Obwohl Sakura nicht verstand, was vorgefallen war – warum Amelie nicht gelaufen war und was die einzelnen, seltsamen Sätze zu bedeuten hätten – so ahnte sie doch, dass es nichts Gutes gewesen war.
Sie las es aus Kyles Schweigsamkeit, als er sie zurück in ihre Box führte.
„Es tut mir sehr leid“, sagte er wieder, während er sie absattelte und striegelte. „Ich wusste ja, dass ihr beide noch nicht bereit wart. Aber ich hatte gehofft …“
Er sprach nicht weiter. Sakura stieß den Jungen an. Sie wollte nicht, dass er unglücklich war.
„Das war deine letzte Hoffnung“, meinte Kyle leise. „Ich hätte mir mehr Mühe geben müssen.“
Nachdem Kyle gegangen war, stand Sakura noch die ganze Nacht in ihrer Box und sah in den düsteren Stall. Langsam, ganz langsam, ging ihr auf, was Kyles Worte bedeuteten.
Die letzte Hoffnung: Ihre letzte Hoffnung worauf? Sakura hoffte, dass sie sich täuschte, doch es klang, als wäre das ihre letzte Hoffnung gewesen, diesen Hof zu verlassen, dem schwarzen Wagen zu entgehen, der morgen auf sie warten würde.
Stimmte das wirklich? War dieses seltsame Treffen mit der noch seltsameren Amelie ihre einzige Chance gewesen?
Sakura wollte das nicht glauben. Sie wollte kämpfen! Kyle hatte sie doch reiten können – vielleicht war sie doch keine Gefahr, vielleicht konnte sie zurück in den Reitstall. Sie würde sich schon zusammenreißen und die Angst überwinden – ein Schauer lief durch ihr helles Fell und sie schüttelte die Mähne. Geritten werden, von kleinen, quietschenden Kindern, die auf ihrem Rücken herumzappelten, sie aus dem Gleichgewicht und aus dem Rhythmus brachten, so laut und schrill, dass sie ganz nervös wurde …
Es stimmte, die letzte Chance war vorbei. Es gab keine Hoffnung mehr, dass Sakura eines Tages wieder ein Reitpferd sein konnte. Was sie erlebt hatte, der schreckliche Unfall, hatte sie zerstört, und offensichtlich auch Amelie.
Amelie! Ihre liebe, wunderbare Amelie! Sakura schloss die Augen und erinnerte sich an das kurze Treffen und an den Moment, da Amelie auf ihrem Rücken gesessen hatte, an den Duft ihrer Reiterin.
Amelie war keine Reiterin mehr, sie hatte es verlernt. Auf Sakuras Rücken war sie voller Angst gewesen, so furchterfüllt, dass auch Sakura sich kaum hatte beherrschen können. Die Amelie von früher war verschwunden, die lebenslustige Reiterin, die Sakura gekannt hatte. Und dann war da Amelies Sitz im Sattel gewesen, unsicher wie ein kleines Kind – als wäre jede Kraft aus den Beinen des Mädchens verschwunden.
Vielleicht war das Kyles Plan gewesen: Ihnen beiden zu zeigen, dass sie noch Pferd und Reiter waren. Doch er hatte sich getäuscht. Sakura konnte nicht geritten werden, und Amelie konnte nicht reiten. Wenn, dann brauchte es einen Reiter wie Kyle, und vielleicht ein Pferd, das wie Kyle war, für Amelie.
So hatte Kyle ihnen beiden nur gezeigt, dass man die Zeit unmöglich zurückdrehen konnte. Sakura würde sterben, und Amelie würde nie wieder reiten. Dieses Leben war für sie beide vorbei, weit außer Sicht geraten.
Sakura grub mit dem Huf im Stroh. Sie könnte das vielleicht akzeptieren. Wenn sie sich wenigstens von Amelie hätte verabschieden können! Sie wollte sich so gerne ein letztes Mal an ihre Reiterin schmiegen, ihre Finger ein letztes Mal im Fell spüren, sich darüber ärgern, wie Amelie ihre Mähne zu schweren Zöpfen flocht.
All diese dunklen Gedanken wurden erst zum frühen Morgenlicht hin durchbrochen. Sakura hörte die Reifen auf dem Kies. Der schwarze Wagen war gekommen! Die anderen Pferde im Stall wieherten nervös.
Sakura stand starr wie eine Statue. Es kam ein fremder Mann, um sie mit einem Halfter aus ihrem Stall zu führen. Sakura wehrte sich nicht, bis sie den Wagen sah: Da stand er, ein schwarzes Auto, mit einem Anhänger, der keine Fenster hatte. Ihre Augen wurden groß und sie blieb stehen. Dann wieherte sie, ein Hilfeschrei an Amelie, die das niemals hören würde.
Der Mann zerrte wütend an Sakuras Strick. Widerstrebend setzte sie einen Huf vor den anderen. Sie wollte so gerne Lebewohl sagen, Amelie ein letztes Mal sehen!
Doch der schwarze Wagen wurde vor ihr immer größer.
Gerade, als sie den Huf auf die Rampe setzte, die unter ihrem Gewicht bebte und dröhnte, vernahm sie eine Stimme.
„Halt!“, brüllte ein Mensch – Sakura erkannte Kyles Stimme.
Er kam angerannt, atemlos, einen Fetzen Papier in der Hand, mit dem er wedelte. Sakura fuhr zusammen und tänzelte, in dem Bestreben, Kyle den Kopf und die Vorderhufe zuzuwenden, um zu sehen, was genau er da in Händen hielt.
„Warte!“, keuchte Kyle, als er Sakura und den fremden Mann erreichte. „Sie wird nicht abgeholt!“
„Was? Natürlich. Is schon seit Tagen überfällig, das Biest“, brummte der Mann mit einer unfreundlichen Stimme. Sakura spitzte die Ohren. War das etwa Reibeisen-Stimme, der Mann, den sie schon einmal im Stall getroffen hatte? Sie mochte ihn nicht.
„Das hat alles seine Richtigkeit“, Kyle stützte sich keuchend auf den Knien ab und überreichte dann das Papier. „Ist gerade eingetroffen. Sie ist verkauft.“
„Verkauft?“, fragte Reibeisen-Stimme entgeistert und studierte den Zettel. Sakura nutzte die Gunst der Stunde, um sich loszureißen und zu Kyle zu trotten. Sie stupste ihn an und wurde mit sanft kraulenden Fingern belohnt.
„Scheiße, verdammt“, brummte Reibeisen-Stimme. „Das sieht echt aus. Die Göre kann sich wohl nicht entscheiden, was? Dann hat das Pferd verfluchtes Glück gehabt.“
Sakura verstand nicht viel. Kyle legte seine Arme um ihren Hals und drückte sich an sie. Als würde er verstehen, dass er ihr alles erklären musste, flüsterte er: „Es hat doch funktioniert! Sakura, du bist frei!“