Ein Monat zog über Upeno hinweg und nahm acht von Colos Schafen mit sich. Er hatte Glück, denn manch ein Hirte im Dorf verlor seine Herde oder hatte nur noch ein dürres, kränkliches Tier, das zu schlachten es sich nicht lohnte.
Viehseuchen kamen und gingen in Upeno wie die Gezeiten, und die Menschen begegneten ihnen mit einer Gleichgültigkeit wie das Maultier dem lästigen Insekt. Das Dorf leerte sich. Die Trotzigen blieben und die Hoffnungsvollen zogen nach den größeren Siedlungen ringsum, ihre verbliebenen Erzeugnisse gegen neue Schafe oder Nahrung zu tauschen. Sie luden sich die wenigen Habseligkeiten auf den Rücken und ließen ihre Lehmhütten zurück: öde und kahl, als hätte lange niemand darin gewohnt.
Viele würden wiederkehren, manche mit leeren Händen, andere mit vollen: und alle würden sie ihre Häuschen beziehen als ob sie nie fortgegangen wären. Man verzagte nicht in Upeno, nicht über ein verstorbenes Tier und nicht über einen verstorbenen Menschen.
Es war auch nicht Colos oder seiner Schwester Art, zu verzagen, doch sie waren von unterschiedlichem Gemüt: Colo war trotzig und Ela war hoffnungsvoll. Sie hatte ihre Augen nach Enza gewandt, einem Ort nördlich ihres Dorfes. Die Geschwister stritten sich vier Tage und Nächte; am fünften Tag fand sich Colo auf einem trockenen Pfad, all seine Besitztümer in einem Leinensack mit sich tragend, sein Hund neben ihm und seine verbliebenen Schafe vor ihm trottend. Verdorrtes Gestrüpp säumte den ausgetretenen Weg, jeder Schritt schickte kleine Wolken aus Staub und Schmutz in die Luft: es hatte keinen Regen gegeben in den letzten Wochen.
Enza zählte keine tausend Seelen, doch es war die größte Siedlung Upenos, die älteste und die einzige, die einen Namen trug. Die arbeitsamsten Bauern, Fischer und Viehhirten Upenos zogen regelmäßig hier her, um miteinander zu tauschen und zu handeln, aber nur wenige wollten sich auch hier niederlassen: denn Enza war erbaut auf Ruinen, am Rande einer alten Götterstadt.
Unförmige Schemen erblickte der Wanderer, der die Straße nach Enza nahm, schon von Weitem – es waren die Skelette verfallener Türme und Tempel, verrottete Paläste und allerlei halb in der Erde versunkene Gebäude. Der Strom der Jahrhunderte hatte sie allesamt unkenntlich gemacht, zu leeren Hüllen und klobigen Steinhaufen, denen man kaum ansah, dass Hände und Werkzeug sie geformt hatten. Die Sonne hatte jegliche Farbe von den Mauern gebrannt, der Regen hatte die Kanten glatt und fein gewaschen. Nichts als Staub und Scherben waren geblieben von den Gebilden der großen Götter, die noch immer Lieder und Legenden bewohnten. Colo empfand Verachtung für jene, die ehrfürchtig vor den Ruinen stehenblieben und sich angsterfüllt ausmalten, welch ungeheure Macht doch die Altvorderen gehabt haben, wie prächtig ihre Städte gewesen sein mussten. Colo hatte keine Angst. Wieso sollte er jene fürchten, die untergegangen waren?
Sie erreichten Enza an einem grauen Morgen. Wolken waren aufgezogen und hingen schwer über dem Land, als wären sie zu erschöpft, ihm endlich den langersehnten Regen zu schenken.
„Ich wusste nicht, dass es so viele Menschen in Upeno gibt“, sagte Andro als sie sich an den ersten Hütten und Ställen vorbeischoben, um die sich eine solche Menge an Leuten drängte, wie auch Colo sie noch nie gesehen hatte. In Enza baute man Hütten nicht aus Lehm und Stroh, sondern aus Stein und Holz: wer sich hier niederließ, tat es, um zu bleiben. Die Mutigsten bezogen gar jene verfallenen und eingesunkenen Überreste der einstigen Götterstadt. Nun, da Seuche, Hunger und Verzweiflung so viele Hirten und Bauern nach Enza getrieben hatte, waren Zelte und einfache Verschläge zwischen den Häuschen und Ruinen gewachsen wie Schimmel auf altem Brot. Es stank nach Schweiß, Tier und Unrat, nach verdorbenem Essen und faulendem Wasser.
Esco, der tagelang über alles und jeden geklagt und ihre Reise ob seiner müden alten Beine in die Länge gezogen hatte, schien all den Lärm und die erdrückende Enge nicht wahrzunehmen. Je weiter sie in die Siedlung vordrangen, desto lebendiger wurde er. Colo schnaubte als er ein Lächeln auf dem Gesicht des alten Mannes erblickte. „Ha!“, entfuhr es diesem, „ha! sie sind noch da, noch immer verfault, so wie ich sie kennenlernte!“
„Warst du denn schon einmal hier, Väterchen?“, fragte Ela während sie erschöpft das Lamm zu Boden ließ, das sie für Stunden auf den Schultern getragen hatte. Es suchte unter Colos verbliebenen Schafen nach seiner Mutter.
Esco schien nicht zuzuhören. Er begutachtete jeden moosbewachsenen Stein, der zu einem Tempel oder einem Turm gehört haben könnte und murmelte vergnügt vor sich hin. Irgendwann sah er Ela an und lachte sein heiseres Lachen, das Colo so abscheulich fand. „Ha!“, sagte er wieder, „natürlich war ich hier, überall war ich, in jeder verdammten Götterstadt, über den ganzen verdammten Brocken Land bin ich gewandert!“
Colo spürte, wie die Zornesfalten seine Stirn zerfurchten. Esco sprach oft von seiner angeblichen Wanderschaft durch Upeno und die Gegenden jenseits, von Ruinen, die er gesehen und auf die er gepinkelt hatte; er erzählte von den schrecklichen Ungeheuern, welche die Götter hinterlassen hatten, um sich an der Welt für ihren Untergang zu rächen; er meinte zu wissen, dass Upeno auf einem schmalen Streifen Land lag, der ringsum von einem tiefen, blauen Meer umspült wurde – etwas, für das sich nicht Hirte noch Bauer noch Fischersmann interessierten, am allerwenigsten Colo. Was sollte es ihn sorgen, wo Upeno lag und wie groß es war? Die Sonne zog morgens über den Hügeln auf, hing zu Mittags heiß über seinem Kopf und versank abends im Meer, das wusste er und mehr zu wissen hatte es ihn nie verlangt.
Ja, manchmal gab es einen allzu wissbegierigen Jüngling in den Dörfern Upenos oder ein störrisches Mädchen, das es leid war, Schafe zu hüten; und manchmal zogen solche jungen Narren aus, liefen fort von Heim und Herd, um den Rand der Welt zu sehen und kehrten nicht wieder. In manchem altem Märchen hieß es, die Welt würde nicht am Horizont enden: es gäbe Länder weit jenseits Upenos, jenseits des Meeres, jenseits der Großen Berge. Colo hielt das für Unsinn. Niemand hatte je ein solches Land gesehen, nicht einmal Esco, und danach zu suchen, war ein törichtes Unterfangen. Upeno schenkte alles, was man zum Leben brauchte, warum also sollte man sich Gedanken machen über ferne Länder aus alten Geschichten? Wer zu viele Fragen stellte, der lebte ein unglückliches Leben.
„Wir müssen einen Platz finden für uns und die Tiere“, sagte Ela und deutete Colo, seine Schafe dicht bei sich zu halten. Es war schwierig in all dem Gedränge: zu viele Menschen sammelten sich auf den engen Wegen, lungerten neben ihren Häusern oder trieben ihr Vieh vor sich hin. Andro nahm seine kleine Schwester an der Hand – um sich selbst zu beruhigen, wie es schien, denn Palas Gesicht verzog sich kein einziges Mal während sie sich zwischen den Hütten und Zelten hindurchquälten.
Sie gingen auf und ab, hin und zurück und im Kreis umher, bis in den Nachmittag hinein. „Lassen wir uns außen nieder“, sagte Colo irgendwann als seine Beine so starrten vor Dreck, dass er glaubte, sie nie wieder völlig sauberwaschen zu können. „Am Rand, an der Straße auf der wir herkamen.“ Es schien ihm das einzig Vernünftige zu sein.
Ela schüttelte den Kopf, warf ihm einen ihrer vorwurfsvollen Blicke zu. Ela kannte viele vorwurfsvolle Blicke, viele verschiedene, und Colo hatte gelernt, sie zu lesen. Was Ela wollte war ein Dach oder zumindest etwas, das einem Dach gleich kam. Sie hatten kein Zelt, nur grobe Leinentücher, die, an einigen Stangen aufgespannt, einen kleinen Unterstand boten. Die letzten Nächte hatten sie so verbracht und es hatte Colo gefallen. Er mochte die frische Nachtluft und den freien Himmel. Ela aber sehnte sich nach einem Dach, einem guten, festen Dach, das den Regen abhalten und die Sterne wegsperren würde. Darauf wusste Colo keine Lösung.
Es war Esco, der Elas Wunsch erfüllte. Er ging ihnen voran, führte sie durch die engen Gassen weiter nach Enza hinein und schließlich aus Enza heraus: dorthin, wo keine Hütten und Zelte mehr standen, wo niemand je ein Häuschen gebaut hatte oder bauen würde, wohin kaum jemand verzweifelt oder sorglos genug war zu gehen. Esco, der alte, kränkliche Esco, führte sie tief in die Ruinen, direkt ins Herz der Götterstadt.