https://www.deviantart.com/ifritnox/art/682917374
Wie vom Donner gerührt standen Cary, Terziel und die noch nicht gefolterten Kinder der Sonne um das Einhorn versammelt. Stella lag auf dem Boden und zuckte wie unter einem Anfall.
Gudrun musste zugeben, dass sie sich ebenfalls erschreckt hatte, als sie so etwas zum ersten Mal gesehen hatte. Es war beängstigend, wie sich die Zunge des Einhorns blau verfärbte, wie die Augen in ihren Höhlen rollten, wie das arme Pferd zuckte und bebte.
Dass sie trotzdem gelassen blieb, lag daran, dass sie wusste, was geschah.
»Wer von euch war das?«, schrie Cary und sah sich wild in dem Raum um. Sie hatte einen Dolch gezückt und ihre Augen schienen Funken zu sprühen. Gudruns Befragung war vergessen. Die Hexe machte einen vorsichtigen Schritt in Richtung Tür und überlegte, ob sie eine Flucht wagen sollte.
»Keiner bewegt sich!«, fauchte Terziel, während Stella sich wie unter Todesqualen wand. Gudrun zuckte zusammen, als sie sich erinnerte, dass das Einhorn mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich Todesqualen empfand. Und dazu die furchtbare Angst, die mit der ersten Verwandlung einherging.
Später konnte Gudrun nicht sagen, warum sie umkehrte, warum sie den kleinen Raum wieder betrat und sich zwischen den geschockten Wesen hindurch direkt in das Zentrum der Aufmerksamkeit begab – doch sie tat es. Ohne Caryellê, Jackie oder irgendwen sonst zu beachten, trat Gudrun zu dem Einhorn und kniete sich neben Stellas Kopf. Vorsichtig strich sie über die weiße Stirn, die wie im Fieber glühte.
»Ganz ruhig«, sagte sie leise. »Hab keine Angst, Stella. Dir passiert nichts.«
»Lass deine dreckigen Krallen von ihr, Hexe!«, schrie Terziel und wollte nach vorne springen, doch Caryellê hielt den Engel zurück. Unter Gudruns Hand entspannte Stella sich ein wenig, und die panische Angst wich aus ihren Augen. Das Zucken blieb bestehen.
»Du bist eine Tierzunge!«, stellte Cary erstaunt fest.
Gudrun drehte sich nicht um, sondern sah Stella tief in die Augen und strömte die Ruhe und Zuversicht aus, die das Einhorn jetzt benötigte.
»Es ist eine Verwandlung«, erklärte Gudrun später. Stella war eingeschlafen, Najaxis und Iljan wieder gefesselt und bei Bewusstsein, Caryellê immer noch misstrauisch.
»Bisher habe ich Verwandlungen nur auf der dunklen Seite erlebt. Ich wusste nicht, dass Einhörner das auch können.«
»Wir wussten es ebenso wenig«, sagte Cary tonlos. Die Elfe war blass geworden, vermutlich durch den Schock.
»Was bedeutet das?«, fragte Terziel. Der Engel hatte sein Schwert gezückt, als Stella zusammengebrochen war, und die Klinge seitdem nicht mehr weggesteckt.
»Sie ist mit irgendwas in Kontakt gekommen, dessen Eigenschaften sie nun übernimmt.« Gudrun zuckte mit den Schultern. »Das kann alles mögliche sein, ehrlich gesagt. Feuer ist recht beliebt, oder ein anderes Element, aber es könnte auch Dunkelheit oder etwas völlig anderes sein. Das wissen wir erst, wenn sich die ersten Symptome zeigen.«
»Symptome?«, wiederholte Caryellê.
Gudrun nickte und beschloss seufzend, noch etwas mehr preiszugeben: »Dies ist ihre erste Verwandlung. Sie wird sich dagegen wehren, deswegen mag es Tage dauern, bis sich etwas zeigt. Dafür klingt die Wirkung dann schneller ab. Aber von jetzt an kann sowas häufiger geschehen.«
»In was verwandelt Stella sich?«, fragte Terziel. »In irgendein Monster, das ihr für eure Zwecke gebrauchen könnt?«
»Nein«, sagte Gudrun. »Sie bleibt ein Einhorn und sie bleibt sie selbst, mit dem feinen Unterschied, dass sie einige Zeit lang besondere Fähigkeiten haben wird.«
»So wie die Elementargeister?«, fragte Caryellê mit leiser Stimme.
»So ähnlich«, gab Gudrun zu. »Ein Elementar-Einhorn, wenn man so will.«
Man hatte Stella in ein Nebenzimmer gebracht und die Kinder der Sonne dann eingeschlossen. Jackie war trotz allem, was vorgefallen war, froh, dass Iljan zurück war. Der Vampir und auch Najaxis sahen furchtbar aus. Cary war bei ihrer Befragung nicht eben zimperlich gewesen. Beide waren mit Schnittwunden und Brandmalen übersät. Aber die Elfe hatte keinem von ihnen etwas abgeschnitten. Alle diese Wunden würden heilen, und meist nicht einmal Narben zurück lassen.
Während Jackie neben Iljan kniete und mit einem noch sauberen Zipfel seines Fracks seine Wunden trocknete, spürte sie seinen Blick auf sich ruhen.
»Wie geht es dir?«, fragte er leise.
»Mir geht’s gut«, sagte Jackie.
»Hör zu, was da passiert ist … es tut mir leid«, sagte er niedergeschlagen. »Ich dachte, ich hätte mich unter Kontrolle.«
Jackie lächelte schief. »Ich wäre die Letzte, die dir Vorwürfe machen dürfte. Und immerhin habe ich gesagt, dass ich dir immer helfen werden.«
Iljan nickte. »Trotzdem. Ich habe auch versprochen, Blut nicht mehr mit Gewalt zu nehmen.«
Jackie ballte die Hände zu Fäusten, als sie sah, wie sehr Iljan unter seiner Tat litt. »Das war die Schuld von diesem Terziel! Er wollte uns entblößen!«
»Was ihm ja auch gelungen ist«, brummte Iljan, dann riss er sich aber offensichtlich zusammen. »Egal, wir geben nicht auf! Das nächste Mal hat er nicht so leichtes Spiel!«
Plötzlich regte sich Abarax. Bei dem Nachtmahr war jede plötzliche Bewegung auffällig, weil er sich sonst so gut wie nie bewegte. Jackie sah, wie der dunkelhäutige Alp die roten Augen verengte und auf etwas lauschte, das selbst sie nicht hören konnte.
»Die Mönche sind aufgebracht«, berichtete der Nachtalp dann mit seiner rauen Stimme. Die langen Haare verdeckten sein anthrazitfarbenes Gesicht, nur die Augen leuchteten zwischen den schwarzen Strähnen hervor.
»Warum?«, fragte Iljan und richtete sich beunruhigt auf.
Abarax schloss die Augen halb, dann berichtete er: »Sie haben von Stellas Zustand erfahren. Verdammt! Sie geben uns die Schuld!« Abarax riss die Augen wieder auf. »Sie wollen uns töten!«
Stille füllte den kleinen Raum nach dieser Ankündigung. Abarax konnte die Angst spüren, die von den anderen ausging. Jackie griff nach Iljans Hand, Gudrun kauerte sich in ihrer Ecke zusammen. Niemand sprach ein Wort.
Außerhalb des Raumes konnte Abarax die aufgepeitschten Emotionen der Mönche wahrnehmen, ihre abergläubische Furcht und Wut.
Er konnte zwar keine Gedanken lesen, aber ihm reichte die Kenntnis dieser Gefühle, um zu ahnen, was geschehen würde. Aus irgendeinem Grund glaubten die Mönche, dass Stellas Zustand unheilbar war – so weit Abarax wusste, war er das auch – und dass die Kinder der Sonne für dieses Verbrechen verantwortlich waren. Was folgte, würde nicht unbedingt etwas Gutes für ihre Gruppe sein.
Probeweise zerrte Abarax an seinen Fesseln, aber er musste feststellen, dass es keine Chance gab, zu entkommen. Die Eisenketten verhinderten auch, dass er seine Schattenform annahm. Die Zentauren waren gut darin gewesen, sie alle entsprechend ihrer Wesensart zu fesseln. Askook musste sogar einen Maulkorb ertragen.
»Wir haben keine Chance!«, hauchte Jackie und wurde blass. Iljan dagegen setzte einen grimmigen Gesichtsausdruck auf.
»Wir geben nicht auf!«, zischte der Vampir.
Nur wenig später nach Abarax' Warnung schlug die Tür auch schon auf. Die Holztür donnerte gegen die Wand, die Klinke riss den Putz dahinter auf. Gudrun zuckte zusammen.
In der Türöffnung standen gleich fünf Mönche. Obwohl Gudrun weder deren Gesichter erkennen konnte, noch Abarax' Gespür für Emotionen besaß, wusste sie, dass die fünf wütend waren. Sie hielten die Waffen in den Händen, die sie auf die Schnelle im Tempel hatten finden können: Zeremonielle Kerzenhalter, schwere Bücher oder einfach Schuhe.
»Das sind immer noch unsere Gefangenen!«, ertönte Caryellê Stimme irgendwo hinter den Mönchen, die den kleinen Raum betraten. Askook knurrte dumpf. Iljan schob sich trotz seiner Verletzungen schützend vor die anderen.
»Wisst ihr nicht, was für eine grausame Tat es ist, ein Einhorn zu verletzen?«, fuhr sie einer der Mönche an.
»Wir sind unschuldig!«, protestierte Iljan. Ein Mönch hieb mit einem Kerzenständer aus Eisen nach dem Vampir, der den Arm hochriss und den Schlag abfing.
Plötzlich sah Gudrun einen zitternden Zeigefinger auf sich gerichtet.
»Sie! Sie ist eine Hexe! Sie muss es getan haben!«
»Nein!«, kreischte Gudrun, als man sie unsanft auf die Beine riss. »Ich war das nicht! Hilfe! Iljan!«
Es war allerdings Caryellê, die ihr zu Hilfe kam. Die Elfe fiel dem Mönch, der Gudrun gepackt hatte, in den Arm. »Wir brauchen sie noch! Wenn sie wirklich schuld ist, dann kennt auch nur sie das Heilmittel!«
Gudrun landete auf dem Boden, als Cary sie grob zurück riss. Zu ihrem Erstaunen spürte Gudrun, wie ihre Fesseln zerrissen. Sie sperrte den Mund erstaunt auf, blieb aber ansonsten ruhig liegen. Sie war frei, oder so gut wie! Jetzt durfte nur niemand etwas bemerken.
»Schützt du etwa diese Monster?«, fragte einer der Mönche Cary. »Bist du jetzt eine von ihnen?«
»Nein!«, sagte Caryellê beinahe hysterisch. »Aber ich will die Wahrheit!«
»Sie sind Spione, was sollen sie sonst sein?«, fragte ein anderer Mönch. »Und sie versuchen, uns alle umzubringen. Wir können sie nicht hier lassen!«
Cary machte einen Schritt auf die Tür zu und drängte die Mönche so aus dem kleinen Raum.
»Wollt ihr euch etwa den Weißen Wächtern in den Weg stellen?«, fragte sie mit drohender Stimme.
»Willst du deine ganze Gruppe sterben sehen?«, fragte ein Mönch zurück.
»Das wird nicht geschehen!«, sagte Cary und drängte die Mönche endgültig aus dem Raum. Die Tür fiel mit einem Knall ins Schloss.
»Geht es dir gut?«, fragte Iljan zögerlich. Gudruns Sturz hatte schlimm ausgesehen. Als er einen Schritt auf die Hexe zu machte, hörte er sie zu seinem Erstaunen kichern.
»Gudrun?«
Sie stand auf und breitete die Arme aus. Iljan riss die Augen auf – bis eben war Gudrun noch gefesselt gewesen!
»Caryellê mag es stylisch finden, ihr Messer an der Seite zu tragen, aber dann sollte sie nicht mit Gefesselten werfen!«, lachte Gudrun.
»Du bist frei!«, hauchte Jackie. »Wenn sie das herausfinden, bringen sie uns um!«
Gudrun nickte. »Ja, euch. Mich nicht.«
»Was macht dich da so sicher?«, fragte Iljan. Er machte einen Schritt zurück.
Gudrun lachte. »Weil ich jetzt gehe!«
Schneller, als Iljan es ihr zugetraut hätte, war die Hexe auf das Fenster zugesprungen, hatte das Glas zerschlagen und war in der anbrechenden Nacht verschwunden.
»Gudrun!«, brüllte er ihr hinterher. Ihn kümmerte nicht, dass Cary ihn möglicherweise hörte, obwohl er gerade das vermeiden sollte. Eine geflohene Gefangene würde ihre Situation nur weiter verschlimmern.
»Verdammt«, sagte Merkanto und trat an das Fenster. »Sollen wir ihr hinterher?«
»Wie denn?«, fragte Iljan bitter. »Die Hälfte von uns ist gefesselt, die andere Hälfte verletzt. Wir kommen nicht weit!«
Er spürte inzwischen die Schmerzen im ganzen Körper. Caryellê hatte ihn mit einem Holzpflock und Knoblauch bearbeitet. Seine Arme steckten voller Splitter und der Saft des Knoblauchs auf seiner Haut brannte wie Säure.
Merkanto am Fenster drehte sich um, bückte sich umständlich und hob dann eine spitze Glasscherbe auf.
»Wir sind so gut wie frei«, sagte der Magier.
»Wartet ...«, warf Iljan ein.
»Wir können dich und Najaxis schon irgendwie tragen.«, sagte Jackie. »Aber wenn wir hier bleiben, wird das unser Todesurteil!«
Iljan schluckte, dann nickte er. Jackie hatte Recht. Wenn Cary erfuhr, dass Gudrun geflohen war – und wenn die Mönche es herausfanden – dann würde man ihnen keine Gnade mehr zeigen.
Ihre einzige Hoffnung war aber, sich zu beweisen. Zu beweisen, dass sie keine Monster waren, obwohl ihnen niemand glaubte.
Er ließ es zu, dass Merkanto mit der Scherbe seine Fesseln durchtrennte und befreite dann die anderen. Nach nur wenigen Minuten waren sie alle frei.
Nacheinander kletterten sie aus dem Fenster. Najaxis taumelte ein wenig von den zahlreichen Wunden, die ihm Caryellê zugefügt hatte.
»Wir hätten drüben bleiben sollen«, murmelte der Inkubus.
Iljan nickte. »Das hätten wir. Jetzt können wir nicht mehr zurück, oder zu mindestens ich kann es nicht.«
Najaxis sah auf. »Ich will auch nicht zurück. Ich habe nur vor mich hin geredet, Iljan. Ich bleibe natürlich bei dir!«
Iljan lächelte müde. Dann schlang er sich Najas Arm um die Schultern, um den Inkubus zu stützen. »Danke.«
Damit flüchteten die Kinder der Sonne in die Nacht hinaus.