Andros Schluchzen hallte von den Steinen wieder, die zu ihren Seiten in die Höhe wuchsen, schief und zerfallen, von allerlei Flechten und Kletterpflanzen berankt oder halb mit knorrigen Bäumen verwachsen. Pala ging wortlos an der Hand ihres Bruders, ihr Gesicht leer wie die Reisschüsseln nach einer schlechten Ernte. Ihre Angst brach nicht in Tränen aus ihr hervor, sie war nicht in ihren Zügen zu lesen, sondern saß tief in ihr, ungehört und ungesehen.
So ging es auch Colo. Es war ihm furchtbar zumute in der grässlichen Stille, die zwischen den steinernen Gebilden herrschte. Die Ruinen hier waren höher als jene am Rande Enzas, wo die Menschen lebten, und überwuchert von Grün; es schien, als hätte die Natur sich an den Göttern gerächt für all die riesigen Paläste, die sie so achtlos erbaut hatten. Nicht nur Stein lag unter Ranken, Gras und Sträuchern begraben – es schauderte Colo wenn er von Zeit zu Zeit riesige schwarze Formen aus den Trümmern ragen sah, teils unberührt vom Strom der Jahrhunderte, teils verrostet oder verbogen: die Götter hatten es verstanden, Metall nach ihrem Willen zu formen.
Es gab nur wenige in Upeno, die sich Eisen gefügig machen konnten. Feuerhirten nannte man sie und es hieß, sie würden in den Bergen nach Metallen suchen oder es in den Götterstädten sammeln. Sie formten daraus grobe Töpfe, Messer und einfaches Werkzeug, Schließen und Spangen für Hemden, Achsen und Naben für Fuhrwerke und allerlei anderen Hausrat. Von Zeit zu Zeit zogen sie durch die Dörfer und tauschten ihre Erzeugnisse gegen Vieh, Kleidung oder ein warmes Essen. Selten ließ sich einer lange irgendwo nieder, denn ihre Kunst war ein Geheimnis, das sie nur an ihre Kinder weitergaben und wohl vor anderen verbargen. Wie ihre Ahnen an dieses Wissen gelangt waren, wussten sie selbst nicht mehr.
Colo hatte schon oft mit Feuerhirten gehandelt; ein Schaf hatte er bei einem für sein Messer getauscht. Sie waren stille und einfache Leute, die nicht viel Aufruhr machten, das gefiel ihm. Er sah sich gerne an, was sie mit sich brachten, ließ seine Hände gerne über Töpfe und Pfannen fahren und das kühle Metall fühlen. Als Kind hatte er sich heimlich gewünscht, einer von ihnen zu sein, in ihre Geheimnisse eingeweiht zu werden; selbst ihre ewige Wanderschaft hätte er dafür in Kauf genommen. Doch so sehr er die Kunst der Feuerhirten bewunderte, so sehr verabscheute er, was er im Herzen Enzas erblickte. Es ließ ihn an Geschichten denken, die er immer und immer wieder an einem nächtlichen Feuer gehört hatte: Die Götter geboten der Erde, sich zu öffnen und die Erde gehorchte. Es tat sich ein großes Loch auf, in das die Götter hinabstiegen, hinab und hinab bis in das Herz der Welt. Dort fanden sie ein brennendes Meer, aus dem sie eifrig Wasser schöpften und nach oben brachten; denn unter dem Licht der Sterne erstarrte dieses Wasser und wurde zu Metall und daraus formten sich die Götter große Waffen, mit denen sie über die Menschen herrschten …
Colo fragte sich, ob das, was aus den Trümmern ragte, die eisernen Waffen der Götter waren. Es waren gewaltige Gebilde, die selbst zwanzig starke Feldarbeiter nicht hätten stemmen können; doch es hieß auch, die Götter seien sehr groß gewesen, so groß wie zehn Menschen und so stark wie hundert.
„Da ist er, da ist er, noch immer verfault, aber er ist noch da!“, schrie Esco mit einem Mal und weckte Colo aus seinen Gedanken. Es war Abend geworden und die gekrümmten Skelette Enzas versanken immer mehr in den Schatten der nahenden Nacht.
„Bei allen Geistern der Ruinen“, hauchte Ela und griff nach Colos Arm wie um sich zu überzeugen, dass sie nicht träumte. Sein Blick folgte dem ihren und blieb auf einem Hügel hängen, der nicht weit vor ihnen aus dem Boden wuchs, hoch und dunkel und bedrohlich.
Seine Hänge waren steil und seltsam gleichförmig, die höchste Stelle geneigt als hätte ein Riese ihn mit aller Kraft halb gekippt. Unter Erde, Gras und wilden Sträuchern sah Colo bleichen Stein, und er ahnte, dass dies kein echter Hügel war, sondern ein weiteres verlorenes Bauwerk der Götter. Von etwas so gewaltigem jedoch hatte er noch nie gehört, noch nicht einmal von Esco. Im Zwielicht war es schwer, die Ausmaße der Ruine auszumachen; klobige Steinhaufen sammelten sich um den Hügel, Überreste von Wänden und Säulen ragten daraus hervor, manche so überwuchert, dass man sie für Bäume oder Sträucher halten mochte.
„Es muss stimmen, was die Geschichten sagen“, flüsterte Colo Ela zu. Seine Stimme klang klein und bedeutungslos inmitten der Ruinen. „Die Götter müssen zehn Männer groß und hundert Männer stark gewesen sein. Warum sonst hätten sie so große Häuser bauen sollen? Wie sonst hätten sie so viel Stein auf einen Fleck heben können?“
Andro und Pala klammerten sich an ihre Mutter, die kleinen Glieder zitternd vor Müdigkeit und Angst. Selbst Colos Schafe scharrten nervös als wollten sie nichts als diesen unheilvollen Ort verlassen. Colo, der Hund winselte, doch ob der Dunkelheit oder des Hungers konnte sein Herr nicht sagen. Nur Esco schien so lebendig und vergnügt als wäre all der Trübsinn des Alters von ihm gefallen. Eilig und unentwegt vor sich hin murmelnd ging er auf die mächtige Ruine zu. „Kommt, worauf wartet ihr, wollt ihr denn keinen Platz zum Schlafen?“, rief er ohne sich zu ihnen umzuwenden.
Colo hasste Esco wie er ihn noch nie gehasst hatte. Er hasste sich selbst dafür, einem dummen alten Mann in eine verfaulte Ruinenstadt gefolgt zu sein, wo es nichts gab als zerbröckelten Stein, wucherndes Gestrüpp und tiefe Schatten. Dies war kein Ort, um Zuflucht zu finden – dies war ein Zeugnis des Untergangs, des Verfalls. Sosehr wünschte sich Colo seinen Olivenhain zurück, seine Hügel und Felder und seinen freien, offenen Himmel, dass er am liebsten umgekehrt wäre, ohne Ela und ihre Kinder, nur mit seinen Schafen und seinem Hund. Schafe waren so viel einfacher als Menschen.
Doch Ela nahm ihn an der Hand, zog ihn mit sich. Sorge stand in ihrem Gesicht, aber ihr Griff war kräftig und entschieden, denn sie vertraute Esco. Colo hasste auch sie dafür. Er hasste Andro, dessen Schritte sofort leichter wurden als er die Entschlossenheit seiner Mutter bemerkte. In diesen Augenblicken mochte Colo nur seinen Hund, seine Schafe – und Pala, die furchtsam und widerwillig an Elas anderer Hand ging.
Esco führte sie zu einem klaffenden Loch in der riesigen Ruine. Nicht als Schwärze lag dahinter, doch der alte Mann schien unbeirrbar darin, sie geradewegs in die beklemmende Dunkelheit eines Götterhauses zu führen. Er ging voraus, stieg über Felsen, zog sich an Ranken und Wurzeln hoch als ob die Müdigkeit plötzlich aus seinen Knochen gewichen wäre. Nur manchmal hörte Colo ihn keuchen, aber er war sich nicht sicher, ob es nicht doch sein widerwärtiges Lachen war.
Die Lücke inmitten der Steinmauern lag ein Stück über dem Boden und es war nicht einfach, die Schafe über Felsen und überwachsene Schutthaufen, die wie eine unwegsame Rampe nach oben führten, zu treiben. Esco, Ela und die Kinder waren bereits in der Dunkelheit verschwunden als Colo das letzte Tier nach oben zerrte. Er stand lange, sehr lange vor dem Loch, das wie ein zu großer Riss vor ihm in den Mauern der Ruine gähnte bevor er den anderen hineinfolgte.
Drinnen war es dunkel, doch nicht so ganz und gar finster wie Colo erwartet hatte. Schwaches Tageslicht fiel von weit oben herab; es musste wohl noch andere Löcher in den alten Mauern geben. Durch seine dünnen Schuhe fühlte Colo Schutt und kantigen Stein und er spürte einen leichten Luftzug auf seinen Armen. Zu seiner Überraschung hörte ein leises Rauschen und Plätschern von Wasser, als ob ein Bach mitten durch die Ruine rannte. Es roch nach Moos und feuchter Erde.
Ein kleines Feuer brannte bereits einige Schritte entfernt, entzündet in dem Holz, das Ela auf dem Weg gesammelt hatte. Sie, Andro und Pala saßen schweigend davor und aßen zähes Fladenbrot. Esco hatte sich auf einem großen Stein niedergelassen, vergnügt singend und mit einem selbstgefälligen Lächeln im runzeligen Gesicht. Er sah hinauf in die Dunkelheit, rief immer wieder einzelne Worte ins Nichts und erfreute sich wenn sie von weit entfernten Wänden wiederhallten. Wortlos nahm Colo neben Ela Platz und riss sich ein Stück Fladenbrot ab, an dem er lange kaute. Er hörte seine Schafe um sich durch die Finsternis trotten, auf der Suche nach Grasbüscheln. Sein Hund lag neben ihm eingerollt und schlief, rannte in Träumen über sonnige Felder und durch einen warmen, duftenden Olivenhain.
Das Licht, das weit oben durch die Mauern drang wurde schwächer und verschwand schließlich ganz. Sie saßen lange um ihr schwaches Feuer und schwiegen in der wachsenden Dunkelheit. Irgendwann fing Esco zu sprechen an, mit einer seltsamen Ruhe in seiner sonst so knarrenden, hektischen Stimme; er erzählte ein altes Märchen, das Colo oft gehört und oft wieder vergessen hatte.
„Es heißt, die Götter waren den Menschen nicht unähnlich. Sie aßen von den Früchten der Erde und auch wenn sie hunderte Jahre alt wurden, waren sie sterblich. Manche von ihnen waren mächtiger und reicher als andere, manche herrschten, andere bauten für die Herrscher große Hallen. Einmal lebte einer unter ihnen, den sie Mici nannten, der war sehr klug, aber schwach und auch sehr arm. Die anderen Götter lachten über ihn.
Eines Tages beschloss Mici, sich an seinen Spöttern zu rächen. Er wollte ihnen ein Denkmal setzen, das sie für immer daran erinnern sollte, dass sie ihm Unrecht getan hatten. Also zog er aus, wanderte durch die Welt und nach einer Weile fand er ein gutes Stück Land, auf das er sein Denkmal setzen wollte.
Daraufhin ging er zum stärksten aller Götter, der Bäume mit den bloßen Händen aus dem Boden reißen und Berge mit seinem Beil spalten konnte. Oft hatte er über Micis Schwäche gespottet. Nun aber sagte Mici zu ihm: 'Du nennst dich den stärksten aller Götter. Ich aber denke, du bist ein Prahler. Du bist nicht stärker als der nächste.' Der Starke wurde sehr wütend über diese Worte. 'Ha, Schwächling', sprach er, 'was weißt du von Stärke? Ich will dir beweisen, dass niemand so stark ist wie ich. Sag, was willst du sehen? Keine Aufgabe ist zu groß für mich.' Mici antwortete: 'Siehst das Land, das dort unter der Morgensonne liegt? Ich wette, du bist nicht stark genug, tausend schwere Steinquader aus den Bergen dorthin zu tragen und aus ihnen die größte Halle zu bauen, die je ein Gott oder Mensch gesehen hat.' Darüber lachte der Starke laut auf und er ging in die Berge. Noch bevor die Sonne im Zenith stand, hatte er tausend schwere Steinquader an ihr Ziel gebracht und sie zu einer gewaltigen Halle geschichtet.
Mici ging zum reichsten aller Götter, der so viel Gold und Juwelen besaß, dass er einen Vulkan bis zum Rand damit hätte füllen können. Er hatte nicht selten über Micis Armut gelacht. 'Du nennst dich den reichsten aller Götter', sagte dieser nun zu ihm, 'aber du bist nichts als ein Prahler. Du bist nicht reicher als der nächste.' Auch der Reiche war über Micis Worte sehr erzürnt. 'Du vorlauter Bettler!', rief er aus. 'Du hast so wenig, dass du dir meinen Reichtum gar nicht ausmalen kannst! Aber ich will dir gerne beweisen, dass mir nichts zu teuer ist. Nenne mir deinen Preis.' Und Mici sagte: 'Siehst du die mächtige Steinhalle, die dort unter der Mittagssonne liegt? Ich wette, du bist nicht reich genug, um sie mit den vorzüglichsten Metallen, Farben und Edelsteinen zu schmücken, auf dass sie die prächtigste aller Hallen werde.' Sofort sandte der Reiche seine Diener aus und sie kleideten die Halle in ein schillerndes Gewand aus Farben und Juwelen, das in der Sonne strahlte wie die Sterne am Himmel.
Da ging Mici zum mächtigsten aller Götter, der mit dem bloßen Gedanken das Unmögliche möglich machen konnte. Nie hatte er Mici auch nur eines Blickes gewürdigt. 'Wer bist du, Staubkorn, dass du es wagst unter meine Augen zu treten?', fragte er seinen Besucher. Darauf antwortete Mici: 'Du nennst dich den mächtigsten aller Götter. Doch hast du uns je deine Macht bewiesen? Vielleicht bist du nicht mächtiger als der nächste.' Bei diesen Worten ließ der Mächtige die Erde beben und den Himmel Stürme weinen. 'Zweifelst du nun noch immer an meiner Macht?', fragte er. 'Nein', antwortete Mici. 'Ich und kein anderer lebender Gott zweifelt noch an deiner Macht. Aber jene, die nach dir kommen, werden zweifeln, denn nichts als Geschichten werden von dir bleiben.' Dies gab dem Mächtigen zu denken und Mici fuhr fort: 'Ich will dir helfen, deiner Macht ein Denkmal zu setzen. Siehst du die prächtige Halle, die dort unter der Abendsonne liegt? Kröne sie mit der größten Kuppel, die diese Welt je gesehen hat – so groß, dass nur deine Macht sie schaffen kann. Sie wird dich überdauern und jeder, der sie sieht, wird wissen, dass du der mächtigste aller Götter warst.' Das gefiel dem Mächtigen. Sofort schritt er zu der Halle und ließ mit bloßen Gedanken eine riesige Kuppel entstehen, die er auf das gewaltige Bauwerk hob.
Die ganze Nacht arbeitete der Mächtige daran, und als der Morgen graute, sank er erschöpft nieder. Mici aber rief alle Götter zusammen und erstaunt sammelten sie sich vor ihm. 'Seht', sagte Mici zu ihnen, 'ich schenkte euch Samadelfi, die prächtigste aller Hallen. Sie wurde erbaut von jenen, die ihrem eigenen Stolz zum Opfer fielen. Sie soll euch ein Denkmal sein, dass Klugheit über Stärke, Reichtum und Macht regiert.'
Viele Zeitalter zogen vorüber, doch Samadelfi blieb bestehen, die mächtige Kuppel weithin sichtbar. Der Strom der Jahrhunderte wusch die Namen ihrer Erbauer aus dem Gedächtnis der Götter und niemand dachte noch an den Starken, den Reichen und den Mächtigen. An Mici aber erinnerten sie sich lange und selbst die Menschen kannten seinen Namen, lange nachdem die Götter untergegangen und zu den Sternen gewandert waren.“
Esco verstummte und Colo lag in der Dunkelheit, unter sich eine kratzige Decke und über sich nichts als leeren Raum. Er glaubte Micis Halle zu sehen, ihre Pfeiler blenden weiß im Sonnenlicht, die Wände strahlend in ihrem Gewand aus Farben, die Kuppel so groß wie das halbe Himmelszelt. Eine schwere Müdigkeit ergriff ihn und als er einschlief, hörte er noch den Regen, der prasselnd auf Samadelfis Kuppel fiel und an ihren steilen Wänden hinunterrann, schneller, flutend, als würde die Erde all das Wasser durstig an sich reißen.