»Dü dü dü - Kein Anschluss unter dieser Nummer.«
Verwundert hielt ich das Telefon in den Händen und blickte auf das bereits wieder schwarz gewordene Display.
Konnte das stimmen?
Hatte ich mich vielleicht in der Nummer geirrt? Ich verglich die Ziffern auf dem Display mit denen, die ich auf einer mittlerweile leicht zerknitterten Serviette zu stehen hatte.
Hatte er mich verarscht? Hatte er mir absichtlich die falsche Nummer gegeben, weil er gar kein Interesse daran hatte, mich wiederzusehen? War ich am Ende nur ein ganz gewöhnlicher One-Night-Stand für ihn?
Ich seufzte und ließ mich auf der alten Bank nieder.
Na fantastisch!, schalt ich mich. Da war ich also einem Playboy auf den Leim gegangen und hatte es nicht einmal bemerkt.
Das hast du ja wundervoll hinbekommen, Marius!
Das hatte meine beste Freundin sicher nicht im Sinn, als sie sagte, ich sollte ausgehen, um in meiner neuen Stadt ein paar Leute kennenzulernen. Ich knüllte den Zettel in den Händen zusammen und steckte das Handy weg.
Es hatte ja doch keinen Zweck, hier deswegen jetzt rumzuheulen.
Es war ja nicht so, als hätte ich in dieser Nacht vor zwei Tagen keinen Spaß gehabt. Denn genau das Gegenteil war der Fall gewesen. Ich hatte nur nicht viel Erfahrung auf diesem Gebiet.
Wie denn auch?
Ich war ein 20jähriger Typ vom Dorf und die Tatsache, auf Männer zu stehen, war dort nicht gerade etwas, was die Leute einfach so hinnahmen. Meine Eltern schämten sich noch immer dafür und hielten es deswegen für angebracht, dass ich mir in der Stadt eine kleine Wohnung nahm. Offiziell natürlich, damit ich leichter zur Uni gelang.
Aber ich wusste, was es genau zu bedeuten hatte. Wenn ich nicht mehr zuhause wohnte, würden die Leute irgendwann den schwulen Sohn der Beckmanns vielleicht vergessen.
Es tat weh, so abgeschoben zu werden von den eigenen Eltern. Und auch von den meisten meiner Freunde, die plötzlich nur noch wenig von mir wissen wollten.
Als wäre es eine ansteckende Krankheit, lieber Männer als Frauen zu küssen.
Plötzlich müde lehnte ich mich an die Bank und fuhr mir durch die dunkelblonden Haare. Erschöpft sah ich mich um und versank in meinen Gedanken.
Dieser Park war schön, aber der Himmel zog sich zu. Kühler Wind drang durch meine dünne Jacke und ich fröstelte.
Als die ersten Tropfen auf mich heruntergingen, blieb ich einfach sitzen. Ich hatte keinen Nerv, mich vor dem Regen zu schützen. Welchen Zweck hatte es denn auch? Ich fühlte mich schlecht, verraten und allein gelassen. Von allen.
Ich lebte seit 3 Monaten hier und in dieser Zeit hatte meine Mutter mich ganze zweimal angerufen und immer, wenn ich mal anrief, war sonderbarerweise niemand zuhause. Ich bekam mehr und mehr das Gefühl, als wollten sie mich nicht nur räumlich von sich weg haben, sondern auch emotional. Aber ich war noch nicht bereit, mich gänzlich von meinen Eltern zu lösen.
Warum sollte ich das wollen? Sie waren meine Eltern und ich war ihr Sohn. Sollten sie nicht etwas mehr Verständnis für mich haben?
Ich fuhr mir über das Gesicht, als die Regentropfen mir in die Augen liefen.
Sauer auf mich selbst und den Rest der Welt saß ich da wie ein Hund, den niemand haben wollte. Ich zog die Serviette aus meiner Jackentasche und blickte darauf, als der Regen die Buchstaben und Ziffern verwischte.
Julian stand darauf, bevor die Serviette vollgesogen war und ich sie in den Mülleimer warf.
»Fahr doch zur Hölle, du Arsch«, murmelte ich und zog die Nase hoch.
Ich wusste nicht, ob es wegen der Kälte war oder wegen dem Druck auf meiner Brust, aber ich zitterte und zog immer wieder die Nase hoch. Meine Augen brannten, aber ich würde mir lieber ins Knie schießen, als hier in einem verwilderten Park wegen eines Typen zu heulen, den ich nur einmal gesehen hatte und mit dem ich zufällig und als Resultat meiner Unerfahrenheit und Naivität im Bett gelandet war. Ich zwang mich, die Erinnerung an seine weichen Lippen und seine warme Haut zu verdrängen.
“Kein Anschluss unter dieser Nummer“ schien zu meinem Schicksal zu werden.
Meine Eltern hatten mich aufgegeben, meine Freunde – bis auf meine beste Freundin, mit der ich zusammenwohnte – kannten mich plötzlich nicht mehr und jetzt dieser Typ, bei dessen Erinnerung mein Herz noch immer schneller schlug.
Scheiße!
Ich war so ein Idiot. Warum musste das mein Leben sein?
Warum konnte ich nicht völlig normal ticken? So normal sein wie jeder andere Bursche in meinem Dorf, einen Beruf lernen, ein Mädchen heiraten, Kinder bekommen, ein Spießer sein?
Es war nicht das, was ich mir wünschte... aber ich wollte nicht von allen ausgeschlossen sein, nur weil ich so tickte wie ich tickte.
Meine beste Freundin sagte stets: »Ob Mann oder Frau ist ja völlig egal, was zählt ist, das man sich liebt.«
Das entsprach der Wahrheit, nur sag das mal den Leuten bei mir zuhause.
Da war es wichtiger, dass alles „mit rechten Dingen zuging“, ob man sich nun liebte oder nicht. Dort war es an der Tagesordnung, dass Ehemänner ihre Frauen betrogen oder ganze Familien sich gegenseitig belogen, solange nach außen hin alles in Ordnung war.
Verlogene Scheiße war das!
Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper und zog die Jacke fester um mich, als ich mich erhob. Meine Füße waren kalt, als ich mich auf den Heimweg machte.
Ich sollte einfach aufhören, über all das nachzudenken und versuchen, mein Leben hier in den Griff zu kriegen. Ich wohnte nicht mehr bei meinen Eltern, ich hatte den miefigen Dunst meines Heimatdorfes hinter mir gelassen und durfte nun endlich das sein, was ich wollte.
Ein junger, unabhängiger und vor allem schwuler Mann!
Wer brauchte denn schon Freunde und Familie, wenn sie einen im Stich ließen, wenn man sie am meisten brauchte? Und wer brauchte wildfremde Männer in Bars, die einem die falsche Nummer gaben, weil sie zu feige waren, zu sagen, dass es ihnen nur um eine Nacht ging...
Ich hatte den Ausgang des Parks erreicht und wollte gerade die Straße überqueren, als ich das Gefühl hatte, dass jemand hinter mir stand. In einer Stadt nichts Ungewöhnliches, aber es war so stark, dass ich mich umwandte.
Und plötzlich blickte ich in die Augen des Mannes, an den ich soeben noch gedacht hatte. Strahlend blau mit einem kindlichen Schalk darin.
»Marius«, sagte er und lächelte.
Ich zog die Stirn kraus und machte einen Schritt zurück.
»Was willst du denn?«
»Ich hatte gehofft, dich hier zu finden. Du hast gesagt, du kommst gern hier her... ich glaube, ich hab bei der Nummer, die ich dir gegeben hatte, einen Zahlendreher drin. Tut mir leid.«
Ich sah ihn an wie ein Auto, ganz sicher. Meinte er das ernst? Es war nur ein Versehen? Trotz der Kälte und der Nässe meiner Kleidung spürte ich, dass mir warm wurde, als Julian nach meiner Hand griff.
»Du bist ja schon ganz blau. Komm, ich lad dich auf einen Kaffee ein.«
Ich lächelte und ließ mich von ihm mitziehen.
Vielleicht gab es ja wenigstens ein Happy End in meinem momentanen Leben.