stella verlor das Gleichgewicht und krachte gegen die Wand.
Das Einhorn brach zusammen und blieb zuckend auf dem Boden liegen.
Nur eine Sekunde später stand Cary in der Tür.
»Was ist hier los?«, fuhr sie die geschockten Gefangenen an.
Niemand wusste eine Antwort.