Wie anfangs erwähnt, mag der Verlust von Schnuffel eine banale Angelegenheit sein für jeden Erwachsenen, der die Fantasie verlernt hat, doch für Kristoff war das ein harter Schlag.
Eine Woche war vergangen, seit sie von der Ostsee zurückgekehrt waren. Seine Mutter musste bereits wieder arbeiten und befand sich mit dem Flieger irgendwo im Südamerika, was Karotte nur mühsam auf der großen Weltkarte zeigen konnte, die sie an die freie Wand in seinem Zimmer gepinnt hatte, zusammen mit jeder Menge bunter und exotischer Postkarten aus all den fremden Ländern, die sie schon besucht hatte, während er in der Obhut seiner Großmutter aufwuchs. Überhaupt hatte sie ihm aus beinahe jedem Land, das sie bereist hatte, etwas mitgebracht. Sein Zimmer glich einem Laden für Souvenirs, aber Karotte mochte das ganze, tolle Spielzeug, die Figuren und besonders den coolen Panama-Hut, der an einem Nagel an der Wand hing, weil er ihm noch nicht passte.
Was er allerdings hasste, war der lächerliche Teddybär, der in seinem Schaukelstuhl saß, neben seinem Kleiderschrank, und ihn mit seinen glänzenden Glasaugen heraus anstarrte. Er trug einen Dandyhut und die alberne Fliege im Karomuster ließ ihn affig aussehen. Sein Fell glänzte synthetisch und er roch neu und chemisch.
Seine Mutter hatte ihn geschickt. Als ‚Ersatz‘ für seinen verloren gegangenen Schnuffel. Doch dieser hatte ein schönes, weiches Fell aus echter Wolle, er roch nach Vertrautheit, nicht nach Gift und er sah nicht so lächerlich aus!
Als könnte dieses steife und müffelnde Stück Fließbandspielzeug ihm seinen langjährigen Freund ersetzen. Seine Mutter kannte ihn wirklich nicht besonders gut. Denn sonst wüsste sie, dass sich Karotte nie viel aus brandneuem Spielzeug gemacht hatte. Er mochte Dinge, die Fehler hatten. Wie Schnuffel, dem ein Auge gefehlt hatte. Als seine Oma ihm neue Augen annähen wollte, hatte der Junge abgelehnt. ‚Ein Krieger trägt seine Narben als Beweis, dass er tapfer ist.‘, hatte er als Begründung gesagt und dabei etwas wiederholt, das er in einem Ritterfilm aufgeschnappt hatte. So durfte seine Oma nur den Riss vernähen, damit der Plüschhund nicht all seine Füllung verlor, und dieser trug fortan eine coole Narbe, wo einst sein Auge war.
Dieser Eindringling im Dandy-Outfit allerdings hatte keine Fehler. Es kitzelte den Jungen, seine Schere zu nehmen und ihn kaputtzuschneiden. Doch er wusste, dass ihm seine Oma dann den Hintern versohlen würde, also ließ er von dem Gedanken ab.
»Guck nich‘ so blöde!«, fauchte der Junge, packte den schicken Bären und stopfte ihn in seinen Schrank. Er wollte ihn nicht sehen, denn er würde ihn niemals liebhaben.
Resigniert und gelangweilt starrte er eine Weile aus dem Fenster. Draußen war wunderbares Wetter. Fernab der See hatte es sich deutlich gebessert. Es war zwar trockener, aber auch heißer und Kristoffs altgoldene Haare kringelten sich in seinem Nacken vor Wärme. Er langweilte sich tierisch, da seine zwei besten Freunde Felix und Nico mit ihren Familien irgendwo im Urlaub waren. Es war niemand da, mit dem er würde spielen können. Normalerweise ist er in solchen Situationen allein mit Schnuffel irgendwo herumgestrolcht. Aber Schnuffel war nicht mehr da und Karotte wusste nichts mit sich anzufangen.
Er seufzte nochmal gelangweilt, holte sich in der Küche einen Becher Saft und trabte in den Garten hinaus, in dem seine Oma im Blumenbeet hockte und so tat, als würde sie Unkraut jäten. Dabei lehnte sie nur an einem Baum und döste unter ihrem Sonnenhut.
»Oma, es ist so langweilig«, nörgelte der Neunjährige.
»Wollen wir ein Spiel spielen? Mensch-ärgere-dich-nicht?«
»Neeee...«
»Du könntest drüben klingeln und fragen, ob Emily und Lilli mit dir spielen wollen«, schlug die Oma vor und grinste bereits, denn sie ahnte, wie ihr Enkel antworten würde.
»Ieh, nee. Das sind Mädchen. Ich spiel‘ nich‘ mit Mädchen, die sind doof. Die wollen immer nur ihren Puppenwagen schieben und ich soll arbeiten, damit sie Kleider kaufen können.«
Die alte Dame lachte leise. ‚Na warte mal noch 5, 6 Jahre, dann sind die beiden bestimmt nicht mehr doof!‘, dachte sie, sagte aber nichts.
»Und nu?«, fragte sie stattdessen. Der Junge zuckte theatralisch mit den Schultern.
»Darf ich die Straße runter? Die haben da hinten Sperrmüll.«
Einen Moment dachte die Oma nach und nickte dann. »Versprich mir, dass du nichts kaputt machst und nicht auf die Straße gehst.«
»Aber jaaaa doch«, grinste der Junge und fegte aus dem Gartentor.
Die Leute in der Nachbarschaft kannten Kristoff, der blonde Junge war gern gesehen bei den vornehmlich Rentnern und jungen Familien, die in der Gegend lebten. Es entsprach eigentlich der Normalität, wenn lautes und fröhliches Kinderlachen durch die Gärten und wenig befahrenen Straßen der Siedlung hallte. Doch jetzt, im Sommer, waren viele der Häuser verrammelt und leer, die Leute im Urlaub.
Zügig trabte der Junge über den heißen Gehweg, dessen Wärme er sogar durch seine Turnschuhe spüren konnte. Er schwitzte und nahm sich vor, ein großes Eis zu essen, wenn er wieder zuhause war.
Die Leute, die ihren Sperrmüll rausgestellt hatten, hatten vor, das Haus zu verkaufen. Er hatte gehört, wie seine Oma das einer ihrer Freundinnen erzählt hatte. Und jetzt wollten die Leute alle ihre Möbel und den ganzen Krempel wegwerfen. Sie hatten ein offenes Grundstück, das normalerweise mit kniehohem Gras bewachsen war, mit dem Zeug vollgestellt und der Junge kam sich ein bisschen so vor wie in einem Möbelhaus. Nur dass diese hier irgendwie müffelten, nach alten Menschen und den ekligen Mottenkugeln, die Oma immer zwischen die Winterpullis steckte.
Neugierig betrat er diesen ungenutzten Teil des Grundstückes. Vorn an der Straße reihte sich der modrige Sperrmüll auf, doch weiter hinten waren verkrüppelte Büsche, Bäume, deren Äste sehr tief hingen wie bei Trauerweiden und selbst hier stand noch Krempel rum. Fasziniert betrachtete er die verrostete, skelettiert wirkende Außenhülle eines alten Autos. Dieser verwachsene Teil des Grundstücks war ihm unheimlich und so beschloss er, sich nur vorn umzusehen. Lieber ertrug er den Muffelgeruch, als hier weiter hinten auf irgendwelche Monster zu treffen.
Neugierig streiften seine Augen über die alten Möbel, die bestimmt mal schön waren, als die Polster noch nicht so zerschlissen waren oder die Türen an den Schränken so ausgeleihert.
Mit spitzen Fingern sah er sich in einer Kiste um, in der er etwas hatte leuchten sehen, was seine Neugier entfachte. Der helle Sonnenschein hatte einen kräftigen, pinken Farbtupfer in sein Sichtfeld geworfen und nachdem er ein paar alte, gelbstichige Nachthemden beiseite geräumt hatte, blickte er in die blauen Augen eines gar nicht mal so alten, aber ziemlich dreckigen, etwa 60 Zentimeter großen Ponys. Es war aus Plüsch und eindeutig für Mädchen!
Desinteressiert wollte er sich schon abwenden und zum Eisessen nach Hause gehen, als er eine Stimme hinter sich hörte.
»Sehr unhöflich von dir, mich hier auszugraben und dann einfach so liegenzulassen!«
Er wandte sich um und sein Fantasiespiel hatte begonnen.
»Gar nicht. Ich mag kein My Little Pony, das ist was für Mädchen. Und ich mag nichts pinkes.«
»Dann kannst du mich ja wieder unter den Hemden verstecken. Soll ich hier in der Sonne verbrennen?«
Jeder, der Karotte bei seinem Spiel beobachtet hätte, hätte sich darüber amüsiert, dass er Selbstgespräche mit einem Spielzeug führte, doch dem Jungen vertrieb es die unsägliche Langeweile.
Er ging wieder heran an das schmutzige Pony, hob es an und guckte es von allen Seiten an.
»Hey, das ist ja wie beim Metzger!«
Karotte lachte über sich selbst. Er glaubte sich zu erinnern, dass eines der Enkelkinder der Leute, die hier wohnten, mal mit einem Pinky Pie-Plüschtier herumgerannt war. Es hatte das Spielzeug nicht sehr pfleglich behandelt, hatte es immer zu auf den Asphalt geworfen, durch die Gegend gekickt und an ihm gerissen. Das hatte Spuren hinterlassen. Das Pony war sehr schmutzig und hatte Risse an einem der Beine und am Bauch, aus denen das weiße Füllmaterial herausquoll.
Aber die Oma konnte das doch bestimmt flicken, oder?
»Ich finde My Little Pony doof. Weil es da keine Jungs gibt. Aber ich nehme dich mit nach Hause. Meine Oma macht dich wieder ganz.«
Mit einem zufriedenen Grinsen klemmte sich der Junge das Spielzeug unter den Arm und schlich wie ein Spion nach Hause zurück.
»Oha, was hast du denn da gefunden?« Die alte Dame drehte das arg in Mitleidenschaft gezogene Spielzeug in den Händen.
»Ich hab es bei Oma Kreuzer in einer Kiste gefunden. Kann man das flicken?« Kristoffs blaue Augen hatten zum ersten Mal seit dem Verlust von Schnuffel wieder so etwas wie Farbe und seine Oma lächelte.
»Nichts, was ich mit Nadel, Faden und der Waschmaschine nicht wieder hinbekomme. Keine Sorge. Geh‘ dir ein Eis holen, ich hole mein Nähzeug.«
Während der Junge ein Eis lutschte und sich eine Kindersendung im Fernsehen ansah, flickte und stopfte seine Oma die Wunden des Ponys, bürstete den Dreck ab und versah die unschönen Nahtstellen mit dekorativen kleinen Flicken, da sie wusste, dass ihr Enkel eine Vorliebe für Dinge hatte, die einen offenkundigen Makel hatten. Später steckte sie es in die Waschmaschine.
Es war bereits Schlafenszeit, als dem Jungen sein Fundstück wieder einfiel. Er lag bereits im Bett, mit geputzten Zähnen, den ungeliebten neuen Bären der Mutter noch immer in den Schrank verbannt, als er danach fragte.
Die Oma, die das Plüschtier nach dem Waschen in den Trockner gesteckt hatte, bürstete das Plüschfell in Form, bevor sie es ihrem neugierigen Enkel, der in seinem Bett saß, in die Hand drückte.
»Na, die haben wir doch toll hinbekommen. Überleg‘ nur, wie schlimm sie vorher aussah.«
Karotte nahm das Spielzeug entgegen und drehte es in den Fingern. Die Flicken waren hellblau und pink und passten zu der Mähne, die auch Pinky Pies Haare waren. Das Fell, das zuvor mehr grau und schmuddelig war, war nun wieder weich und wirklich rosa. Es fühlte sich gut unter den Fingern des Jungen an. Der Körper war weich und anschmiegsam und es duftete nach Weichspüler und Wärme, wie alles, was Oma aus dem Trockner nahm.
»Und? Hat sie einen Namen, deine neue Freundin? Wie heißt sie in der Serie doch gleich?« Die Oma kannte fast jede Kinderserie, doch konnte sich oft nicht an die einzelnen Figuren erinnern.
Karotte schüttelte den Kopf. »In der Serie ist sie doof und heult ständig. Sowas will ich nicht haben. Sie ist ganz anders. Sie hat Wunden davon getragen, weil jemand sie schlecht behandelt hat. Ich glaub‘... hm... ich glaub‘, ich nenne sie Pippa!«
Die Oma lächelte. »Das ist ein schöner Name. Nun dann, ihr zwei, es ist Schlafenszeit.« Sie küsste ihren Enkel auf den Kopf und deckte ihn zu, während er noch immer ganz fasziniert das Pony anblickte.
Mit einem Lächeln betrachtete die Oma ihn noch einen Moment, bevor sie das Licht ausschaltete. Es mochte keine Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, wie bei Schnuffel, die Kristoff zu seiner neuen Gefährtin gebracht hatte, doch er war auf dem besten Weg.
Seine Mutter mochte ihn für zu alt halten, doch sie, seine Oma, war der Meinung, dass ein guter, imaginärer Freund besser war als ein allzu echter, falscher.
Eines Tages würde sich das verwachsen. Doch bis es soweit war, sollte er seinen Willen haben.
Karotte schlief ein, Pippa an sich gedrückt, und endlich fühlte es sich nicht mehr leer in seinen Armen an.
ENDE